Heilsame Abhängigkeit

Predigt am 11. Mai 2003 zu Johannes 15,1-8

Jesus sprach zu seinen Jüngern:
1 »Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. 2 Er entfernt jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt; aber die fruchttragenden Reben reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringen. 3 Ihr seid schon rein geworden durch das Wort, das ich euch verkündet habe. 4 Bleibt mit mir vereint, dann werde auch ich mit euch vereint bleiben. Nur wenn ihr mit mir vereint bleibt, könnt ihr Frucht bringen, genauso wie eine Rebe nur Frucht bringen kann, wenn sie am Weinstock bleibt.
5 Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Wer mit mir verbunden bleibt, so wie ich mit ihm, bringt reiche Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts ausrichten. 6 Wer nicht mit mir vereint bleibt, wird wie eine abgeschnittene Rebe fortgeworfen und vertrocknet. Solche Reben werden gesammelt und ins Feuer geworfen, wo sie verbrennen. 7 Wenn ihr mit mir vereint bleibt und meine Worte in euch lebendig sind, könnt ihr den Vater um alles bitten, was ihr wollt, und ihr werdet es bekommen. 8 Die Herrlichkeit meines Vaters wird ja dadurch sichtbar, dass ihr reiche Frucht bringt und euch so als meine Jünger erweist.«

Jesus benutzt in dieser Rede ein überaus appetitanregendes Bild: Süße, saftige Weintrauben. In Israel konnte man überall in den Weinbergen Weinstöcke mit solchen Trauben sehen. Das war ein vertrauter Anblick. Deshalb wussten die Jünger genau, was Reben sind, nämlich die dünnen Ranken, die vom Weinstock abgehen. Die sind lang und dünn. Der Weinstock selbst kann ziemlich dick sein. Und wenn der Boden und das Wetter gut sind, dann sind auch die Weintrauben schön prall und saftig. Nur die Reben, die die Verbindungen zwischen Weinstock und Trauben bilden, die sind ziemlich dünn. Man wundert sich, wie diese dicken Trauben an so dünnen Ranken hängen können. Deswegen werden die Reben im Weinberg auch an Stützen gebunden, damit sie diese Last nicht tragen müssen.

Das bedeutet, die Reben sind eigentlich vor allem Leitungen, durch die der Saft zu den Trauben kommt. Sie bringen die Kraft dahin, wo es Wachstum geben soll. Ohne Reben würde es die süßen Weintrauben nicht geben, sie sind unentbehrlich, aber die Kraft, die die Weintrauben hervorbringt, stammt nicht aus den Reben.

Jesus benutzt dieses Bild, um das Verhältnis zwischen sich und seinen Jüngern zu beschreiben. Sie sorgen dafür, dass die Kraft, die von Jesus ausgeht, überallhin kommt. Weinranken können ja sehr lang werden. Wir hatten am Pfarrhaus früher einen Weinstock, der hatte so lange Ranken, dass die ganze Hauswand grün war. Bis in die hintersten Ecken haben sie sich vorgeschoben. So sorgen die Jünger von Jesus dafür, dass seine Botschaft bis in die letzten Winkel der Erde dringt. Sie sind die Kanäle, durch die seine Kraft dahin kommen kann.

Wo wir hinkommen bringen wir Jesus und seine Kraft mit. Die Gruppe der Jünger, das ist sozusagen die vorgeschobene Hand Jesu, die jeden Punkt der Erde erreichen kann, damit es überall leckere süße Trauben gibt, d.h.: damit überall das neue Leben wachsen kann, das Jesus in die Welt bringt.

Wenn man es so sieht, dann leuchtet einem unmittelbar ein, warum es so wichtig ist, dass die Verbindung zu Jesus dauernd aufrechterhalten wird. Der Nachschub an Kraft muss ja gesichert sein. Die Rebe braucht für ihre Aufgabe ja viel mehr Kraft, als sie selbst jemals hervorbringen könnte. Wenn eine Rebe nicht mehr mit dem Weinstock verbunden ist, dann kann sie noch für eine kurze Zeit den Saft weitergeben, der in ihren Leitungen gespeichert ist, aber dann hört es auf.

Genau das erleben wir ja immer wieder, dass Menschen noch eine Zeit lang von der Kraft Jesu leben, aber der Nachschub wird immer weniger. Vielleicht akzeptieren Menschen dann noch für eine gewisse Zeit einige der Gebote, aber diese Kraft der Weltgestaltung, diese Siegesgewissheit, die die ersten Jünger begleitete, die ist nicht mehr da. Und das betrifft unsere ganze Kultur: da sind noch viele christliche Werte, aber die Anbindung an Jesus wird immer schwächer. Und dann wundern sich die Leute, dass das Christentum so wenig Kraft hat.

