Seelsorge – Licht im Innern (Mit Gott wandeln II)

Predigt am 19. Juni 2005 mit Johannes 21,15-17 und 3,20-21

Johannes 21,15-17:
15 Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer!
16 Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe!
17 Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich liebhabe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe!

Johannes 3,20-21:
20 Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.

Wer die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, zu Jesus. Das ist sozusagen der kurzgefasste Kommentar zu der Geschichte von der Wiederherstellung des Petrus. Petrus kam zu Jesus, obwohl das eine schwere Begegnung war. Er hatte Jesus im Stich gelassen, er hatte ihm die Treue gebrochen. Und jetzt tritt er ihm gegenüber. Dreimal fragt Jesus, ob Petrus ihn lieb hat, in Erinnerung an die drei Situationen, in denen Petrus versagt hat. Dreimal muss sich Petrus klarmachen, dass er in Wirklichkeit Jesus lieb hat und das seine damalige Reaktion nicht sein wirkliches Herz wiederspiegelt, sondern eine Fehlreaktion war.

In den Geschichten von Jesus geschieht Seelsorge nichts so, wie wir das kennen, als ein langes Gespräch, in dem Stück für Stück versucht wird, den Knoten in der Seele eines Menschen zu entwirren. Jesus braucht das nicht, er weiß, was im Herzen eines Menschen los ist und sagt dann genau treffend das richtige Wort, das die Sache klärt. Wir haben normalerweise nicht diesen Durchblick, deshalb ist das bei uns ein viel längerer Prozess. Das ist ein großer Unterschied. Deshalb steckt in so einem kurzen Wortwechsel sehr viel, und wir müssen es auseinandernehmen.

Zunächst: Jesus lässt es nicht zu, dass die Geschichte zwischen Petrus und ihm unter den Teppich gekehrt wird. Er macht ihm keine Vorwürfe, aber er tut nicht einfach so, als ob nichts gewesen sei. Dass Petrus versagt hat, das würde sonst ein Leben lang an dem Jünger nagen, es würde Selbstvorwürfe produzieren, es würde Petrus immer wieder unsicher machen über sein Herz und über seine Beziehung zu Jesus. Die Dinge erledigen sich nicht von selbst.

Seelsorge bedeutet, dass verborgenen Zusammenhänge ans Licht kommen, die das Leben eines Menschen beeinflussen, und sie werden deshalb offenbar, damit in der Begegnung mit Jesus an ihre Stelle etwas Neues treten kann. Aus einem Störfaktor, der Petrus immer wieder unterschwellig Kraft und Vollmacht geraubt hätte, wird eine Geschichte vom Sieg Jesu über Schwachheit und Unklarheit. Und dadurch entsteht ein neuer Petrus. Das musste sein, denn Jesu weiß: auf Petrus, der sich von einer Sklavin hat überrumpeln lassen, wartet die Konfrontation mit dem ganzen Hohen Rat, der versuchen wird, die Leiter der jungen Gemeinde massiv einzuschüchtern. Und Jesus sorgt dafür, dass Petrus sich dann nicht wieder von seiner Furcht leiten lassen wird, sondern sich mutig zu Jesus bekennt.

Aber das geht nicht ohne schmerzliche Erinnerung. Die ganze Situation, in der Petrus versagt hat und sich scheußlich gefühlt hat, ist wieder da. Anders kann sie eben nicht korrigiert werden. Es tut weh, noch einmal zurückzugehen zu diesem Tag und an der Hand Jesu die damalige Fehlentscheidung sozusagen zu widerrufen. Aber Jesus erinnert uns an so etwas.

Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon mal aufgefallen ist, dass Menschen nicht selten immer wieder ähnliche Problemsituationen erleben. Es ist, als ob sie die immer wieder anziehen. Immer wieder werden sie zurückgesetzt, oder ausgenutzt bis hin zum Missbrauch, ihnen wird Unrecht getan oder es scheint so zu sein, als ob sie das Unglück förmlich anziehen. Immer wieder erleben sie Enttäuschungen nach dem selben Muster, immer wieder scheinen sie auf Menschen zu stoßen, mit denen sie auf eine bestimmte Weise aneinander geraten. Wir sind alle irgendwie vorgeschädigt, und irgendwie scheinen wir dann vergleichbare Situationen anzuziehen. Da ist eine Wunde, und sie wird immer wieder aufgerissen.

