Jesus geht

Predigt am 4. Februar 2001 zu Johannes 12,34-36

33 Jesus deutete an, welche Todesart er erleiden würde. 4 Die Menge wandte ein: »Das Gesetz sagt uns, dass der versprochene Retter für immer bleibt. Wie kannst du dann sagen, dass der Menschensohn erhöht werden muss? Wer ist überhaupt dieser Menschensohn?«
35 Jesus antwortete: »Das Licht wird noch kurze Zeit unter euch sein. Geht euren Weg, solange es hell ist, damit die Dunkelheit euch nicht überfällt! Wer im Dunkeln geht, weiß nicht, wohin der Weg führt. 36 Haltet euch an das Licht, solange ihr es habt! Dann werdet ihr Menschen, die ganz vom Licht erfüllt sind.« Nachdem Jesus das gesagt hatte, ging er fort und verbarg sich vor ihnen.

Jesus geht. Es gibt ein Zu-spät. Was ich eben vorgelesen habe, das sind die letzten öffentlichen Worte Jesu. Danach redet er nur noch zu seinen Jüngern.

Das Evangelium ist keine Wahrheit, die immer und überall zugänglich ist, so wie die Erkenntnis, dass eins und eins zwei ist. Es gibt Zeiten, da kann es gehört werden, und zu anderen Zeiten nicht. Es ist eher mit einer Liebeserklärung vergleichbar als mit einem Naturgesetz: wenn zwei Leute einander nahegekommen sind und sich angelächelt haben und den Eindruck haben, dass sie gegenseitig offen füreinander sind, dann muss immer noch einer etwas sagen oder irgendwie seinen Arm an den anderen ranbringen oder dem anderen ein Fädchen vom Pullover zupfen. Einem anspruchsvolleren Gegenüber muss man vielleicht Rosen schicken oder was dergleichen Gesten mehr sind. Und das kann man zu früh machen, wenn die Gegenseite noch gar nicht bereit dafür ist, man kann es aber auch zu spät machen. Wenn man zu lange wartet, dann geht die Tür wieder zu. Und im Nachhinein merkt man: jetzt hast du die Gelegenheit verpasst! Vorbei! Und manchmal sogar: endgültig vorbei. Die Gelegenheit kommt nicht wieder.

Die Begegnung mit Jesus funktioniert eher nach den Regeln einer Liebeserklärung als nach Adam Riese. Auch bei Jesus gibt es Zeiten, da ist die Tür offen – und es gibt Zeiten, da ist es zu spät. Menschen halten sich manchmal lange im Umfeld von Jesus auf, sie zeigen Interesse und sind beeindruckt – aber es kommt dann eben doch nicht dazu, dass sie sich zu einer dauerhaften Verbindung durchringen, für die sie die Verantwortung übernehmen und die sie schützen und behüten.

Bei den meisten Leuten zu Jesu Zeit war das ähnlich: sie hörten ihn, sie waren beeindruckt, aber irgendwie wollten sie sich nicht dazu durchringen, deutlich Ja zu ihm zu sagen. Sie staunten, aber sie glaubten nicht. Sie hatten immer wieder ein Wenn und Aber. So wie man sich ja auch eine Liebeserklärung mit vielen Wenns und Abers verderben kann, wenn man zu lange grübelt, ob er nun zu viele Pickel hat oder sie zu wenig Geld, und einem immer neue Gründe einfallen, weshalb man lieber noch einmal gründlich überlegen und abwarten sollte. Aber man kann nicht dauernd in so einem Schwebezustand bleiben. Dauerverlobungen funktionieren auf die Dauer nicht. Und beim Glauben ist das nicht anders.

Deshalb tut Jesus etwas, was er schon manchmal gemacht hat: er geht weg. Auch sonst ist er mit seinen Jüngern von einer Stadt zur andern gegangen, und die Leute hätten ihn eigentlich gern noch länger dabehalten, das war so bequem, ihn in greifbarer Nähe zu haben, aber Jesus läßt es nicht zu, dass sie sich in seiner Nähe einrichten, ohne sich zu entscheiden, und deshalb geht er, in die nächste Stadt, und wer will, darf mit ihm mitgehen, aber das heißt eben: er muss auch etwas investieren, es wird ihm nicht mundgerecht zubereitet, sondern er muss selbst etwas dafür tun, um bei Jesus zu bleiben.

