Er meint wirklich „vollkommen“ (Kolosserbrief II)

Predigt am 21. Oktober 2001 zu Kolosser 1,26-29

21 Auch ihr standet Gott früher entfremdet und feindlich gegenüber nach der Denkweise in den bösen Taten. 22 Aber jetzt hat er euch versöhnt in seinem irdischen Leib durch seinen Tod, um in euch ein Gegenüber zu haben, das heilig ist, fehlerlos und untadelig. 23 Ihr müsst nur im Glauben fest und unerschütterlich bleiben und dürft euch nicht von der Hoffnung des Evangeliums abbringen lassen, das ihr gehört habt, und das allen Geschöpfen unter dem Himmel verkündet worden ist. Mit dem Dienst an diesem Evangeliums hat Gott mich, Paulus, beauftragt.

24 Und jetzt freue ich mich mitten in dem Leiden, das ich für euch ertrage; denn damit ergänze ich in meinem irdischen Leben, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.

25 Zum Dienst an der Gemeinde bin ich beauftragt durch die Aufgabe, die Gott mir in seinem Heilsplan gegeben hat: bei euch das Wort Gottes zur Fülle zu bringen. 26 Ich soll das Geheimnis enthüllen, das er seit Urzeiten allen Generationen verborgen gehalten hatte, jetzt aber denen offenbart hat, die er in seine Gemeinschaft rief.

27 Ihnen wollte er zeigen, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnis für euch, die nichtjüdischen Völker, ist: Christus mitten unter euch, die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit. 28 Diesen Christus verkünden wir. Und wir ermahnen jeden Menschen und belehren jeden Menschen mit der ganzen Weisheit, die uns gegeben ist, um jeden Menschen in Christus vollkommen zu machen.

29 Eben dafür kämpfe ich und mühe mich ab, und Christus selbst wirkt durch mich mit seiner Kraft, die sich in mir als mächtig erweist.

Was ist der Kern der Botschaft, die Paulus zu den Menschen bringen soll? Christus mitten unter euch, die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit. Dass Jesus lebt und mitten unter seinen Leuten ist, und dass er so zu Menschen in der ganzen Welt kommt, darauf hat Gott über lange Zeit hingearbeitet. Das ist die grundlegend neue Erfahrung: die Gegenwart Gottes unter Menschen. Zuerst bei den Juden, als Jesus dort in seinem irdischen Körper lebte, und jetzt, nach seiner Auferstehung, in der ganzen Welt bei allen Völkern. Und Paulus arbeitet in der Kraft Jesu daran, dass sich das in einer Veränderung der Menschen in der Gemeinde zeigt. Die sollen so miteinander leben, dass Gott hier auf der Erde ein Gegenüber hat, das zu ihm passt. Wörtlich heißt es: »er will euch heilig, fehlerlos und untadelig vor sein Angesicht stellen«. Da soll nichts sein, was Gott stören könnte, wenn er seine Gemeinde anschaut. Das ist Gottes Ziel. Und er hat Paulus den Auftrag gegeben, daran zu arbeiten.

Wir denken wahrscheinlich jetzt: das geht doch nicht – vollkommen sein. Wer ist schon vollkommen? Aber Paulus schreibt das so, er schreibt sogar: wir wollen jeden Menschen in Christus vollkommen machen. Das ist sein Ziel, darauf arbeitet er hin, das ist sein Auftrag, seine Perspektive, und die gilt, egal, wie weit er am Ende kommen wird. Und er hält das anscheinend nicht für prinzipiell unerreichbar. »Ihr sollt vollkommen sein« – das hat auch schon Jesus gesagt.

Ich glaube, Paulus kommt einfach von der Erfahrung mit Menschen her, die sich tatsächlich grundlegend gewandelt haben, so dass sie nicht mehr ihre alten, kaputten Spiele weitergespielt haben, sondern umgekehrt sind, sich bekehrt haben zu Jesus und nach seiner Logik leben. Es gab einfach Menschen, an denen Paulus das gesehen hatte: die Jünger Jesu zum Beispiel, aber auch viele andere namenlose Menschen aus den Gemeinden. Und auch Paulus und seine Mitarbeiter: die praktizierten das neue Leben, und sie gaben das an die neuen Gemeinden weiter. Das war kein hehres Ideal, das gab es, das war realistisch. Die Kraft Jesu war an seinen Menschen abzulesen. Das mochte nicht jeder, viele fühlten sich von der Gemeinde angegriffen und bedroht, viele sahen ihre Felle wegschwimmen, weil natürlich im Kontrast zu so einem erneuerten Leben andere dann nicht so gut aussahen. Und die verleumdeten die Gemeinde dann. Aber: es gab dies neue Leben, von dieser Erfahrung her lebte und arbeitete Paulus und viele andere Christen ebenfalls. Es ging nicht um ein prinzipiell unerrreichbares Ideal, sondern um erlebbare Realität.

