Auch das Warten kann eine große Tat sein

Predigt am 27. Mai 2001 zu Johannes 14,15-24

Am Abend vor Jesu Kreuzigung:
15 »Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote befolgen. 16 Und ich werde den Vater bitten, dass er euch an meiner Stelle einen anderen Helfer gibt, der für immer bei euch bleibt, 17 den Geist der Wahrheit. Die Welt kann ihn nicht bekommen, weil sie ihn nicht sehen kann und nichts von ihm versteht. Aber ihr kennt ihn, denn er wird bei euch bleiben und in euch leben.
18 Ich lasse euch nicht wie Waisenkinder allein; ich komme wieder zu euch. 19 Es dauert noch eine kurze Zeit, dann wird die Welt mich nicht mehr sehen. Aber ihr werdet mich dann sehen, und ihr werdet leben, weil ich lebe.
20 Wenn dieser Tag kommt, werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater lebe und dass ihr in mir lebt und ich in euch. 21 Wer meine Gebote annimmt und sie befolgt, der liebt mich wirklich. Und wer mich liebt, den wird mein Vater lieben. Auch ich werde ihn lieben und ihm meine Herrlichkeit offenbaren.«
22 Judas – nicht der Judas Iskariot – sagte: »Warum willst du deine Herrlichkeit nur uns zeigen und nicht der Welt?« 23 Jesus antwortete ihm: »Wer mich liebt, wird sich nach meinem Wort richten; dann wird ihn mein Vater lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. 24 Wer mich nicht liebt, richtet sich nicht nach meinen Worten – und dabei kommen doch die Worte, die ihr gehört habt, nicht von mir, sondern von meinem Vater, der mich gesandt hat.

Vor den Jüngern lag die Erfahrung der Gottesfinsternis. Am nächsten Tag würde Jesus tot sein, und mit ihm all ihre Hoffnungen. Es gibt solche Zeiten im Leben der Einzelnen, wo wir uns abgeschnitten fühlen vom Leben, ohne Zukunft, ohne Aussicht auf einen Weg, und wir glauben nicht, dass wir noch einmal unserer Tage froh werden könnten. Es gibt aber auch solche Zeiten für die ganze Kirche, wo es so aussieht, als ob der lebendige Jesus nicht zu finden ist, und wir müssten mit Erinnerungen vorlieb nehmen oder die Sache in unsere Hände nehmen und irgendwie das Beste daraus machen. Über solche Tage und Zeiten redet Jesus vorher, damit die Jünger vorbereitet sind.

»Ich lasse euch nicht wie Waisenkinder allein« sagt er. Er wird ihnen Ersatz schicken. Aber nicht ein dickes Buch mit Anweisungen, in dem sie immer nachschlagen können. Sondern er wird ihnen den Heiligen Geiste schicken. Etwas Lebendiges.

Und dann setzt er fort: »Ich lasse euch nicht wie Waisenkinder allein; ich komme wieder zu euch.« Also ist es doch nicht jemand anderes, sondern Jesus, der zu den Jüngern zurückkommt. Und da fallen einem ein die späteren Begegnungen der Jünger mit dem auferstandenen Jesus. Das wird beides nebeneinander gesagt: ich sende euch den Heiligen Geist, und: ich komme zu euch. Es sind sozusagen zwei Seiten einer Sache. Jesus kommt im Heiligen Geist, und in der ersten Zeit wird er sogar als Gestalt sichtbar sein, nur dass er verfremdet ist, irgendwie anders, weil er ja schon zum Himmel gehört.

Wenn die Jünger sich treffen, soll das kein Traditionsverein werden, wo die Erinnerung an einen großen Toten gepflegt wird. Sondern er wird weiterhin lebendig sein. Dass er in der Erinnerung weiterlebt, das wäre zu wenig. Wenn einer in der Erinnerung weiterlebt, dann führt das manchmal zwar zu sehr lebendigen Schilderungen – aber er lebt damit doch nicht selbst. Als sie jetzt neulich in Peine das Bodenstedt-Denkmal aufgestellt haben, da hat sogar ein Schauspieler den Dichter dargestellt, und er soll es gut gemacht haben, aber niemand würde behaupten, dass das der echte Bodenstedt wäre. Und kein halbwegs vernünftiger Mensch würde glauben, wenn er den Schauspieler anspricht und testet, wie schlagfertig der ist, dann würde er mit dem echten Bodenstedt selbst reden. So ein Schauspieler kann uns viel erzählen, wo sich der echte Bodenstedt im Grabe rumdrehen würde, wenn er es könnte.

