Der Wendepunkt

Predigt am 18. April 2022 (Ostern II) zu Jona 2,1-11

Wir hören an diesem Ostermontag eine entscheidende Passage aus der Geschichte des Propheten Jona. Das ist der mit dem Walfisch. Und man kann fragen: wieso ausgerechnet zu Ostern eine alttestamentliche Prophetengeschichte? Wahrscheinlich dachten die, die das vorgeschlagen haben: Jona soll auch mal drankommen, nicht bloß im Kindergottesdienst. Außerdem findet man in der Geschichte einen Satz, in dem schon Hoffnung auf die Rettung aus dem Tod zu hören ist:

Doch du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf, / HERR, mein Gott.

Die Auferstehung Jesu wirft ihr Licht voraus. Schon bei Jona scheint auf, dass die Hoffnung auf Gott keine Grenzen kennt.

Jona ist ja der unlustige Prophet. Der eigentlich keine Lust hat, Prophet zu sein. Gott sagt ihm: geh nach Ninive und predige dort, aber Jona will nicht. Ninive gab es nicht mehr, als das Jonabuch verfasst wurde, aber es war immer noch die sprichwörtliche große böse Stadt, die Hauptstadt des assyrischen Reiches. Dort wurden grausame Kriege vorbereitet, der Schrecken aller Nachbarn. Das ist, wie wenn heute einer in Moskau Frieden predigen sollte, in Syrien oder in Nordkorea. Jona schlägt die entgegengesetzte Richtung ein: auf ein Schiff und ab nach Tarsis. Alles andere ist besser als Ninive!

Aber, wie wir alle wissen: es nützt nichts, vor den Dingen, die uns Angst machen, wegzulaufen. Jonas Schiff gerät in einen fürchterlichen Sturm, er wird als Ursache erkannt und über Bord geworfen, und da beginnt unser Predigttext, im sturmgepeitschten Wasser des Mittelmeers.

1 Der HERR aber schickte einen großen Fisch, dass er Jona verschlinge. Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches. 2 Da betete Jona zum HERRN, seinem Gott, aus dem Inneren des Fisches heraus:

3 In meiner Not rief ich zum HERRN / und er erhörte mich. *
Aus dem Leib der Unterwelt schrie ich um Hilfe / und du hörtest meine Stimme.

4 Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz der Meere; / mich umschlossen die Fluten, *
all deine Wellen und Wogen schlugen über mir zusammen.

5 Ich sagte: Ich bin verstoßen / aus deiner Nähe. *
Wie kann ich jemals wiedersehen / deinen heiligen Tempel?

6 Das Wasser reichte mir bis an die Kehle, / die Urflut umschloss mich; *
Schilfgras umschlang meinen Kopf.

7 Bis zu den Wurzeln der Berge bin ich hinabgestiegen in das Land, /
dessen Riegel hinter mir geschlossen waren auf ewig. *
Doch du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf, / HERR, mein Gott.

8 Als meine Seele in mir verzagte, / gedachte ich des HERRN *
und mein Gebet drang zu dir, / zu deinem heiligen Tempel.

9 Die nichtige Götzen verehren, / verlassen den, der ihnen Gutes tut. *
10 Ich aber will dir opfern / und laut dein Lob verkünden.

Was ich gelobt habe, will ich erfüllen. *
Vom HERRN kommt die Rettung.

11 Da befahl der HERR dem Fisch und dieser spie den Jona an Land.

In diesem Kapitel geschieht die entscheidende Wende in der Geschichte Jonas. Sie kommt, als Jona so tief sinkt, wie man nur sinken kann. Wörtlich und im übertragenen Sinn. Denn dieser Fisch ist keine Rettungsinsel, wo Jona den Sturm überstehen kann. Sondern das heißt: noch nicht mal einen schnellen Tod in den Wellen findet Jona. Vielleicht hat er ja gedacht: schnell ertrinken, dann hat der Stress endlich ein Ende. Stattdessen wird er lebend von einem Monster verschlungen. Es geht endlos weiter, es kommt immer noch schlimmer.

Hölle auf Erden

Natürlich wollte der Erzähler keine zoologischen Merkwürdigkeiten weitergeben, sondern er wollte davon erzählen, wie einer in die Hölle auf Erden gerät. Dahin, wo man sich nicht vorstellen kann, dass es jemals wieder ein normales Leben geben könnte, wo das Leben nur noch wie eine entsetzliche Mühe oder Qual erscheint, wo man sich am liebsten hinlegen würde, einschlafen und nie wieder aufwachen – aber noch nicht einmal der Tod ist einem vergönnt.

Ich weiß nicht, ob jemand von uns das schon am eigenen Leibe erlebt hat: Momente, wo man hinterher nicht mehr sagen kann, wie man da durchgekommen ist. Die Jonageschichte sagt jedenfalls, dass so ein Moment, wo wir das Gefühl haben: schlimmer kann es eigentlich gar nicht mehr kommen – dass so ein Moment auch zur entscheidenden Wende werden kann. Jona, der immer nur weg läuft, am liebsten auch aus dem Leben – jetzt kann er nicht mehr weg. Er steht mit dem Rücken zur Wand steht, und endlich stellt er sich. Endlich setzt er sich mit seiner Lage auseinander, gezwungenermaßen, aber wie macht er das? Er betet.