Das ist natürlich eine Taktik des Feindes, der uns an der Stelle, wo wir sowieso schon geschwächt sind, immer wieder neu angreift, um uns zu entmutigen und unsere Fehlreaktionen zu verfestigen. Aber Jesus benutzt das auch und versucht uns auf diese Weise aufmerksam zu machen auf verborgene Untiefen in unserer Seele. »Versteh«, scheint er zu sagen, »da ist etwas, was ich mit dir gerne noch einmal durchgehen möchte. Deine Verletzung und deine Fehlreaktion darauf sollen nicht das letzte Wort haben. Ich will gemeinsam mit dir etwas Neues daraus machen.«

Das Grundmuster, das hinter all solchen Knoten in der Seele steht, ist ein Schmerz oder eine Bedrohung und unsere Reaktion darauf. Es sind die schmerzlichen Situationen, die Augenblicke wo uns Unrecht getan wird, die sich tief in uns einbrennen und uns formen. Was wir aber unter dem überwältigenden Eindruck des Schmerzes übersehen, das ist, dass wir selbst dabei nicht nur hilfloses Opfer sind. Menschen sind aktive Wesen, sie können gar nicht anders, als auf das, was ihnen von außen zustößt, in irgendeiner Weise zu reagieren. Und unsere Reaktion ist es, die darüber entscheidet, was aus uns wird.

Das ist für viele Menschen eine schwere Einsicht, weil ja zunächst einmal die Erfahrung des Schmerzes und des Unrechts, das ihnen angetan wird, so viel größer und dramatischer ist. Unter diesem Druck haben wir gerade nicht den Eindruck, wir würden die Situation aktiv gestalten, sondern wir fühlen uns ohnmächtig zu einer Reaktion gedrängt, die uns die einzig mögliche scheint.

Petrus hat gedacht: jetzt bleibt mir nichts anders übrig, als mich von Jesus zu distanzieren. Ich kann gar nichts anderes tun. Genauso greifen wir unter Druck zu einer Lüge und haben das Gefühl: was bleibt mir anders übrig?

Aber es sind genau diese Antworten, die darüber entscheiden, was aus uns wird. Wer in einer Stresssituation zu einer Lüge greift, der festigt in sich die Überzeugung, dass er mit dem wahren Zustand seines Herzens in der Welt nicht durchkommen kann – und das ist ein Schritt in Richtung Unsicherheit und Oberflächlichkeit. Wer sich über Unrecht empört (ich meine jetzt nicht, dass man Unrecht tatsächlich bekämpft, sondern dass man sich darüber empört – und das ist nicht dasselbe, sondern ein entscheidender Unterschied), der bleibt auf das Unrecht fixiert, und es wird seine Seele immer wieder angreifen. Und dann gibt es diese ganzen Leitsätze, die sich in uns festsetzen: ich traue keinem Menschen mehr, ich werde nie wieder der schwächere sein, alle sind gegen mich, ich kriege so etwas nicht hin, ich bin ja nur das Aschenputtel, ich werde immer wieder verraten.

Aber wenn wir so etwas schon wieder erleben, dann ist das ein Einladung von Jesus, in die tiefen Wasser unseres Herzens hinabzutauchen, die dort verborgenen Lügen zu entdecken und sie durch die Wahrheit zu ersetzen, die uns frei macht. Das ist schwer und das tut oft sehr weh, weil dort unten all die alten Schmerzen lebendig werden, die nicht zur Ruhe kommen, sondern in einer ewigen Gegenwart weiterleben. Und wir empfinden das als ungerecht und unangemessen: da tut uns jemand anders schon wieder Unrecht, und nicht er soll darüber nachdenken, nicht er soll in sich gehen und daraus eine Lehre ziehen, sondern wir? Nicht er soll jetzt die alten Schmerzen noch einmal fühlen, sondern wir?? Nicht die Magd des Hohenpriesters, die zur Denunziantin wurde, ist das Thema, sondern Petrus, der Jünger Jesu?

Ja, so ist es, weil Jesus an der Wiederherstellung seines Jüngers interessiert ist. Petrus soll sein wirkliches Herz entdecken, ein Herz, das in Wirklichkeit Jesus liebt, und er soll diesem Herzen trauen und lernen, von dort aus zu leben. Die Magd hatte ihn in einem Moment erwischt, als sein Herz nicht bei ihm war, oder er nicht bei seinem Herzen. Jesus führt den Petrus zurück zu seinem Herzen, dort wo seine Kraftquelle liegt. Wenn er dazu Kontakt behält, dann wird er sich nicht mehr so ins Bockshorn jagen lassen.

»Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.« heißt es im Johannesevangelium. So kommt Petrus zu Jesus, damit der wirkliche Kern seiner Person neu sichtbar wird, seine Liebe zu Jesus. Das ist ihm so wichtig, dass er auch die Schmerzen in Kauf nimmt, die mit dieser Befreiung verbunden sind. Jesus befreit ihn von dem anderen, das auch da ist, Feigheit und Unsicherheit, er muss es noch einmal spüren, aber dann ist er neu gegründet in seiner Liebe zu Jesus. Die ist die Basis. Wer die nicht hat, der meidet solche Begegnungen. »Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.« Ohne Jesus werden wir fliehen vor den dunklen Abgründen der Seele und werden alles mögliche tun, um uns vor der Selbsterkenntnis zu bewahren.

Jesus redet mit uns über unsere eigene Geschichte, nicht über andere. Er möchte, dass die Schmerzen in den verborgenen Winkeln unserer Seele eben nicht in einer ewigen Gegenwart weiterleben, und wir müssen dauernd Schutzmauern bauen, damit sie uns nicht überwältigen, sondern sie sollen endlich Vergangenheit werden.

Könnt ihr euch vorstellen, was für eine gewaltige, erschreckende Menge an Schmerzen im Untergrund der menschlichen Seelen lebendig ist? Was da in den Tiefen der Herzen sich alles angesammelt hat? Wenn man allein an die Kriege denkt, mit ihren ganzen Ängsten und Gewalterfahrungen, an Unterdrückung und Not? Es ist ein ganzer unterirdischer Ozean an Leid und Schmerzen. Und wenn man dann noch dazunimmt, was den Menschen individuell angetan worden ist: all die Anklagen, mit denen Menschen aufwachsen, all die feinen und groben Methoden, mit denen schon Kinder verletzt und gedemütigt werden, ganz zu schweigen von Gewalt und Missbrauch! Wir sind ja in unseren frühen Jahren besonders wehrlos, und deswegen werden uns meistens da die entscheidenden Verletzungen zugefügt.

Wir sollten das ernst nehmen und verstehen: das bleibt lebendig, wenn es nicht unter dem Schutz Jesu zu seinem Frieden findet. Wir sollten achten auf die Signale, die wir bekommen, auf die Probleme, die an uns zu kleben scheinen, und natürlich auch auf die leise Stimme Gottes, der uns manchmal auf etwas aufmerksam macht, auf das wir sonst nicht so schnell gekommen wären.

Natürlich ist das von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Zum Glück gibt es ja auch die Menschen, die relativ gesund aufwachsen, die einiges an Stabilität mitbringen. Aber das war bei Petrus ja wohl auch so. Der macht nicht den Eindruck von besonderer Schwäche, auch nicht von einem verborgenen Schaden. Aber es kommt eben keiner von uns durchs Leben ohne sein Maß an Verletzung und Beschädigung. Unsere Herrlichkeit ist angegriffen.

Deswegen ist Seelsorge kein Spezialangebot für besondere Problemfälle, sondern es ist Jesu Art, wie er an uns arbeitet, um uns wiederaufzurichten. Gemeinde ist der Ort, wo das regelmäßig geschieht, ein ganzes Leben lang: um uns zu den königlichen Menschen zu machen, zu denen er uns berufen hat. Da soll herausgearbeitet werden, wer in Wirklichkeit in uns steckt und welche Angriffe auf uns verhindert haben, dass wir unserer Berufung gemäß leben. Aber unsere Berufung soll ans Tageslicht kommen, und alles andere kann gehen.