Und man muss sich ernsthaft Sorgen machen, wenn wir hier hören, dass Gott die toten und unfruchtbaren Reben herausschneiden wird. Bei unserem Weinstock am Haus habe ich das nie getan, und die Folge war, dass die Trauben immer ziemlich klein und sauer waren. Ein professioneller Weinbauer macht das natürlich anders. Er weiß: Reben, die keine Frucht bringen, die verschwenden die Kraft des Weinstocks, und deshalb müssen sie hin und wieder herausgeschnitten werden. Ist womöglich unsere ganze Kultur so eine unfruchtbare Weinranke, die Gott irgendwann wegwerfen wird, weil sie die Kraft Jesu unnütz verschwendet? Und wie ist das mit Menschen, die sich von Jesus mit Kraft versorgen lassen, aber es ist wie ein Fass ohne Boden, sie nehmen und nehmen und es wächst keine Frucht? Irgendwann kommt der Winzer und reinigt die Reben, damit die toten und unfruchtbaren Ranken nicht den guten die Kraft wegnehmen. Denn es war nie so gemeint, dass wir die Kraft Jesu entgegennehmen aber dann nicht auf seine Worte hören.

Jesus beschreibt in diesem Bild vom Weinstock stattdessen eine heilsame Abhängigkeit, in die seine Jünger geraten. Der ganze Zusammenhang ist so gestaltet, dass sie Jesus und seine Worte ohne zeitliche Einschränkung brauchen. Jeden Tag. Und das passt so gut dazu, wie Menschen funktionieren.

Der Mensch ist als ein flexibles und offenes Wesen angelegt. Er hat viele Schnittstellen, über die er mit seiner Umwelt verbunden ist. Über alle möglichen Kanäle wird er selbst beeinflusst und beeinflusst er seine Umwelt. Er kann mit Gott und den Menschen kommunizieren.

Menschen muss man sich nicht vorstellen als Uhrwerk, das nach seines eigenen Funktionsprinzipien abläuft, sondern eher als Schnittstelle vieler Einflüsse, die von dem Menschen immer wieder neu in ein Gleichgewicht gebracht werden. Die Struktur unserer Nervenzellen spiegelt das wieder, jede einzelne Nervenzelle hat viele Anschlüsse und zusammen bilden sie ein kompliziertes Geflecht, in dem die Impulse verarbeitet werden, die von außen hereinkommen. Da ist nichts fest und endgültig, sondern das ist ein lebendiges Netzwerk, das immer wieder neu umgebaut wird. Im Gehirn gibt es kein Ein-für-Allemal, sondern das Gehirn organisiert sich immer wieder neu. Und Gott will immer wieder neu sein Wort und seine Kraft da hineingeben können, damit er dabei nicht nach kurzer Zeit außen vor ist. Dann würden sich nämlich sofort andere Einflüsse in uns breitmachen.

Die Sünde und die Zerstörung kam ja in die Welt, weil Menschen in Unabhängigkeit von Gott leben wollten. Sie verschlossen sich gegen Gott, und da wurde die Welt saft- und kraftlos. Der Nachschub konnte nur noch spärlich fließen. Menschen wurden wie tote, vertrocknete Reben, die nicht mehr biegsam und lebendig sind und vor allem keine Frucht bringen.

Dagegen zeichnen sich die Jünger Jesu dadurch aus, dass es bei Ihnen wieder anders ist. Sie haben diese Verschlossenheit gegen Gott hinter sich gelassen. Sie haben sich Jesus geöffnet, und deswegen kann er da, wo sie sind, selbst wirken. Wenn es gut geht, dann merkt jemand, der zu Jesus gehört, immer mal wieder: so wie ich mich jetzt verhalten habe, das kommt gar nicht aus mir, da ist ein anderer Einfluss in mein Leben und in mein Verhalten hinein gekommen.

Wenn Jesus uns mit seiner Kraft versorgt, dann bringt die auch innere Gesetze mit sich. Im Bild vom Weinstock gesprochen: eine Weinrebe kann nicht plötzlich Bananen wachsen lassen. Ihr inneres Gesetz und die Zusammensetzung des Rebensaftes erlauben ihr nur, Weintrauben hervorzubringen. Der Rebensaft hat in sich viel Energie und Kraft, aber diese ganze Kraft kann nur Weintrauben hervorbringen, nichts anders. Deshalb bedeutet diese Versorgung durch Jesus auch, dass in uns Regeln gelten, heilsame Grenzen.