Der Wendepunkt

An diesem Wendepunkt der Geschichte haben die alten Erzähler ein Gebet eingeschoben, einen Psalm eigentlich, der ursprünglich vielleicht von Rettung aus Seenot sprach. Dass das an dieser Stelle eigentlich nicht passt, merkt man daran, dass dieses Danklied schon auf die Rettung zurückblickt, und Jona sitzt ja noch im Bauch des Fisches. Äußerlich gesehen kann von Rettung noch gar keine Rede sein. Aber dieser Einschub-Psalm sagt etwas Wichtiges: Jona, der bisher Gott immer den Rücken zugekehrt hatte, fängt endlich an, mit Gott zu reden. Und das ist die entscheidende Wende. Das ist die Rettung. Aber wirklich wissen tun wir das erst seit der Auferstehung Jesu.

Jona hat Gottes Ruf nicht drin haben wollen in seinem Leben. Das war ihm zu gefährlich. Er dachte: soll Gott sich doch einen andern für den Ninive-Auftrag suchen. Sein Leben lang ist Jona weggelaufen vor dem Entsetzlichen. Aber nun ist ihm der Fluchtweg abgeschnitten, und er findet gerade dort, wo er um keinen Preis hinwollte, ein kostbares Geschenk: Auch das Allerschrecklichste ist nicht aussichtslos, wenn Gott mit dabei ist. Jona entdeckt Gott als Retter und Befreier, und damit ist er schon frei, mitten Bauch des Untier. Und dann folgt auch die äußere Befreiung. Der Fisch spuckt Jona an den Strand, und er blinzelt vorsichtig wie ein Neugeborener ins Licht der Sonne.

Die Jonageschichte sagt also, dass die Veränderungen in der äußeren Welt im Innenverhältnis zwischen Mensch und Gott beginnen. Was aus einer Situation wird, auch wenn sie elend und hoffnungslos ist, das entscheidet sich daran, ob wir Gott erkennen, der schon längst auch im Bauch des Fisches ist mit seiner Güte und Treue. Jona denkt, er ist am gottlosesten Ort der Welt gelandet, aber in Wirklichkeit ist Gott auch dort und sucht unentwegt Zugang zu Jonas Herzen, damit die Welt anders wird.

Jona und Jesus

Das ist der Punkt, wo die Jonageschichte und der Weg Jesu zueinander finden. Auch Jesus ist am gottlosesten Ort der Welt gelandet. Aber der liegt nicht im Inneren eines sagenhaften Ungeheuers, das es heute zum Glück nicht mehr gibt. Der gottloseste, gottverlassenste Ort der Welt ist das Kreuz, der ganz reale Foltertod, mit dem bis heute die Mächtigen ihre Völker in Angst und Schrecken halten. Alle Reiche dieser Welt sind auf Gewalt, Schmerz, Tränen und Tod gebaut. Das sind die realen Monster, vor denen man tatsächlich nur weglaufen möchte.

Jonas Seeungeheuer ist ein Bild für Ninive, und Ninive ist das Urbild der Imperien, die auf Leichen und Trümmern errichtet sind. Sonst hat in der Bibel meistens Babylon diese Rolle, aber hier ist es Ninive, die Hauptstadt des assyrischen Reichs, dem Vorläufer Babylons. Später wird auch der Prophet Daniel diese Reiche in einer Vision als Monster sehen, und das zieht sich dann durch die Bibel durch bis zum letzten Buch, der Offenbarung.

Unglaube angesichts der Mächte

Jona ist der Mensch Gottes, der klug genug ist, um zu wissen, was für Abgründe in dieser Welt lauern. Aber zugleich reicht es bei ihm nicht dazu, zu glauben, dass Gott es auch mit diesen Abgründen aufnehmen kann und will. Jona ist wie wir: Wir wissen, dass die großen Mächte unsere Welt in den Abgrund reißen. Aber wir wissen auch, dass es gefährlich ist, sich mit ihnen anzulegen; mindestens spüren und ahnen wir das, auch wenn es uns nicht immer klar bewusst ist.

Aber wir haben nicht das Zutrauen, dass Gott oder wer auch immer daran etwas ändern könnte. Und darum machen wir uns auf den Weg nach Tarsis. Tarsis ist der Ort, wo man diesem Konflikt entkommt, wo sich nicht immer diese negativen Gedanken einstellen, das Exil, wo man Kultur genießen kann oder endlos grillen, wo alles noch so ist wie früher: vor Corona, vor Guantanamo, vor Syrien, vor der Ukraine, weit weg von Afghanistan, ohne CO2, voller Poesie und Feenstaub. Wo man in der Kirche noch erbaut und nicht an die böse Welt erinnert wird. Die Komfortzone, auf die wir alle ein Anrecht haben (glauben wir).

