Im Herzen der Finsternis

Predigt am 10. April 2009 (Karfreitag) zu Johannes 19,16-30

16b Die Soldaten übernahmen Jesus. 17 Er trug selber sein Kreuz aus der Stadt hinaus, bis zum sogenannten Schädelplatz – auf hebräisch heißt er Golgota. 18 Dort nagelten sie Jesus ans Kreuz und mit ihm noch zwei andere, den einen links, den anderen rechts und Jesus in der Mitte.
19 Pilatus ließ ein Schild am Kreuz anbringen; darauf stand: »Jesus von Nazaret, der König der Juden«. 20 Der Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nicht weit von der Stadt entfernt, deshalb lasen viele Juden diese Aufschrift. Sie war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache abgefasst. 21 Die führenden Priester sagten zu Pilatus: »Schreib nicht: ‚Der König der Juden‘, sondern dass dieser Mann behauptet hat: ‚Ich bin der König der Juden.’« 22 Pilatus sagte: »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.«
23 Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz genagelt hatten, nahmen sie seine Kleider und teilten sie in vier Teile. Jeder erhielt einen Teil. Das Untergewand aber war in einem Stück gewebt und hatte keine Naht. 24 Die Soldaten sagten zueinander: »Wir wollen es nicht zerreißen; das Los soll entscheiden, wer es bekommt.« So traf ein, was in den Heiligen Schriften vorausgesagt war: »Sie haben meine Kleider unter sich verteilt. Mein Gewand haben sie verlost.« Genau das taten die Soldaten.
25 Nahe bei dem Kreuz, an dem Jesus hing, standen seine Mutter und deren Schwester sowie Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala. 26 Jesus sah seine Mutter dort stehen und neben ihr den Jünger, den er besonders liebhatte. Da sagte er zu seiner Mutter: »Frau, er ist jetzt dein Sohn!« 27 Und zu dem Jünger sagte er: »Sie ist jetzt deine Mutter!« Von da an nahm der Jünger sie bei sich auf.
28 Jesus wusste, dass nun alles zu Ende gebracht war. Aber damit die Voraussagen der Heiligen Schriften vollends ganz in Erfüllung gingen, sagte er: »Ich habe Durst!« 29 In der Nähe stand ein Gefäß mit Essig. Die Soldaten tauchten einen Schwamm hinein, steckten ihn auf einen Ysopstengel und hielten ihn Jesus an die Lippen.
30 Jesus nahm davon und sagte: »Jetzt ist alles vollendet.« Dann ließ er den Kopf sinken und gab sein Leben in die Hände des Vaters zurück.

Dies ist die Geschichte davon, wie Jesus ins Herz der Finsternis vorgestoßen ist. Die Formulierung »Herz der Finsternis« ist nicht von mir, sondern vom Schriftsteller Josef Conrad, der eine Erzählung geschrieben hat, in der ein Elfenbeinhändler am Kongo in der Kolonialzeit um sich herum eine grausame Herrschaft aufrichtet. Und solch eine böse, undurchdringliche Finsternis ist die Szenerie der Kreuzigung, sie war das Herz des römischen Imperiums, das die Menschen mit der Furcht vor höllischen Schmerzen und einem entsetzlichen Tod unter Kontrolle hielt.

Und diesem Herz der Finsternis hat sich Jesus ausgeliefert. Wir wissen, er hat es freiwillig getan, er war nicht dazu gezwungen. Das war damals für einige so unvorstellbar, dass sie später behaupteten, nicht Jesus sei gestorben, sondern er habe gerade noch rechtzeitig mit Simon von Kyrene die Gestalt getauscht. Simon von Kyrene war ja der, der gezwungen wurde, auf dem letzten Wegstück Jesus das Kreuz zu tragen.

Die Leute, die Jesus so eine Rettung in letzter Minute angedichtet haben, die taten das, weil sie sich überhaupt nicht vorstellen konnten, dass Jesus wirklich so grausam zu Tode gebracht wird. Die wussten sehr gut, was für eine schreckliche Sache so eine Kreuzigung war. Sie sagten: das kann doch nicht sein, dass unser Jesus das am eigenen Leibe erleben musste. Diese schrecklichen Qualen, dieser stundenlangen Kampf um jeden Atemzug, der höllische, quälende Durst, die Hilflosigkeit gegenüber Hohn und Spott – sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass es Jesus war, der das erleben musste. Denn ihnen war klar: am Kreuz scheitert jeder, auch Jesus.