Für Jesus hat man nur selten Denkmäler aufgestellt. Ein riesengroßes in Rio de Janeiro kenne ich. Aber sonst eher nicht. Irgendwie haben die Leute gewusst, dass das nicht zu ihm passt. Denkmäler setzt man für Tote. Für Jesus gibt es stattdessen Kirchen, Versammlungshäuser. Das liegt daran, dass es um den lebendigen Jesus in der Mitte seiner Jünger geht. Klar, dass es in diesen Versammlungshäusern auch Bilder von Jesus gibt. Aber die sind nur so kleine Erinnerungshilfen (manchmal sehen die auch so aus, dass es eher Erinnerungshindernisse sind). Und es müssen auch keine Kirchen sein. Es kommt auf die Menschen an. Jesus will lebendig werden unter Menschen, die zu ihm gehören. Es soll so weitergehen wie damals, als er seine 12 Jünger anleitete und mit ihnen lebte.

Und es ist eine ganz naheliegende Gefahr, dass man man trotzdem gleich wieder aus der Kirche einen Traditionsverein macht. Religion nennt man das dann, wenn man die Erinnerung pflegt. Ein lebendiger Jesus ist von uns nicht kontrollierbar, aber Religion, die bringt nicht so viel durcheinander, die lässt die Welt so, wie sie ist.

Aber Jesus sagt: ich lebe. Ich habe noch längst nicht aufgehört. Er warnt seine Jünger: Morgen wird es aussehen, als ob alles zu Ende ist, als ob sie es mal wieder hingekriegt haben, als ob die Herrscher dieser Welt triumphieren können, weil die einzige echte Alternative, die es gab, beseitigt ist. Sie werden sich freuen, all die Tempelverwalter, die von einem lebendigen Gott nichts wissen wollen, weil der ihnen ihre Geschäfte stört, und ihr werdet ratlos und entsetzlich traurig sein und nichts zu sagen wissen. Wenn es soweit ist, dann erinnert euch: ich lebe!

Und wenn es bei uns heute manchmal so aussieht, als ob Gott ausgestorben ist in der Welt, und keiner ist da, der uns sagen kann, was wir tun sollen, und wir können nichts anderes tun, als uns irgendwie durchschlagen und die Erinnerung an Jesus verwalten – ich lebe! sagt er, und ihr sollt auch leben! Ihr werdet Anteil haben an meiner Lebendigkeit. Ihr werdet so wie ich versteinerte Menschen anrühren und sie werden herauskommen aus ihrer Starre, ihr werdet Menschen die Fesseln lösen, so wie ich aus Maria Magdalena sieben böse Geister ausgetrieben habe, bis die wirkliche Maria zum Vorschein kam, so wie Gott sie gemeint und gewollt hat. Ich mache weiter, und ihr werdet auch weitermachen, mit mir zusammen!

Und dann fragt ihn einer seiner Jünger, und das ist eine ganz naheliegende Frage: »Warum willst du dich denn nur bei uns zeigen? Warum nicht allen Menschen? Warum nicht auch deinen Feinden? Das könnte denen doch nur gut tun, wenn sie dich nach deiner Auferstehung sehen. Die würden bestimmt einen ziemlichen Schreck bekommen!«

Haben Sie das schon mal überlegt? Weshalb Jesus sich – mit einer besonderen Ausnahme, da sage ich noch etwas zu – immer nur denen gezeigt hat, die ihn schon kannten und zu ihm gehörten?

Und da wiederholt Jesus fast mit denselben Worten etwas, was er schon gesagt hat, und das sie vielleicht überhört haben. »Wer mich liebt, wird sich nach meinem Wort richten; dann wird ihn mein Vater lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.« Jesus in seinem neuen Leben begegnet nur denen, die ihn lieben und nach seinem Wort leben. Der Heilige Geist kommt nur zu uns, wenn wir zu Jesus gehören, und zwar nicht nur dem Namen nach, sondern so, dass das in unsere Lebenspraxis eingeht.

Gott macht es so wie kluge Eltern, die ihren Kindern nur das abnehmen, was sie nicht selbst tun können. So wie wir vielleicht sagen: die Schleife, die will ich dir gerne zubinden, aber die Schuhe, die kannst du schon selbst anziehen Also: zieh dir erst selbst die Schuhe an und dann komm her mit der Schleife! Genauso ist es hier: Wir können uns nach den Worten Jesu durchaus richten. Wir können eine ganze Menge tun, und wenn wir das tun, dann wird Gott mit dem Heiligen Geist kommen und in uns wohnen und uns noch zu ganz anderen Dingen befähigen. Als Jesus sich von den Jüngern verabschiedete und zurückging zum Vater im Himmel, was sagte er ihnen? Bleibt zusammen und wartet auf den Heiligen Geist! Eine einfache Anweisung? Ja, eigentlich schon. Aber schwer für Leute, die nicht abwarten können. Vielleicht gab es ja auch Jünger, die sagten: wir können doch hier nicht einfach rumsitzen! Wir müssen doch irgendwas tun! Aber dann haben sich eben doch die besonnenen Jünger durchgesetzt und gesagt: »Jesus hat gesagt ‚Wartet‘. Wollen wir uns denn nicht daran halten?« Und dann haben sie gewartet, bis der Heilige Geist kam, und dann konnten sie all das tun, womit sie vorher nur Schiffbruch erlitten hätten.

Der Heilige Geist kommt nur zu denen, die dafür bereit sind. Warum? Weil die anderen das nicht ertragen könnten. Das beste Beispiel dafür ist die Ausnahme, von der ich vorhin sprach. Das war nämlich Paulus, und der war zu der Zeit ein schlimmer Feind und Verfolger der Christen. Als Jesus dem begegnet, da warf er ihn zu Boden, und er war drei Tage lang blind. Gerettet hat Paulus, dass er trotz allem ein ehrlicher Mann war, der wirklich glaubte, es wäre in Gottes Sinn, diese Jesusanhänger auszurotten. Das war ein schlimmer Irrtum, aber Paulus war in diesem Irrtum ehrlich. Und so überlebte er die Begegnung mit Jesus. Hätte er aus Eigennutz oder Machtwillen gehandelt, er hätte das nicht überstanden. Aber Gott will uns nicht zerstören und nicht überrennen.

Der Heilige Geist kann friedlich nur zu denen kommen, die ihm die Tür öffnen. «Die Welt«, sagt Jesus, »kann ihn nicht bekommen, weil sie ihn nicht sehen kann und nichts von ihm versteht.« Wer ist gemeint mit der »Welt«? Die Jünger sind doch schließlich auch ein Teil der Welt und nicht irgendwo anders. Im Originaltext steht da das Wort »Kosmos«, das ist das Wort, mit dem die Griechen die Grundordnung der Welt bezeichneten, das Weltsystem. Zu diesem Weltsystem gehörte damals das Römische Reich, das sich die Völker unterwarf und sich in Gestalt des Kaisers anbeten ließ. Dieses Weltsystem hat dann auch Jesus zum Tode gebracht. Zu diesem Weltsystem gehören aber genauso die Priester, die den Tempelbetrieb am Laufen halten und dabei gut verdienen, und genauso die persönlichen Dämonen, die ganz individuell Menschen zerstören. Jesus ist gekommen, um genau diese Weltsystem auf allen Ebenen anzugreifen. Er will uns retten vor den Zerstörungen, die es anrichtet. Inzwischen ist dieses gefräßige Weltsystem ja so weit, dass die Vernichtung der Erde und der ganzen Menschheit eine reale Möglichkeit ist.

Nur wer da nicht dazu gehört, wer sich da nicht einfügt, nur zu dem kann der Heilige Geist kommen. Wer stattdessen voll dabei ist und gar nicht versteht, was denn daran schlecht sein soll, der hat kein Gespür für den Heiligen Geist. Er wird ihn nicht verstehen, und sei er noch so intelligent.

In modernen Worten kann man sagen: es gibt zwei Voraussetzungen, um den Heiligen Geist zu empfangen:

  • Unabhängigkeit: du musst bereit sein, Dinge zu denken und zu sagen, die für viele Menschen ungewöhnlich, verrückt oder gefährlich aussehen. Du musst bereit sein, herauszutreten aus deinem persönlichen Weltsystem, es hinter dir zu lassen und einen neuen Weg zu beginnen.
  • Du musst die Schritte, die dir möglich sind, auch wirklich gehen. Nichts Übermenschliches wird von dir verlangt, aber die Spielräume, die du hast, sollst du mit ganzer Kraft ausnutzen.

Wir erleben ja heute hier in Europa eine Zeit, in der man nicht den Eindruck hat, dass der Heilige Geist so reichlich unter den Menschen wäre. Auch uns gilt die Ermutigung Jesu: Ich lebe! Und ihr werdet mein Leben teilen! Bleibt unabhängig, tut die Schritte, die möglich sind, und wartet darauf, dass ich komme!