Der Unterschied zwischen Jona und Jesus besteht darin, dass Jesus im vollen Bewusstsein der Gefahr trotzdem nach Jerusalem geht. Er läuft nicht weg, sondern er geht in das Dunkel des Kreuzestodes hinein. Jesus hatte Angst vor der Grausamkeit des Imperiums wie jeder von uns, er wusste nicht, warum Gott ihm das zumutet, aber er vertraute darauf, dass Gott weiß, was er macht. Er vertraute ihm bis zum letzten Atemzug, aber sein Vertrauen wurde erst jenseits der Todesschwelle bestätigt. Erst bei der Auferstehung.

Das Bild wird Realität

Das ist die Kernerfahrung des Christentums: Gott rettet aus dem Bauch der Monster. Bei Jona ist das noch ein Bild, bei Jesus ist es Realität geworden. Sein Vertrauen wurde bestätigt, aber durch den Tod hindurch. Jesus lief nicht weg, sondern blieb Gott treu und gab Gott so die Chance, auch zu zeigen, dass er treu ist.

Damit ist er uns vorangegangen, damit wir uns in seinen Spuren hoffnungsvoll der bösen Realität stellen und aufhören, lieber nach kleinen Fluchten zu suchen. Damit wir als Kirche in der realen Welt ankommen, statt unsere Leute für dumm zu verkaufen und alles mit Feenstaub zu vernebeln. Damit wir als Christen Gott etwas zutrauen. Wir müssen ja nicht immer gleich ans Kreuz, aber wir sollen aufhören, dauernd im Reisebüro für Last-Minute-Tickets nach Tarsis anzustehen.

Wenn wir Gott zutrauen, dass er auch am dunkelsten Ort der Welt ist und dadurch alles anders wird, dann gilt das natürlich auch für die anderen, harmloseren Situationen, vor denen wir am liebsten weglaufen würden. Lange bevor für jemanden das Kreuz als reale Möglichkeit sichtbar wird, gibt es doch schon die kleinen Wagnisse und Ängste, an denen wir lernen sollen, der Macht Gottes zu vertrauen. Manchmal müssen Menschen zuerst lernen, Briefe aufzumachen, die unangenehm aussehen oder Anrufe zu machen, die sie längst hätten tun sollen. Da gibt es eine große Skala, und nur Gott weiß, wo wir da gerade stehen.

Was wir lernen sollen

Und als ganze Gesellschaft müssen wir lernen, dass es auch ein gutes Leben gibt mit weniger Zeugs und weniger Fleisch, mit Tempolimit, mit weniger Konsumfreiheit für manche und mehr Gerechtigkeit für alle. Es gibt ja Menschen, die sich schon im Bauch des Fisches wähnen, wenn man auf der Autobahn nur noch mit 130 km/h fahren darf. Aber da kommen noch ganz viele andere Zumutungen auf uns zu, und es gibt kein Tarsis, wohin wir auswandern könnten. Wenn wir versuchen, vor all dem wegzulaufen, was da auf uns zukommt, dann landen wir erst recht im Bauch des Monsters. Vor CO2 kann man nicht weglaufen.

Aber wir sollen uns daran erinnern, dass wir Gott in all dem finden können. Dazu ist Ostern da. Wir müssen nicht erst im Bauch des Monsters landen, bevor wir das lernen. Die Jonageschichte wurde aufgeschrieben, damit wir Zutrauen bekommen zu Gottes Möglichkeiten. Und die Geschichte von der Auferstehung Jesu wurde erst recht mit dem Ziel weitererzählt, dass wir realistisch und mutig werden. Beide zusammen sagen: es gibt einen Weg für euch, weil Gott diese Welt nicht zur Bühne für ein Drama geschaffen hat, sondern »sehr gut«. Und weil seine Auferstehungskraft sich auch in den schlimmsten Situationen entfalten kann. Aber wartet nicht, bis ihr im Bauch des Fisches gelandet seid, sondern vertraut seiner Kraft schon vorher. Jetzt.

Zeit für Neues

Vor Ostern liegen im Kirchenjahr ja die 40 Tage der Passionszeit, die den Weg Jesu in die Gefahr symbolisieren. Aber nach Ostern liegt die österliche Freudenzeit, die den Neuanfang nach der Auferstehung verkörpert, und diese Zeit dauert 50 Tage bis Pfingsten. Und nach Pfingsten geht es erst richtig los. Ich habe nie verstanden, warum alle an die Passionszeit denken, aber kaum jemand an die österliche Freudenzeit. Dabei ist das die Zeit der Neuanfänge und des Sich-Trauens. Es ist die Zeit, wo man mit der Auferstehung im Rücken sich auch der Dunkelheit stellen kann und neue Wege entdeckt. Es ist die Zeit, wo man den Mächten ein Schnippchen schlägt und der Komfortzone Tschüss sagt. Es ist die Zeit, wo man Rückenwind spürt und die Monster um so kleiner werden, je näher man ihnen kommt.

Wenn es geht, nehmt doch diesen Rückenwind heute mit in die österliche Freudenzeit. Hört auf, die Tarsis-Tickets zu buchen. Unser Land und unsere Welt brauchen dringend die Energie der Auferstehung. Wir brauchen sie alle, im Großen und im Kleinen.