Der König des Umweges

Predigt am 13. April 2003 zu Johannes 12,12-19

12 Am nächsten Tag hörte die große Menge, die zum Passafest gekommen war, Jesus sei auf dem Weg nach Jerusalem. 13 Da nahmen sie Palmzweige, zogen ihm entgegen vor die Stadt und riefen laut: »Gepriesen sei Gott! Heil dem, der in seinem Auftrag kommt! Heil dem König Israels!«
14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, so wie es schon in den Heiligen Schriften heißt:
15 »Fürchte dich nicht, du Zionsstadt!
Sieh, dein König kommt!
Er reitet auf einem jungen Esel.«
16 Damals verstanden seine Jünger dies alles noch nicht; aber als Jesus in Gottes Herrlichkeit aufgenommen war, wurde ihnen bewusst, dass dieses Schriftwort sich auf ihn bezog und dass die Volksmenge ihn dementsprechend empfangen hatte.
17 Als Jesus Lazarus aus dem Grab gerufen und vom Tod auferweckt hatte, waren viele dabeigewesen und hatten es als Zeugen weitererzählt. 18 Aus diesem Grund kam ihm jetzt eine so große Menschenmenge entgegen. Sie alle hatten von dem Wunder gehört, das er vollbracht hatte.
19 Die Pharisäer aber sagten zueinander: »Da seht ihr doch, dass wir so nicht weiterkommen! Alle Welt läuft ihm nach!«

Als Jesus auferstanden war, und als sich bei den Jüngern die erste Aufregung und die erste Freude etwas gelegt hatte, da gingen sie im Licht dieses Ereignisses noch einmal ihre Erinnerungen an Jesus durch. Und als sie an diesen Tag dachten, wo Jesus von so vielen Menschen in Jerusalem begrüßt worden war, da machte es bei Ihnen im nachhinein Klick. Und sie sagten: »Genau! Damals haben die Leute ganz richtig gesehen, was mit Jesus los ist. ‚König von Israel‘ haben sie ihn genannt. Irgendwie haben sie an ihm schon die Herrlichkeit gesehen, die er jetzt nach seiner Auferstehung hat. Ja, sie haben an ihm schon richtig erkannt, was noch kommen würde. Aber sie haben nicht gewusst, dass er dafür erst sterben musste.«

Der Weg Jesu in dieser Woche, als er in Jerusalem war, der sieht eigentlich nach einem Umweg aus. Am Anfang der Jubel der Menschen, am Ende die Auferstehung, aber dazwischen der Karfreitag, wo Jesus getötet wurde, runtergedrückt wurde – ganz nach unten, auf den elendesten Platz, den es unter Menschen überhaupt gibt. Verlassen von allen Menschen.

Warum muss das so sein? Warum kann Jesus nicht auf dieser Woge der Popularität einfach weiterschwimmen, warum muss er erst diesen schrecklichen Umweg gehen?

Offensichtlich war das sein Weg. Verstanden haben das die Leute damals nicht, und auch seine Jünger bekamen das erst im Rückblick zusammen. Sie alle konnten sich damals nur vorstellen, dass Jesus eben auf dieser Woge der Popularität schwimmt und dann irgendwie die Macht in Jerusalem übernimmt. Und sie freuten sich und dachten: »Jetzt kommen bessere Zeiten!« Aber auch, wenn Jesus dann bestimmt ein guter, gerechter und weiser Herrscher geworden wäre, es wäre nicht die Art von Herrschaft gewesen, zu der er berufen war. Er sollte ja ein König neuer Art sein, dessen Reich nicht nach den Regeln funktioniert, nach denen sonst Macht ausgeübt wird.

Wer am letzten Sonntag hier war, der hat gehört, dass unter den Jüngern Jesu Leitung auf eine neue Art ausgeübt werden soll. Und das kann ja nur dann so sein, wenn auch Jesus auf andere Art herrscht, als das sonst in der Welt geschieht.

Aber was für eine Art ist das? Jesus gibt uns einen Hinweis, indem er sich einen Esel schnappt und darauf reitet. Jesus ist sonst immer zu Fuß gegangen. Aber hier wollte er anknüpfen an die Verheißung aus dem Buch Sacharja, wo von dem Friedenskönig die Rede ist, der nicht auf einem Schlachtross reitet, sondern auf einem Esel, und der die Kriegsbogen und Kriegswagen zerstört und endgültig aus dem Verkehr zieht. Kriegswagen waren damals die gefährlichsten Produkte der Rüstungstechnologie. Man muss nur die entsprechenden heutigen Geräte einsetzen, um zu verstehen, was das bedeutet: »Schwerter werden zu Pflugscharen«.