Diese Realität des gegenwärtigen Jesus Christus bezeichnet Paulus als Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Das Erlebnis der Kraft Gottes, die Menschen verwandelt, ist für ihn die entscheidende Erfahrung, die ihn auf die große Herrlichkeit Gottes hoffen lässt, auf die erneuerte Welt. Wenn Gott in dieser Welt schon so viel erreicht und verändert, wenn er Jesus auferstehen lässt und dafür sorgen kann, dass Jesus auch weiterhin Menschen beeinflusst, dann wird er auch noch einmal die ganze Welt neu machen.

Vielleicht haben Sie jetzt immer noch den Eindruck, dass der Paulus vielleicht ein hoffnungsloser Idealist ist, wenn er glaubt, die Menschen könnten vollkommen werden. Aber auf der anderen Seite ist er wieder total realistisch. Er sagt nicht: Jesus ist da, ihr gehört zu ihm, jetzt kommt das neue Leben. Er redet deutlich davon, dass er daran arbeiten muss, und dass ihn das Mühe und Kampf kostet.

Jeder, der Seelsorge macht, der weiß, wieviel Kraft das kostet, Menschen voran bringen auf diesem Weg, ein passendes Gegenüber zu Gott zu werden. Wieviel Kraft das kostet, Menschen zu mehr geistiger und geistlicher Gesundheit zu helfen. Da begegnet man dem Dunklen in den Menschen und der Lüge und dem Irrtum und kommt immer wieder in Bedrängnis und hat das Gefühl: da komme ich nicht gegen an! Man muss sich nur erinnern, wie Jesus immer wieder geseufzt hat bei seiner Arbeit daran, seine Jünger dazu zu bringen, dass sie ihn verstanden.

Paulus sagt sogar: ich ergänze mit meinen Leiden, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt. Damit meint er anscheinend: Jesus hat mit seinem Tod dafür gesorgt, dass der Weg zu Gott wieder offensteht. Der Preis, den er dafür bezahlen musste, war sein Tod. Das konnte kein anderer. Aber jetzt daran zu arbeiten, dass Menschen auf dieser Grundlage Partner Gottes werden, die zu ihm passen, diese Aufgabe ist noch längst nicht abgeschlossen, und die Mühe und Not, die ich und andere damit immer noch haben, das ist der Preis, der trotzdem immer noch gezahlt werden muss. Und Paulus sagt: das ist mein Auftrag. Dafür arbeite ich, dafür bezahle ich.

Paulus hat die Gemeinde in Kolossä, an die er schreibt, ja nicht gegründet. Das war Epaphras, und der ist jetzt zu Paulus gereist, als er merkte: irgendwas läuft hier schief. Und er hat ihn gebeten: Paulus hilf mir, ich weiß nicht mehr, was ich jetzt machen soll. Und Paulus sagt: ja, ich helfe dir, das ist meine Berufung, dafür hat Gott mich vorgesehen, Menschen und ganzen Gemeinden helfen, dass sie nicht nur Zugang zu Gott finden, sondern sich auch so verändern, dass sie ein angemessenes gegenüber für ihn werden.

Jetzt muss man sich ja fragen: warum ist das so wichtig? Würde es denn nicht reichen, wenn man sagen könnte: die Christen in Kolossä haben sich zu Jesus bekehrt, sie sind gerettet, sie glauben, warum dieses Super-Ziel: vollkommen werden? Warum betont Paulus im Kolosserbrief immer die Erkenntnis, das Verstehen, das Lernen, warum wird er noch sagen: Christus ist die Quelle aller Erkenntnis und aller Weisheit?

Weil man sonst nämlich nicht in der Gemeinschaft mit Jesus bleibt. Schon im Missionsauftrag hat Jesus diese beiden Aufgaben genannt: Tauft die Menschen – und lehrt sie! Lehrt sie alles zu halten, was ich euch befohlen habe. Zu Jesus zu kommen und diesen Schritt in der Taufe fest zu machen, das ist der erste Schritt, und dann geht es darum, dass das Gestalt gewinnt im Leben. Sonst verliert man die Verbindung zu Jesus wieder.