Dagegen erzählt Johannes seine Passionsgeschichte. Er schreibt nichts über Simon von Kyrene, aber er betont: Jesus selbst trug sein Kreuz. Und er beschreibt diese Szene wie Jesus in seinen letzten Minute noch schreit: Durst! Derjenige, der von sich selbst gesagt hat »ich gebe euch das Wasser des Lebens«, der hängt jetzt am Kreuz und schreit: Durst! Im Griechischen ist das nur ein Wort von vier Buchstaben. Das klingt nicht so ruhig und abgewogen wie »ich habe Durst« oder »mich dürstet« im Deutschen. Das ist der Schrei von einem, der die Qual nicht mehr aushält und »Wasser!« schreit. Johannes erspart es uns nicht, an diesen kleinen Details zu ermessen, wie schrecklich das alles gewesen ist.

Aber Johannes möchte es denen leichter machen, die sagen: das kann doch Jesus nicht passiert sein. Er will ihnen helfen zu verstehen, warum das genauso geschehen musste, und warum dies gerade keine unausdenkbare Niederlage Gottes ist. Deshalb fügt er an dieser Stelle ein: Jesus schrie nach Wasser, damit die Schrift erfüllt würde. Vielleicht denkt er an die Stelle aus dem Psalm 22, wo es heißt: »meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub« (v.16). Und wenn da steht, dass sie ihm dann Essig mit Galle vermischt zu trinken geben, das erinnert an den 69. Psalm, wo es heißt: »Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst« (v.22).

Johannes weist auf diese kleinen äußerlichen Zusammenhänge hin, um uns an den großen Zusammenhang zu erinnern: obwohl all dieses Schreckliche passiert, hat Gott nicht die Kontrolle verloren. Gott hat es so vorausgesehen und vorgezeichnet. Und Jesus geht einfach den Weg nach, den Gott ihm vorgezeichnet hat. Selbst im Herzen der Finsternis gibt es einen Weg Gottes, und Jesus geht ihn.

Johannes erzählt die Geschichte noch einmal und sagt: schaut hin, wer Augen gehabt hätte, um es zu sehen, der hätte schon am Karfreitag lauter Zeichen dafür erkennen können, dass das hier keine Niederlage Gottes ist.

All die Akteure der Kreuzigung meinen in eigener Entscheidung zu handeln, aber in Wirklichkeit sind ihnen die Fäden des Geschehens längst aus der Hand geglitten. Das gilt auch für Pilatus, der ja eigentlich der Herr des Verfahrens sein müsste. Aber erst haben ihn die Priester unter Druck gesetzt, Jesus zu töten. Und jetzt rächt er sich an ihnen, indem er über dieser gekreuzigten Elendsgestalt das Schild »der König der Juden« anbringt. Das mögen die Priester natürlich nicht, denn damit wird ihr ganzes Volk verspottet, wenn so eine Jammergestalt ihr König sein soll. Aber jetzt müssen sie erleben, dass man nicht ungestraft versucht, eine Supermacht für die eigenen Zwecke einzuspannen. Es ist eine Illusion, dass man die dann klug lenken könnte. Pilatus lässt sich von seiner Gemeinheit nicht abbringen. Und genau damit sorgt er dafür, dass die Wahrheit zu Wort kommt, in allen drei Sprachen, die in Jerusalem gesprochen werden.

Oder die Soldaten, die Jesus gekreuzigt haben und jetzt als Lohn seine wenigen Habseligkeiten unter sich aufteilen dürfen. Nicht nur, dass sie auch damit etwas tun, was schon in Psalm 22 beschrieben ist, wo es heißt: »Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand«. Unter den Kleidungsstücken ist auch sein Gewand, das in einem Stück gewebt ist, nicht genäht, und das ist offensichtlich zum Zerschneiden zu schade. Deshalb losen sie darum, damit es unbeschädigt bleibt. In einem Stück gewebt war aber auch das Gewand des Hohenpriesters, und nun bleibt Jesu Gewand unbeschädigt als Zeichen der Würde des wahren Hohenpriesters, der über den Soldaten am Kreuz hängt.

Sie alle wissen nicht, was hier passiert, sie haben keine Ahnung, in welchem Drama sie mitspielen. Sie sind so tief in die Finsternis verstrickt, dass sie gar nichts anders wahrnehmen können als ihren kleinen oder großen Vorteil. Aber gerade so spielen sie ihre Rolle in Gottes Plan.

Aber was ist mit den andern, mit denen, die Jesus besser kennen? Einige sind noch da, nicht alle sind geflohen. Vier Frauen und der Jünger, der Jesus besonders nahe stand, sind geblieben. Einige von ihnen werden auch am Ostermorgen zu denen gehören, die die ersten Hinweise auf die Auferstehung entdecken. Sie sind nicht geblieben, weil sie alles durchschauen würden. Sie sind geblieben, weil sie sich gar nicht mehr vorstellen können, ohne Jesus zu sein, weil sie immer noch an ihn glauben, weil sie in seiner Nähe sein wollen, und weil ihre Liebe größer ist als ihre Furcht. Eigentlich ist das unvernünftig, sie können doch nichts ändern und bringen sich nur selbst in Gefahr. Und trotzdem tun sie einfach das Richtige. Sie wissen einfach: unser Platz ist jetzt hier.

Die Zeit mit Jesus hat ihre Früchte getragen: sie haben ein sicheres Gespür dafür bekommen, was richtig ist, und sie vertrauen diesem Gespür, auch gegen alle Furcht und alle Einwände der Vernunft.

Man muss nicht alles durchschauen. Man muss nicht den ganzen Hintergrund kennen. Jesus ist in ihr Leben getreten und hat sie so verwandelt, dass sie das Richtige tun. Sie wissen zwar nicht, was Gott mit all dem erreichen wird, aber sie gehören nicht zu den verblendeten Akteuren, die gefühllos und abgestumpft einen Menschen zu Tode quälen und dabei noch ihren kleinen persönlichen Profit machen.

Ja, es gibt Menschen, die in der Finsternis gehen müssen, aber nicht Teil dieser Finsternis werden. Sprachlos sind sie, unendlich hilflos fühlen sie sich, voller Entsetzen müssen sie ansehen, was da geschieht. Aber sie tun das Richtige: sie sind da. Eine Gemeinde Jesu von fünf Personen. Sie sind präsent genau da, wo das Imperium seine grausamen Blutopfer inszeniert. Aber sie sind jetzt in all ihrem Entsetzen und in ihrem Schmerz frei von diesem Imperium. Sie können nur noch mit Abscheu und Trauer anschauen, was die anderen da machen.

Es gibt aus der Zeit der Menschenvernichtung im Zweiten Weltkrieg eine Geschichte, die auch von so einer Präsenz der Gemeinde Jesu mitten im Grauen der Blutopfer erzählt. Kurt Gerstein, ein Christ, der sich zur Bekennenden Kirche zählte, hatte sich zur SS gemeldet, weil er wissen wollte, ob all die schrecklichen Geschichten stimmten, die er gehört hatte. Und tatsächlich stand er eines Tages voller Entsetzen im Vernichtungslager Treblinka und wurde Zeuge, wie dort Menschen massenweise durch Gas getötet wurden. Er hat dann hinterher einen Bericht darüber geschrieben und hat versucht, dieses Wissen ins Ausland zu schmuggeln, damit die Welt wissen konnte, was dort im deutsch besetzten Polen geschah, aber keiner wollte ihn hören. Erst nach dem Krieg wurden seine Aufzeichnungen zu einem der wichtigsten Dokumente, die die Wahrheit enthüllten.

So gibt es immer wieder selbst im Herzen der Finsternis die Menschen, die frei von der Finsternis bleiben, die nur ohnmächtig und verzweifelt danebenstehen können und die sich trotzdem nicht hineinziehen lassen in dieses mörderische System. Selbst im Herzen der Finsternis hat Jesus seine Gemeinde.

Und dieser Gemeinde wendet er sich noch vom Kreuz aus zu. Mitten in dem Ozean von Schmerzen, in dem er ertrinkt, hat er immer noch Gedanken und Aufmerksamkeit für diese Gemeinde.

Und wenn er seine Mutter und den Lieblingsjünger aufeinander verweist, dann geht es da nicht um die materielle Versorgung seiner Mutter. Die hatte genügend andere Kinder, auch Söhne. Und Johannes hatte schließlich auch Eltern. Nein, Jesus beschreibt hier die Gemeinde als eine neue Familie. Es stiftet die Gemeinde als die Gemeinschaft derer, die sich nicht hineinziehen lassen in die Wut und Grausamkeit des Weltsystems.

Alle anderen sind in die Schuld dieses Systems verstrickt, aber die hier sind schon befreit, herausgeholt, ihnen ist vergeben, sie sind losgekauft, sie sind dem Imperium nichts mehr schuldig. Im Herzen der Finsternis gründet Jesus seine neue Gemeinschaft, und auch die Pforten der Hölle werden sie nicht zerstören können. Eine Gemeinschaft von Menschen, die zunächst einfach nur hilflos dabei stehen und wissen, dass sie nichts verbindet mit diesen verblendeten Marionetten eines unmenschlichen Systems.

Sie sind diese Gemeinschaft dank Jesus. Ohne ihn würden sie vielleicht auch dabeistehen und gaffen. Ohne ihn würden sie vielleicht auch ihren Spaß haben an so einem armen Opfer. Aber das können sie nicht mehr. Weil sie Jesus kennen und lieben, sind sie da herausgenommen. Sie stehen jetzt verwaist dazwischen. Mit den andern da haben sie nichts zu tun. Aber wo sie hingehören, das wissen sie noch nicht. Und an dieser Stelle greift Jesus ein und verbindet sie miteinander, damit sie ihrer winzigen Gemeinschaft trauen. Da ist eine Gemeinde, winzig und unauffällig, die andern merken nichts davon, aber Jesus setzt genau da an und gibt ihr ein festes Fundament. Mit ihnen wird er weitermachen nach seiner Auferstehung. Mit ihnen wird er Licht auch ins Herz der Finsternis bringen.

Merken Sie, was Johannes alles in dieser schrecklichen Geschichte von der Kreuzigung entdeckt? Für ihn ist der Karfreitag nicht die große Stunde der Finsternis, sondern Gott hat auch an so einem Tag immer noch die Kontrolle. Gott ist schon längst Gott, er bewirbt sich nicht erst um den Posten. Er hat auch jetzt noch einen Weg, und er hat einen, der diesen Weg geht. Dies beides ist in Jesus zusammengekommen: der Weg, den Gott vorgezeichnet hat, und ein Mensch, der ihn auch wirklich gegangen ist und sich von nichts und niemandem hat abhalten lassen.

Denn während Jesus am Kreuz hängt, steht in Wirklichkeit noch einmal alles auf des Messers Schneide. Noch einmal unternehmen alle Mächte des Bösen den Versuch, Jesus abzubringen von seinem Weg; ihn dazu zu verleiten, sich von Gott loszusagen; ihn in Resignation, Rebellion oder Zynismus zu treiben. Er ist jetzt fast kraftlos, und der Druck ist stark wie nie zuvor. Aber er hält durch. Er hält fest an Gott. Und als seine Kraft tatsächlich zu Ende ist, als der Kampf durchgekämpft ist bis zum Ende, da stirbt er mit diesem letzten Wort: es ist vollbracht. Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich bin am Ziel.

Schaut, jetzt gibt es in dieser Welt die Alternative. Jetzt gibt es diesen Weg Gottes, den man auch wirklich gehen kann. Das ist keine Illusionen und kein schöner Traum. Einer ist ihn wirklich gegangen, bis ins Herz der Finsternis. Er ist ihn vorangegangen, damit wir ihm auf unsere Weise nachfolgen. Und die ersten sind ihm gefolgt, zitternd und mit Entsetzen, aber sie haben auf ihre Weise standgehalten, ermutigt durch Jesus. Und einer wie Kurt Gerstein und viele andere haben es ebenso gemacht. Jetzt ist es nicht mehr so, dass wir nichts entgegenzusetzen haben, wenn Macht, Dummheit und Gleichgültigkeit sich ihre Opfer suchen. Diesen Mächten ist nun eine Grenze gesetzt. Jesus ist ihre Grenze. An ihm sind sie gescheitert.

Das Werk Jesu ist vollbracht. Aber es reicht nicht, wenn Jesus das feststellt. Das könnte auch der Wunschtraum eines armen Sterbenden sein. Aber am Ostersonntag wird deutlich, dass auch Gott das so sieht. Gott lässt Jesus auferstehen und bestätigt damit seinen Weg: sein Leben und sein Sterben. Gott sagt uneingeschränkt ja dazu. Der verborgene Sieg Gottes am Karfreitag weitet sich von da an aus und erfasst die ganze Welt und doch hoffentlich auch uns.