Gott bestärkt Freiheit

Predigt am 31.12.2005 (Sylvester) zu Josua 1,5b (Jahreslosung 2006)

Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

Man weiß vorher wirklich nicht, was ein Jahr bringen wird. Hätten wir vor einem Jahr gedacht, dass wir eine neue Regierung bekommen würden? Und wer hätte all die Naturkatastrophen vorausgesehen, die es seit dem Tsunami noch gegeben hat? Man weiß nicht, was einen im kommenden Jahr erwartet.

Übrigens muss das ja nicht nur Böses sein. Es ist ja ebenso denkbar, dass uns unvorhergesehen etwas Großes und Gutes widerfährt, und wir sollten das ebenso in unsere Erwartungen aufnehmen – sonst laufen wir mit eingezogenem Kopf durch die Welt und hoffen inständig, dass es uns nicht trifft. Nein, es kann auch ganz unvorhersehbare gute Entwicklungen geben, an die wir uns noch lange erinnern werden.

Es kann ein ganz normales Jahr werden, in dem man eben einfach wieder 12 Monate älter wird, in dem man versucht, die üblichen Aufgaben des Alltags so gut wie möglich hinzukriegen. Es kann aber auch ein Jahr sein, nach dem nichts mehr so ist wie früher. Und man kann noch nicht mal sagen, welche Sorte Jahr wichtiger ist. Denn in den normalen Jahren und Tagen bereitet sich vor, wie wir auf außergewöhnliche Situationen reagieren werden.

Die Jahreslosung für 2006 ist gleicherweise geeignet für die guten und die schlechten Jahre, für die normalen und für die herausragenden Zeiten: »Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.« sagt Gott zu Josua, als Mose gestorben ist und Josua als neuer Anführer das Volk Israel in das verheißene Land führen soll, aus der Wüste über den Jordan in die Ungewissheit eines unbekannten Landes mit feindlichen Bewohnern.

Das ist die große Zusage Gottes: ich werde mitgehen mit euch. Ich bin dabei. So wie Gott sich Mose am brennenden Dornbusch vorstellte und sagte: ich bin der »Ich-werde-da-sein«, so sagt er es hier noch einmal zu Josua. Und er wird es immer wieder sagen, und als er selbst kommt und ein Mensch wie wir wird, da ist einer der Beinamen Jesu »Immanuel«, zu deutsch: »Gott mit uns«.

Was auch immer uns begegnen wird, Gott ist dabei. Das ist die Grundtatsache unseres Lebens. Gott hat uns gesehen, bevor es uns gab, er hat uns ins Leben gerufen, er kennt alle Tage unseres Lebens, er weiß Bescheid über die Weichenstellungen unseres Herzens, er ist Zeuge unserer schlimmsten Enttäuschungen gewesen und er hat sich mitgefreut an allen herrlichen Tagen und Geschichten. Er ist auch im neuen Jahr dabei. Die Frage ist nicht, ob Gott bei uns ist, die Frage ist, ob wir diese Tatsache beachten als Grundtatsache unseres Lebens. Ob wir das in unsere Lebensplanung und Lebenspraxis aufnehmen, ob wir diesen entscheidenden Faktor in unserem Leben berücksichtigen oder ob wir ihn übersehen und vergessen und nicht mit ihm rechnen.

Gott verlässt uns nicht. Das bedeutet Schutz und Begleitung. Aber das ist eigentlich viel zu schwach beschrieben, weil sich Schutz und Hilfe ganz gut in unser normales Lebenskonzept einbauen lassen. Das haben die Religionen ihren Anhängern immer versprochen, dass der Segen von oben kommt. Aber im Alten und Neuen Testament besteht der Schutz vor allem darin, dass Gott uns seine Wege zeigt, dass wir Bürger seines Reiches werden, dass wir eine Neuausrichtung erleben, dass unser Denken durchzogen wird vom Bewusstsein, dass er in unserem Leben drin ist.

Das ist die grundlegende Alternative: ob Gott nur so in unserem Leben drin ist, wie er in jedem Menschenleben drin ist, oder ob wir es wissen, damit rechnen und das Leben von dieser Tatsache her gestalten. Wenn dann Schwierigkeiten kommen, dann sollen wir schon geübt sein, um sie mit Gott gemeinsam anzugehen.

Noch einmal: die Schwierigkeiten werden kommen, niemand ist seriös, der etwas anders verspricht, aber die Frage ist, ob wir dann die Wahl unter mehreren möglichen Reaktionen haben. Oder ob wir immer nur eine Möglichkeit sehen.

Das Geheimnis der menschlichen Freiheit liegt darin, dass wir zwischen einem Ereignis und unserer Reaktion darauf die Möglichkeit der Wahl haben. Wir sind im Gegensatz zu den meisten Tieren nicht instinktiv festgelegt. Wenn ein Auto auf uns zurast, dann können wir stehenbleiben oder zur Seite springen. Wir haben die Wahl, mindestens beim ersten Mal. Wenn wir etwas Leckeres vor uns stehen sehen, dann können wir es essen oder auch nicht. Wenn wir eine Aufgabe haben, dann können wir sie anpacken oder aufschieben. Wir haben die Wahl, auch wenn manche Möglichkeiten mehr Mühe kosten als andere. Wenn jemand sagt: ich kann das nicht, dann bedeutet das in Wirklichkeit ganz häufig: ich bin nicht bereit, den Preis zu zahlen, den das kosten würde.

Der christliche Glaube bringt eine große Stärkung unserer Wahlmöglichkeiten mit sich. Denn wer weiß, dass Gott in jeder Situation mit drinsteckt, der sieht Möglichkeiten, die andere nicht sehen. Es sind manchmal Möglichkeiten, die uns Kraft und Mühe kosten. Aber je öfter man das praktiziert, um so mehr erweitert sich unser Handlungsspielraum. Wer seinen kleinen Handlungsspielraum voll ausnutzt, dessen Möglichkeiten werden wachsen. Wer aber immer sagt: ich traue mich nicht, darf ich denn das, das ist mir zu unangenehm, dessen Handlungsspielraum wird schrumpfen. Gott stärkt unsere Freiheit, aber wir müssen mitspielen.

Josua wurde Nachfolger von Mose, weil er einer der wenigen war, die das begriffen hatten. 40 Jahre zuvor, als Josua noch ein junger Mann war, da gehörte er zu den Spähern, die nach Israel vorausgeschickt wurden, um das Land auszukundschaften. 10 der 12 Späher kamen zurück und sagten: die Bewohner des Landes sind viel zu stark, es ist aussichtslos, lasst uns umkehren. Nur Josua und sein Freund Kaleb sagten: Es ist ein gutes Land; fürchtet euch nicht, mit Gottes Hilfe werden wir es erobern.

Aber das Volk hörte nicht auf Josua und Kaleb. In ihnen war noch viel zu viel Sklavenmentalität. Und Gott sah, dass diese Generation erst aussterben musste, und erst ihre Kinder, die in der freien Wüste groß geworden waren, erst mit denen konnte er das Land erobern. Weil die Leute nicht herauskamen aus ihrer Sklavenmentalität, weil sie nicht selbständig und verantwortungsvoll handeln wollten und das dann auch nicht konnten; weil sie ihre Handlungsspielräume nicht sahen und die Alternative Gottes nicht nutzten; weil sie keine Ohren hatten für den Ruf der Freiheit, deshalb mussten ihre Knochen in der Wüste bleichen, und erst die nächste Generation bekam das Land. Aber Josua, der die Spielräume sah, der wurde ihr Anführer.

Wir sollen uns nicht so viel Gedanken darum machen, wie groß unser Entscheidungsspielraum ist; wir sollen stattdessen darüber nachdenken, wie wir die Möglichkeiten, die wir haben, bis zum Letzten ausnutzen können, und wie wir dann noch etwas weitergehen. Wir wachsen nur, wenn wir die Bequemlichkeitszone hinter uns lassen – im Sport sieht das jeder ein, aber für die Entwicklung unserer Persönlichkeit gilt das genauso.

Gott wird uns auch im kommenden Jahr diese Möglichkeit geben, unsere Freiheit zu praktizieren und zu erweitern. Auch wenn das beinahe immer Mühe und weniger Bequemlichkeit bedeutet, sind doch langfristig die Kosten so am geringsten. Denn wenn wir nicht gewohnt sind, Gottes Alternative ergreifen, dann laufen wir Gefahr, uns für etwas ganz anderes zu entscheiden, wenn wir unter Druck geraten: für Sucht, Selbstmitleid oder Bitterkeit. Das sind die normalen Folgen, wenn wir nicht mit Gott rechnen.

Ich entsinne mich, wie vor vielen Jahren die Mutter einer Bekannten nach vielen Versuchen endlich das Rauchen aufgegeben hatte. Aber kurz danach starb ihr Mann unter sehr problematischen Umständen. Und sie fing wieder mit dem Rauchen an. In dieser Belastungssituation hatte sie den Eindruck, dass sie auf die Entlastung durch Zigaretten nicht verzichten könne.

Ich erzähle bewusst so eine Geschichte, wo jemand nicht aus Leichtsinn oder Lebensgier handelt, sondern unter dem Druck eines schmerzhaften Ereignisses. Die normale Reaktion auf solche Geschichten ist, dass jemand sagt: du kannst den doch nicht verurteilen, das muss doch jeder selber wissen. Aber darum geht es gar nicht. Natürlich darf man jemanden, der so was erlebt, nicht verurteilen, aber man darf doch sowieso niemanden verurteilen, oder? Und in diesem ganzen Bereich der Lebensgrundlagen muss eh jeder selbst seine Entscheidungen treffen, das kann keiner für den anderen tun.

Nein, es bleibt uns nicht erspart, darüber nachzudenken, was richtig ist und wie man selbst denn in so einer Situation reagieren möchte. Wenn man sich das nicht vorher überlegt, dann ist der Druck der Situation so groß, dass man ihm wahrscheinlich einfach nur nachgibt.

Aber die Frage ist doch, ob wir solche Mechanismen für uns wollen: ob wir unsern Frust mit Essen erleichtern wollen, ob wir unsere Gehemmtheit mit Alkohol überspielen wollen, ob wir zulassen wollen, dass wir unsere schlechte Laune an anderen auslassen, ob wir es wollen, dass wir Enttäuschungen mit Einkaufen ausgleichen und Langeweile mit Kreuzworträtseln oder Schlimmerem bekämpfen, und was es da noch so alles gibt an Gefährlichem und Harmlosem.

Wenn Gott in unserem Leben drin ist, dann ist der richtige Gedanke in einer belastenden Lage: Gott ist da. Er verlässt mich nicht. Er wird mir helfen. Und ich will verstehen, was ich jetzt nach seinem Willen tun soll. Er wird mit auch Entlastungen geben, Ruhepausen und Hilfe, aber zuerst geht es um die Frage: wie sieht die ganze Situation aus seiner Sicht aus? Das sind vielleicht zuerst ungewohnte Denkansätze, aber sie helfen tatsächlich und wir bekommen im Laufe der Zeit einen besseren Blick für Gottes Alternativen.

Wenn Gott nicht im Blick ist, dann ist Sucht ein Weg, um auf Schwierigkeiten zu reagieren. Ein anderer ist Selbstmitleid: man denkt intensiv darüber nach, wie schlecht es doch einen selbst getroffen hat, gerade im Vergleich zu anderen, und wir sehen viele Möglichkeiten, wie Gott und die Menschen uns da heraushelfen könnten. Es gibt ganz viele Möglichkeiten – für andere; nur ich selbst habe keine. Und weil die anderen mir gemeinerweise nicht helfen, deshalb habe ich gar keine andere Wahl, als mich mit Alkohol zu trösten oder mit einem anderen Partner oder mit irgend etwas anderem, was kurzfristig Erleichterung gibt. Sucht und Selbstmitleid gehören eng zusammen. Haben Sie schon mal einem Alkoholiker zugehört, wenn er Ihnen erklärt, wie viele Gründe es gibt, weiter zu trinken und nicht das Nächstliegende zu tun, nämlich aufzuhören?

Wenn wir nicht vorher überzeugt sind, dass es mit Gott in jeder Situation eine Alternative gibt, dann werden wir irgendwann glauben, dass wir keine andere Wahl haben, als den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.

Wenn wir langfristig nicht die Alternativen Gottes wählen, dann ist die Folge fast immer Bitterkeit. Kennen Sie Menschen, die irgendwann mal als fröhliche, optimistische Leute an eine Aufgabe herangegangen sind, in eine Ehe oder überhaupt an das Leben als solches? Und zwanzig Jahre später sind sie ernüchtert, enttäuscht, der Schwung ist weg, die Begeisterung haben sie schon lange verloren, und von Jahr zu Jahr wird ihr Blick immer bitterer. Sie versuchen nur noch, über die Runden zu kommen. Vielleicht soll es dann ein neuer Partner bringen, eine neue Aufgabe, eine neue Frisur, aber nach ein paar Jahren merkt man, dass auch das es nicht rausreißt.

Schauen Sie sich mal an, wie viele Menschen von Jahr zu Jahr mit mehr Bitterkeit auf ihr Leben zurückschauen. Und es ist nicht so, dass die, die es am schwersten hatten, auch immer am bittersten sind. Nein, es entscheidet vor allem an unserer Bereitschaft, mit Gott zu rechnen, seine Möglichkeiten zu sehen, Kontakt zu ihm aufzunehmen, mit seinen Augen zu sehen. Ob das in unseren Kopf kommt, und ob es unser Herz prägt.

Dann werden wir auch jeweils herausfinden, wie es denn gehen könnte unter der Voraussetzung, dass Gott wirklich tut, was er sagt: ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Gott geht mit uns. Er scheut vor keinem Weg zurück. Bis ans Kreuz ist er den Weg der Menschen mitgegangen, aber dann ist er auferstanden. Wenn er mitgeht, dann werden es Wege, die zum Leben führen. Jetzt, vor dem Beginn des neuen Jahres, sollen wir uns das fest vornehmen, dass wir mit seiner Begleitung da hineingehen und auf seine Hilfe und seinen Beistand vertrauen. Wir werden dann am Ende nicht wieder ein Stück bitterer, sondern fröhlicher geworden sein.

Menschen zu werden, die zurückschauen auf ein Jahr oder auf 10 oder 80 Jahre, nicht mit bitteren Gedanken, sondern fröhlich und dankbar – das fängt mit so einem Entschluss an. Sylvester und Neujahr ist ein guter Tag dafür.