In jeder Beziehung geht es nicht nur um die Motive, sondern auch um Erkenntnis, Klarheit und Wachstum. Auch bei den besten Motiven kann eine Beziehung daran kaputt gehen, dass ein oder beide Partner ihr Motiv nicht richtig umsetzen können. Mir ist das ganz deutlich geworden an einer Geschichte – ich glaube: von Kurt Tucholsky (muss aber nicht stimmen). Ich weiß nicht mehr, wo sie steht, aber ich habe sie nie vergessen. Es geht um einen Kriminalprozess irgendwann in den 1920er Jahren. Da ist ein Mann in die Mühlen der Justiz geraten, unschuldig oder vielleicht aus Ungeschick und Ahnungslosigkeit. Und nun steht er nach längerer Untersuchungshaft vor Gericht. Seine Frau könnte ihn mit ihrer Aussage entlasten. Wenn die Frau ihre Aussage richtig macht, das weiß der Mann, dann hat er eine Chance, freigesprochen zu werden. Die Frau ist natürlich auch im Gerichtssaal, nach langer Zeit sieht sie ihn da zum ersten Mal wieder. Sie ist erschreckt darüber, wie blass er aussieht, sie ist verwirrt von der bedrohlichen Umgebung des Gerichtssaales, sie versteht das alles nicht, was da passiert. Und dann muss sie schließlich vor das Gericht treten, um ihre Aussage zu machen, und der Vorsitzende belehrt sie eindringlich, dass sie jetzt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen muss, und sie ist schon ganz verschüchtert, und er belehrt sie auch darüber, dass sie als Angehörige die Aussage verweigern könne, und ob sie von diesem Recht Gebrauch machen wolle? Und sie ist so durcheinander und möchte es diesem Vorsitzenden Recht machen und sagt: ja, das will ich. Und sie versteht nicht, warum ihr Mann sie fassungslos und entsetzt anschaut, sie versteht nicht, warum er zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt wird, sie versteht diesen Blick ihres Mannes nicht, der ihr so weh getan hat, sie wollte ihm doch nur helfen, indem sie tat, was der Vorsitzende von ihr zu verlangen schien.

Ob die beiden es jemals schaffen werden, zu verstehen, was da passiert ist? Ob sie es jemals schaffen, nach der langen Strafe wieder zusammenzufinden? Unmöglich ist es nicht, aber es kann sein, dass sie es nicht schaffen werden. Obwohl die Frau zu ihrem Mann halten wollte, obwohl sie alles für ihn tun wollte. Obwohl sie ein ehrliches Herz hat, ehrliche Motive. Gute, ehrliche Motive sind ganz wichtig, aber sie kommen nicht aus ohne Verstehen, Klarheit, Erkenntnis. Das gilt für Beziehungen unter Menschen, und es gilt für unsere Beziehung zu Gott. Ich glaube schon, dass Gott auf die Motive von Menschen sieht und den guten Willen anrechnet. Aber Menschen können sich tatsächlich immer weiter von Gott entfernen, wenn sie ihn nicht verstehen, sie können mit guter Motivation auf falsche Wege geraten und Gott am Ende verlieren. Es ist im Lauf der Zeit soviel Böses im Namen des christlichen Gottes geschehen, und oft mit den ehrlichsten Absichten, aber es hat die Menschen weit weggebracht von Gott.

Deswegen pocht Paulus so sehr auf Verstehen und Erkennen. Da in Kolossä fingen sie schon an, sich von Gott zu entfernen, obwohl sie es eigentlich nicht wollten. Und ich glaube, dass die meisten Menschen, die sich von Gott entfernen, dazu kommen nicht aus böser Absicht, sondern durch ein falsches Bild der Wirklichkeit. Dieses falsche Bild hindert sie, Jesus richtig nachzufolgen.

Aber wie sollen Menschen sonst sicher sein, dass Gott einmal die Welt erneuern wird, wenn sie in ihrem Leben keine Erneuerung sehen und erleben? Wie sollen sie sichere Hoffnung auf die kommende Welt haben, wenn sie die Kraft Gottes nicht schon in dieser Welt erleben?

Menschen zu ermahnen und zu belehren, wie Paulus es sagt, das hat bei uns heute keinen guten Ruf. Wir reden heute lieber von den mündigen Christen, obwohl wir alle viel weniger von Jesus verstehen als die Gemeinden damals, und die hatten es in Paulus Augen dringend nötig, in der Erkenntnis Jesu zu wachsen.

Deswegen ist es für alle, die zu Jesus gehören, die zentrale Aufgabe, zu lernen, wie denn Jesus in uns und unter uns Gestalt annehmen kann. Wir haben da wenig Erfahrung mit, weil es in unserer Geschichte wenig Menschen gegeben hat, die diese Aufgabe gesehen haben und noch weniger, die gute Lösungen dafür gefunden haben. Wir müssen heute ganz vieles erst wieder neu entdecken.

Jeder muss sich fragen, ob er bereit ist, das in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu rücken, ob er bereit ist, zu lernen und zu entdecken, ob er bereit ist, mit dafür zu sorgen, dass der mühsame und anstrengende Dienst geschehen kann, wo Menschen an und mit anderen arbeiten, damit Jesus in der Gemeinde Gestalt gewinnt. Menschen werden versöhnt werden, wenn sie in der Gemeinde der Gestalt Jesu begegnen.