Man kann sagen, dass das ein großer Unterschied ist zu unserem Ortsgemeindesystem, wo seit Jahrhunderten eine Kirche im Dorf ist und vielleicht auch weitere Jahrhunderte bleiben wird, wo jeden Sonntag Gottesdienst ist und jeder den Eindruck hat: es wird immer so sein, und diese Gelegenheit läuft mir nicht davon. Ja, aber man verpasst nichts so gründlich wie eine Gelegenheit, die man regelmäßig jede Woche wieder neu hat. Das über Jahrhunderte stabile Kirchengebäude täuscht uns darüber hinweg, dass es auch im Leben einer Ortsgemeinde Zeiten gibt, wo Jesus da ist und präsent und zugänglich ist, und Zeiten, in denen er weiterzieht und wo man ihn sucht und nicht findet. Luther hat in einem vielzitierten Wort davon gesprochen, dass das Evangelium ein »fahrender Platzregen« ist, also eine Gewitterwolke, die herankommt, kräftig runterpladdert, und dann wieder weiterzieht. Eine Gewitterwolke bleibt nicht tagelang auf einer Stelle, die entlädt sich sehr heftig, aber kurz. Und dann ist sie wieder weg. So ist Jesus begrenzte Zeit da, und dann zieht er weiter, und wenn wir bei ihm bleiben wollen, dann müssen wir mitgehen, sonst verlieren wir ihn. Nutzt die Zeit! sagt Jesus. Jede Gelegenheit ist in Wirklichkeit irgendwann vorbei.

Dieses Weiterziehen Jesu von einem Ort zum anderen kann man wahrscheinlich nicht so imitieren, dass man alle paar Monate seine Sachen packt und woanders hinzieht, aber das heißt für uns mindestens, dass sich unsere Art, als Gemeinde zusammenzusein, immer wieder ändern wird, und auch die Art, wie wir auf Menschen zugehen, wird sich verschieben, und es werden auch immer wieder Menschen uns verlassen und neue dazustoßen.

Jetzt nach dem letzten Gottesdienst, der im NDR übertragen wurde, haben wir ganz viele und begeisterte Anrufe und Briefe bekommen, wir wurden richtig überflutet von Freundlichkeit und Dank. Wir haben Buch geführt, und es kamen im Ganzen beinahe hundert Reaktionen bei uns an. Ganz viele wollten Kassetten haben oder die Predigt oder das Manuskript des Gottesdienstes. Wenn wir mehr Telefonleitungen frei gehabt hätten, wären es wahrscheinlich noch mehr gewesen. Es waren auch einige wenige negative Rückmeldungen dabei, so ungefähr vier glaube ich. Eine davon kam von einer Theologin, die zwar die Predigt gut fand, aber den ganzen Rahmen entsetzlich. Wenn man einen Gottesdienst nicht nach der Agende macht, geht die Kirche kaputt, fürchtete sie. Das Kyrie fehlte! »Allein Gott in der Höh sei Ehr« wurde nicht gesungen! Unmöglich das Ganze!

Aber es geht nicht um das Kyrie, es geht um Jesus. Vielleicht hat er ja mal das Kyrie benutzt, um Menschen zu erreichen, aber das ist nicht immer und ewig so. Jesus zieht weiter. Und wenn wir ihn immer nur dort suchen, wo er gestern war, dann finden wir ihn nicht. Wir müssen beweglich bleiben, damit wir dicht bei ihm sind, wenn er weiterzieht. Auch all die guten Sachen, die wir heute machen, und die offensichtlich Menschen wirklich begeistern, gerade Menschen, die Jesus lieben, auch das wird irgendwann einmal überholt sein, und dann sollen wir es klaglos zurücklassen und Jesus folgen dahin, wo er dann ist, zu den neuen Dingen und zu den Menschen, bei denen er dann ist. Wir können entweder unsere Vorstellungen und Traditionen festhalten oder Jesus. Eins geht nur. Ich für mein Teil hoffe, dass ich mich auch mit 80 oder 90 Jahren noch selbstverständlich für Jesus entscheiden werde. Man muss nämlich auch mit 80 nicht nur an der Vergangenheit orientiert sein. Unter den Leuten, die anriefen, war eine 80jährige Dame, die sagte: »wie schön, dass der Gottesdienst so ungewöhnlich und unkonventionell war. Das mag ich.«

Vielleicht kann man es so sagen: Tradition ist der lebendige Glaube derer, die jetzt tot sind. Das war der Punkt, wo sie Jesus getroffen haben, und sie haben damit gute Erfahrungen gemacht. Traditionalismus dagegen ist der tote Glaube derer, die noch leben. Sie suchen Jesus dort, wo er früher mal war und verpassen ihn gerade so. Denn Jesus zieht weiter, und wenn wir bei ihm bleiben wollen, müssen wir uns bewegen.