Wenn man da im Johannesevangelium weiterliest, dann redet Jesus in den nächsten Versen gleich über die Liebe und über die Gebote. Für ihn gehört das zusammen. Er kennt nicht eine gestaltlose Liebe, die das tut, was ihr in den Sinn kommt, sondern er weiß, dass Liebe nur gedeihen kann, wenn sie eine deutliche Gestalt und Struktur hat, und das sind eben die Gebote. Sonst könnte man Liebe einfach mal umdefinieren und vielleicht behaupten: es ist Liebe, wenn ich z.B. einem Kranken Gift gebe, ich erlöse ihn damit ja von seinem Leiden. Nein, sagt Jesus, man kann Liebe nicht beliebig umdefinieren, Gott hat heilsame Grenzen gesetzt, und nur innerhalb dieser Grenzen gibt es Gestaltungsfreiheit.

Aber die Regeln und Grenzen sind nicht die Hauptsache, sondern sie ergeben sich sozusagen als Rückseite aus der eigentlichen Hauptsache: Jesus versorgt seine Jünger mit Saft und Kraft. Er gibt uns Energie. Und diese Energie funktioniert nur nach bestimmten Regeln. Deshalb sagt Jesus hier diesen unheimlich steilen Satz: Wenn ihr mit mir vereint bleibt und meine Worte in euch lebendig sind, könnt ihr den Vater um alles bitten, was ihr wollt, und ihr werdet es bekommen. Wenn das wahr ist, würde das nicht bedeuten, dass wir Gott nach unserem Geschmack herumspringen lassen können? Nein, es gibt ja diesen Vordersatz: wenn meine Worte in euch lebendig bleiben. Wenn wir von Jesu Kraft und Jesu Regeln geprägt sind, dann werden wir Gott um nichts anderes bitten als um das, was er auch tun will, und dann wird er es gerne und ohne Zögern tun.

Jesus gibt uns heilsame Regeln, damit diese Zusammenarbeit mit klappt. Aber natürlich kann man das, wenn man will, auch als gemeine Einschränkung verstehen. Aus der Sicht von Adam und Eva waren es Einschränkungen, jedenfalls, seitdem sie begonnen hatten, auf die Schlange zu hören. In ihnen entstand das Bild vom unabhängigen Menschen, der nicht mehr von Gott abhängig ist, sondern aus seiner eigenen Kraft lebt. Dann muss er auch die Grenzen nicht mehr respektieren.

Wir wissen, im Paradies war diese Grenze schon vertreten, nämlich durch den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Das war die Linie, die Gott gezogen hatte, und die Adam und Eva beachten sollten: von diesem Baum sollt ihr nicht essen!

Das bedeutet, Grenzen stammen nicht erst aus der Zeit nach dem Sündenfall, sondern es gab sie schon im Paradies. Sie sind keine Notmaßnahmen, sondern sie gehören zur schöpfungsmäßigen Ausstattung des Menschen dazu. Auch die Naturgesetze sind ja solche Grenzen, die uns einfach nicht erlauben, alles zu tun, was uns in den Sinn kommt. Gott hat ein verlässliches Universum geschaffen, in dem nicht heute andere Regeln gelten als gestern.

Und als das Paradies vorbei war, hat er uns auch ganz persönlich mit dem Tod eine Grenze gegeben, die uns auch gegen unseren Willen daran erinnern soll, dass wir begrenzte Wesen sind. Gerade weil der Mensch so ein offenes Wesen ist, das sich in viele Richtungen wenden und entwickeln kann, deshalb braucht er auch feste Punkte. Sonst hätten wir überhaupt keine Gestalt.

Dass Menschen heute schnell dabei sind, darauf zu bestehen, dass ihnen niemand etwas vorzuschreiben hat, das ist eine verzerrte Sicht dieses Zusammenhangs. Genauso wie wenn man sagen würde: der Weinstock schreibt den Reben vor, dass sie keine Bananen wachsen lassen dürfen, wie gemein!

Der eigentliche Punkt ist: es gibt süße Trauben! und es gibt die Kraft Jesu in der Welt! Das ist die Hauptsache, und darauf sollen wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren.