Gott erkennen – Gott erleben

Predigt am 8. April 2001 zu Johannes 17,1-8

1 Als Jesus diese Rede beendet hatte, blickte er zum Himmel auf und sagte: »Vater, die Stunde ist gekommen! Setze deinen Sohn in seine Herrlichkeit ein, damit der Sohn deine Herrlichkeit offenbar machen kann. 2 Du hast ihm ja die Macht über alle Menschen gegeben, damit er denen, die du ihm anvertraut hast, ewiges Leben schenkt. 3 Und das ewige Leben besteht darin, dich zu erkennen, den einzig wahren Gott, und den, den du gesandt hast, Jesus Christus.

4 Ich habe deine Herrlichkeit auf der Erde sichtbar gemacht; denn ich habe die Aufgabe erfüllt, die du mir übertragen hast. 5 Vater, gib mir nun wieder die Herrlichkeit, die ich schon bei dir hatte, bevor die Welt geschaffen wurde!

6 Ich habe dich den Menschen bekanntgemacht, die du aus der Welt ausgesondert und mir anvertraut hast. Dir haben sie schon immer gehört, und du hast sie mir gegeben. Sie haben sich nach deinem Wort gerichtet 7 und wissen jetzt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir stammt. 8 Ich habe ihnen die Worte weitergesagt, die du mir gegeben hast, und sie haben sie aufgenommen. Sie haben erkannt, dass ich wirklich von dir komme, und sind zum Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast.

In Oberitalien, in dem Ort Assisi, steht eine große, prächtige Basilika, eine Kirche mit kostbaren Gemälden und Kunstschätzen geschmückt, eine riesige Kirche, die im Lauf der Jahrhunderte viele, viele Besucher angezogen hat. In der unteren Etage dieser großen Kirche steht ein Grabmal, winzig im Vergleich zu der prächtigen Kathedrale, die über ihr errichtet worden ist. Aber dieses Grab ist der eigentliche Grund dafür, weshalb man dort die prunkvollen Bau hingesetzt hat. Innen drin liegt nämlich ein Mann begraben, der wie kaum ein anderer die Menschen fasziniert und angezogen hat. Ein kleiner, bescheidener Mann, zu dessen Lieblingsbeschäftigung es gehörte, soviel wie möglich von dem, was ihm gehörte, zu verschenken. Und ausgerechnet der liegt nun im Mittelpunkt dieses prächtigen Bauwerks begraben.

Wie wahrscheinlich schon viele erraten haben, ist dieser kleine Mann, der die größere Hälfte seines Lebens mit Leidenschaft in größter Armut gelebt hat, Franz von Assisi, bei uns vor allem bekannt als der Mann, der zu den Vögeln und sogar zu einem Wolf gepredigt haben soll. Ein kleiner Mann, der so von der Liebe Gottes angerührt wurde, dass er alles verschenkte, was zwischen ihm und Gott stehen könnte.

Nur weil es diesen kleinen Mann gegeben hat, konnte man später die große Kirche bauen. Die große Kirche ist um sein Grab herumgebaut. Da haben die besten Handwerker und Künstler dran gearbeitet, und es hat viel Geld gekostet, aber auch mit allem Geld der Welt kann man nicht erkaufen, was dem kleinen Mann dort geschehen ist. Franz entdeckte in seinem Herzen eine Süße und Freude, die von Gott kam, und die er um nichts in der Welt wieder hergeben wollte. Und durch die Jahrhunderte sind die Menschen in großen Scharen gekommen. Sie sind zu diesem Ort gekommen, wo der kleine Mann gelebt hat, und warum? Weil sie gehofft haben, auch für sich selbst ein bisschen davon abzubekommen.

Menschen kommen gerne an solche Orte, wo irgendwann einmal der Himmel die Erde berührt hat, Orte, wo irgendwann einmal die Schranke zwischen Gott und den Menschen hochgegangen ist und hier auf der Erde etwas von Gottes Herrlichkeit zu spüren war. Menschen hoffen, dann auch selbst wenigstens ein bisschen davon abzubekommen.

Menschen ahnen etwas davon, dass das tatsächlich das Größte ist, was einem auf Erden passieren kann: direkten Kontakt mit Gott zu haben, ihn zu erleben und von ihm authentisch angerührt zu werden. Jesus nennt das »Gott erkennen«, und dieses Wort erkennen bedeutet in der Bibel nie so ein abgehobenes, wissenschaftliches Erkennen, wie wenn ein Forscher ins Mikroskop guckt und sagt: aha, hier habe ich also eine Maul- und Klauen-Bakterie, und so hängt das also alles zusammen. Erkennen bedeutet: eine intensive Beziehung aufnehmen, sich hautnah einlassen mit einem Gegenüber. Von Adam z.B. heißt es: er ‚erkannte‘ seine Frau Eva — und was war die Folge? Sie bekam ein Kind. Erkennen bedeutet intensiven Nahkontakt, der Folgen hat.

Jesus sagt: ich bin gekommen, damit die Menschen Gott erkennen können, damit Menschen die Süße spüren können, von der Franz von Assisi immer wieder geradezu überfallen worden ist. Das ist der Kern des Christentums. Alles andere ist darum herumgebaut, so wie die große Basilika um das Grab des kleinen Franz herumgebaut worden ist. Alles schön und gut, aber es ist nicht der Kern. Schön und gut, wenn man anständig lebt und gute Taten tut, aber es ist nicht der Kern. Schön und gut, so ein großes christliches Bauwerk, aber das ist schon gar nicht der Kern. Der Kern ist, wenn ein Mensch auf Gott stößt und seine Liebe spürt und dann alles mögliche tut, damit ihm das auf jeden Fall erhalten bleibt.

Das nennt Jesus »Ewiges Leben«. Ein Leben, das seine Quelle in der Ewigkeit hat. Wir verstehen das heute so, als ob es vor allem darum ginge, wo wir nach unserem Tod die Ewigkeit verbringen werden. Aber das ist eine Engführung, die das Ganze auf die schiefe Bahn bringt. Beim »Ewigen Leben« geht es darum, hier in dieser Welt aus einer Quelle zu leben, die jenseits unserer Welt entspringt, in der Ewigkeit Gottes. Das Ewige Leben, sagt Jesus, besteht darin, Gott zu erkennen – und zwar genau in diesem Sinn eines intensiven Kontakts. Und dass Gott dann diesen Kontakt von sich aus auch über den Tod hinaus festhalten wird, das stimmt, aber das ist in diesem Moment nicht die Hauptsache. Wenn jemand heftig verliebt ist, dann freut er sich doch an seinem Partner und freut sich an diesem Augenblick, aber es wäre doch irgendwie merkwürdig, wenn er sagen würde: o wie schön, wir gehen mal gemeinsam ins Altersheim! Darüber kann man später nachdenken, aber nicht, wenn man gerade richtig verliebt und begeistert ist!

Jesus sagt: ich bin gekommen, damit Menschen Gott kennenlernen können, so wie er wirklich ist. Ihr könnt an mir ablesen, wie Gott ist. Ich bin die Übersetzung Gottes in die irdischen Verhältnisse. Wenn ihr das an mir ablest, dann werdet ihr ihn nicht mehr verwechseln und an der falschen Stelle suchen.

Menschen suchen nach Gott, davon kommt niemand los. Aber sie suchen Gott oft unter ganz anderen Etiketten: sie suchen nach Glück, nach dem Guten, nach Befreiung, sie suchen nach Macht oder Anerkennung, und wissen nicht wie der Gott aussieht, bei dem sie wirklich am Ziel wären.

Das ist, wie wenn ich mit einer Lampe in ein stockdunkles unbekanntes Zimmer gehe und eine Steckdose suche, wo ich die Lampe einstecken kann. So laufen Menschen durch die Welt und suchen die Steckdose, wo sie sich einstöpseln können, um mit der Energie Gottes Licht in ihr Leben zu bringen. Und was passiert, wenn ich in einem dunklen Raum in einer unbekannten Wohnung eine Steckdose suche? Ich stecke den Stecker an der falschen Stelle ein, und dann kommt kein Licht, und ich merke: Mist, das war das Schlüsselloch. O, wieder falsch, das waren die Löcher im Käse. O nein, und das war der Hund! Jetzt gibt es Ärger! Und erst, wenn mir einer erklärt, wo die Steckdose ist, werde ich sie mit etwas Tasten finden.

So tasten alle Menschen nach etwas, was sie nicht genau kennen, und sie gehen auf schreckliche Irrwege und richten Tod und Zerstörung an auf ihrer Suche, sie bekämpfen andere oder nutzen sie aus, weil sie nicht wissen, was sie suchen.

Aber manchmal passiert es, dass du einem Menschen etwas von Gott sagst, und Gott bestätigt es. Und es kann ein völlig heruntergekommener Mensch sein in einer dreckigen Bruchbude, mitten in seinem Elend zwischen Suff, Schulden und zerbrochenen Beziehungen, aber für einen Augenblick wird er von Gott berührt, und er spürt es, und das hilft ihm mehr, als wenn du ihm einen Geldschein in die Hand drückst, von dem er sich doch nur wieder Bier kaufen würde, und wenn er diese Erfahrung festhalten würde mit all seiner Kraft, dann würde ihn das aus seinem Elend herausholen und ihm seine Würde zurückgeben.

Aber was machen Menschen, wenn sie auf die Wirklichkeit Gottes stoßen, bei sich oder bei anderen? – Wie es dann gar nicht so selten passiert, dass Menschen auf einmal Gott begegnen?

»Das kann nicht sein, und also ist es Einbildung« sagen die einen. Und sie panzern sich gegen die Erfahrung Gottes, sie reden ihn weg und erklären es zur Einbildung, sie vergessen schnell wieder, was ihnen passiert ist. Sie denken nicht darüber nach und kümmern sich um andere Sachen. Sie reden über den Papst oder die Moslems und meinen damit: das ist doch alles Schwindel.

Die anderen versuchen, das irgendwie zu nutzen. Sie bauen um die Gottesbegegnung herum Systeme wie die Basilika über dem Grab des armen Franz von Assisi. Sie versuchen, das Wasser auf ihre eigene Mühle zu lenken. Und dann gibt es Kirchen und Religionssysteme, die bestenfalls einen Aspekt dieser Gotteserfahrung widerspiegeln, und es gibt Musik und Konzerte, bei denen den Menschen manchmal ein Schauer über den Rücken läuft, und für einen Moment ahnen sie, dass sie da etwas angerührt hat, und dann ist es vorbei und sie suchen weiter an der falschen Stelle.

Aber Jesus sagt zu Gott: du hast mir einige Menschen gegeben, die diesen Kontakt zu dir weder gleich abblocken noch für ihre Zwecke ausnutzen und funktionalisieren, sondern tatsächlich die Wahrheit über dich verstehen und darin leben wollen. Gott sorgt dafür, dass es immer wieder Menschen gibt, die so sehr an der Wahrheit interessiert sind, dass sie sich auf Veränderung einlassen. Dass sie ihre Gedanken und ihr Leben so verändern, dass das Gegenüber zu Gott tatsächlich zum prägenden Bestand ihres Lebens wird. Damit sie nicht mehr irgendwo hinpilgern müssen, nach Assisi oder anderswohin, um irgendwie Anteil zu bekommen an den geistlichen Erfahrungen eines anderen, sondern dass in ihrem Leben selbst diese Quelle fließt.

Jesus sagt einmal zu einer Frau, die er an einem Brunnen getroffen hat: »Das Wasser, das ich einem Menschen gebe, das wird in ihm zu einer Quelle werden, die ins ewige Leben quillt.« Gemeint ist: die ewiges Leben hervorsprudelt. In jedem Menschen kann diese Quelle fließen, wir müssen nicht irgendwelche heiligen oder besonderen Orte aufsuchen, wo der Himmel irgendwann mal die Erde berührt hat, nein, jeder Mensch kann mit Jesu Hilfe in sich diese Quelle fließen lassen.

Voraussetzung dafür ist, dass Menschen bereit sind zur Veränderung, bereit dazu, ihre Gedanken loszulassen, mit denen sie sich immer wieder den Weg zu Gott versperrt haben. Bereit, das aufzugeben, was sie von dieser Quelle trennt. Es gibt so viele Gedankenblockaden, die uns davon fernhalten, und so viele Menschen, die uns in diesen Gedanken festhalten wollen, und wir selbst möchten am allerwenigsten unsere Gedanken aufgeben. Aber ob es uns am Ende wichtiger ist, mit der Süße und Freude zu leben, von der Franz von Assisi und viele andere immer wieder berichtet haben, daran entscheidet sich am Ende, ob wir zu den Menschen gehören, die bei Jesus bleiben.

Jesus hat ein Leben geführt, in dem diese Wirklichkeit Gottes breiten Raum gehabt hat. Das ist gemeint, wenn er sagt: ich habe dich verherrlicht auf der Erde, ich habe deine Herrlichkeit sichtbar gemacht. An Jesus kann man sehen, wie ein von Gott geprägtes Leben wirklich aussieht. Und er hat gezeigt, dass diese Kraft, die er geöffnet hat, sogar stärker ist als Gewalt und Tod. Und nun bittet er darum, dass Gott seinerseits sein Leben bestätigt und ihn auferstehen läßt und deutlich macht, dass er auf seiner Seite steht. Da kommt zusammen der Mensch, der Gott den angemessenen Platz in der Welt schafft, und Gott, der darauf mit Segen und Leben antwortet. Und wenn wir zu Jesus gehören, kommen wir mit hinein und gehören mit dazu.