Und es kann durchaus sein, dass das nicht nur für einzelne Menschen und einzelne Gemeinden gilt, sondern für die Christenheit in einem ganzen Land oder einem ganzen Erdteil. Kann es sein, dass Jesus heute weggegangen ist aus Deutschland und Europa, weil von uns nicht nur die Reformation ausgegangen ist, sondern auch der moderne Materialismus und der Unglaube? Ob er sich vielleicht aufgemacht hat und nach Afrika gegangen ist, um zu zeigen, dass er etwas anfangen kann mit einem Kontinent, von dem alle glauben, dass der hoffnungslos rückständig, abgehängt und kaputt ist?

Auf der anderen Seite weiß ich, dass Gott auf ernsthafte Sehnsucht und Gebet antwortet. Und diese Reaktion, von der ich gerade erzählte, die zeigt ja auch, was für eine Sehnsucht im Volk Gottes auch in Deutschland vorhanden ist, eine Sehnsucht nach authentischer Begegnung mit Gott. Wenn schon unsere Versuche hier, die doch nun so großartig auch wieder nicht sind, schon so eine Reaktion hervorrufen, was muss da im Verborgenen für ein Verlangen sein, ein Suchen nach Formen, die besser geeignet sind, um Gott zu begegnen. Und zwar bei Kirchenleuten und Kirchenfernen. Und wenn Jesus merkt, dass dies Verlangen dauerhaft ist, echt und nicht nur eine Laune, dann wird er neu zu uns kommen, davon bin ich überzeugt. Aber wir müssen bereit sein, aufzubrechen und mit ihm zu gehen und den Preis dafür zu bezahlen.

Als Jesus damals endgültig aufhörte, öffentlich zu reden und sich vor den Leuten verbarg, da lag es daran, dass sie nicht hören wollten, dass er sterben würde. Sie stellten sich einen Messias vor, der ihnen ein Leben in Glück und Wohlstand schenkte, und in der Tat will Gott, dass es uns gut geht. Er will nicht unser Leid. Aber der Weg Jesu bedeutet: sich einlassen auf die Not und die Schmerzen der Welt. Sein Weg bedeutet: Bereitschaft zum Arbeiten, kein Selbstmitleid, kein Kreisen um die eigene Befindlichkeit, sondern die Befreiung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes! sagt Jesus. Für euch und eure Bedürfnisse sorgt dann Gott. Ihr werdet nicht zu kurz kommen.

Und er hat das selbst vorgemacht. Er ist gestorben am Unfrieden und an der Zerrissenheit der kranken Welt. Bei Johannes ist das Spezialwort für die Kreuzigung Jesu »Erhöhung«. Das ist ein doppeldeutiges Wort. Es bedeutet einmal, dass Jesus hoch ans Kreuz genagelt wird. Und es bedeutet gleichzeitig, dass er gerade so den bösen Herrscher dieser Welt besiegt. Er hat all das Böse nicht weggezaubert, sondern er hat es auf sich genommen und weggetragen. Anstatt zu klagen oder anzuklagen hat er die Verantwortung für die Lösung des Problems übernommen.

So hatten sich die Leute das nicht vorgestellt. Sie wollten einen Messias, der es ihnen bequemer machte. Der nicht in die Finsternis dieser Welt hineinging und es auch von ihnen nicht erwarten würde. Einen, der ihnen die Erlösung mundgerecht und angenehm servierte. Der ihnen das Problem einfach wegnahm, anstatt von ihnen zu verlangen, ihm nachzufolgen, mit ihm mitzugehen.

Liebe Freunde, auch für uns ist es so wichtig, diesen Entschluss zu fassen, auf jeden Fall bei Jesus zu bleiben, egal, was es kostet. Ich habe so viele Menschen erlebt, für die dieses Fenster eine Zeitlang offen stand, aber sie haben es nicht wirklich genutzt, und dann haben sie langsam, Stück für Stück, Jesus wieder aus den Augen verloren. Sie haben nicht die Zeit genutzt, in der sein Licht ihnen schien. Und ich habe manchmal daneben gestanden und es gesehen und nicht gewusst, was ich ihnen sagen sollte. Vielleicht lag es an mir, vielleicht ging es wirklich nicht.

Die wirkliche Entscheidung fällt dann, wenn Jesus weitergeht, seinen Weg durch die Welt weitergeht und uns einlädt, mitzukommen. Wir müssen dann Liebgewordenes hinter uns lassen, wir müssen Dinge aufgeben, die uns ans Herz gewachsen sind, wir müssen uns trennen von Selbstmitleid und Klagen und Oberflächlichkeit. Wir müssen uns entscheiden für ein verantwortliches Leben. Es gibt viel und alles dabei zu gewinnen, aber zuerst sehen wir da natürlich immer, was wir aufgeben müssen.

»Geht euren Weg, solange es hell ist, damit die Dunkelheit euch nicht überfällt!« sagt Jesus. »Wer im Dunkeln geht, weiß nicht, wohin der Weg führt.«