Jesus gab den Leuten damals, und er gibt uns den Hinweis: »ich knüpfe bewusst an an die Tradition des Friedenskönigs, von dem Sacharja spricht.« Damit wird Jesus zu einem verletzlichen König, der dem Leben ohne Schutz begegnet. Die Könige sonst liefen bei offiziellen Anlässen oft mit Rüstung herum, sie hatten ihre Bodyguards, und bis heute werden die Herrscher abgeschirmt gegen die Unbequemlichkeiten und Schmerzen des normalen Lebens. Das bedeutet nicht, dass sie deswegen auch glücklicher wären. Aber viele Mühen, mit denen sich normale Menschen täglich abplagen, bleiben ihnen erspart. Und wenn dann die zuständigen Leute beispielsweise über die Kürzung von Arbeitslosenhilfe nachdenken, dann ist da wahrscheinlich keiner dabei, der aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist, wenn man mit diesem Geld auskommen muss. Und wahrscheinlich kennt da auch niemand einen, der in dieser Lage ist.

Jesus dagegen hat sich nichts erspart. Er kannte auch die Schattenseiten des Lebens aus eigener Erfahrung. Und das Kreuz lag noch vor ihm. Und nur weil Jesus diesen Kontakt zum ganzen Leben hatte, deshalb kann er auch die Menschen in ihrem ganzen Leben erreichen. Die Menschen haben gespürt, dass er ihnen ganz nahe war. Er hat keinen Bereich der Wirklichkeit umgangen, nichts war ihm zu schlimm, er vertraute der Kraft Gottes für das ganze Leben und die ganze Welt.

Die Menschen sind ja eigentlich gar nicht so unzufrieden, wenn ein Herrscher sich auf die Kommandohöhen beschränkt und sie in ihrem Alltag in Ruhe lässt. Nur die ganz schlimmen Diktatoren mischen sich auch noch in den Alltag der Menschen ein. Dann muss man vor Standbildern des Herrschers den Hut ziehen, wenn man dran vorbeikommt, und zu Hitlers Zeiten konnte man Ärger bekommen, wenn man »Guten Morgen« sagte statt »Heil Hitler«. Insofern ist ein König, der weit weg ist von den Menschen, gar nicht so schlecht.

Aber im Grunde sehnen sich die Menschen doch nach jemandem, der sie ganz versteht und die Heilung und die Hilfe Gottes in ihr ganzes Leben bringt, auch in die dunklen und geheimen Zonen, die in Wirklichkeit doch die stärksten und entscheidenden Bereiche sind. Gerade das, worüber wir nicht so oft nachdenken und noch viel weniger sprechen, genau das ist es oft, was den Rest des Lebens kontrolliert oder mindestens überschattet. Zu wenig Geld oder zu viel Alkohol, zu wenig Gesundheit oder zu viel Fernsehen, zu wenig Kommunikation oder zu viel Essen, das sind solche Problemzonen, die in unseren Gedanken und Gesprächen gar nicht oft auftauchen und die trotzdem die strategischen Punkte sind, an denen sich entscheidet, ob unser Leben gelingt oder ob das Unglück an uns klebt. Und dahinter liegen noch mehr Bereiche, in die wir auch selbst nur sehr selten einen Einblick haben.

Dass Jesus der König ist, der König des ganzen Lebens, das bedeutet, dass er auch in diesen Problemzonen seine heilsame Wirkung entfaltet. Er kann das, weil er sie nicht von oben verwaltet, sondern am eigenen Leibe erlebt hat. Mit ihm kommt die Kraft der Liebe Gottes, dessen Herz am Glück seiner Menschen hängt. Deswegen will er ja ganze Menschen erlösen. Es liegt ihm nicht viel an dem Schild über unserem Leben, egal, welche Aufschrift darauf zu lesen ist, es geht ihm darum, dass wir in der Substanz unseres Lebens von ihm berührt werden. Aber dafür musste er den Preis bezahlen, weil das nicht aus der Entfernung geht.

Die Menschen von Jerusalem haben es Jesus zugetraut, dass er der richtige König wäre. Aber ihnen war nicht klar, was das bedeutet. Schon Tage später, als Jesus gefangen genommen und gekreuzigt wurde und ganz allein dastand, da zeigte sich, dass sie ihn missverstanden hatten. Sie hatten sich seinen Weg anders vorgestellt. So konsequent auf die Kraft Gottes vertrauen, alles von Gott erwarten und auf seinen Willen achten, keine Abkürzungen gehen, keine anderen Wege, das passte nicht zu ihrer Sicht des Lebens. Es ist aus unserer Sicht ein großes Wagnis, wenn man sich so radikal von Gott abhängig macht. In Wirklichkeit und vom Ende her betrachtet ist es das Beste und Sicherste, was man tun kann. Aber wenn man davor steht, dann ist die andere, sichtbare Wirklichkeit viel größer und beeindruckender. Und man kann sich nur mit Mühe vorstellen, dass es auch anders geht, und dass man aus Gottes Wirklichkeit leben kann.

Nur manchmal, da ist uns das ganz klar, da leuchtet Jesus uns ein, so wie an diesem Morgen in Jerusalem die Menschen für einen Augenblick völlig überzeugt waren, dass es auf Jesus ankommt und dass er der wirkliche König ist. Manchmal haben wir solche Momente der Klarheit, und dann wissen wir: er ist auf erstanden und hat den Tod widerlegt, diesen schrecklichsten aller Zwänge – was sollte Jesus unmöglich sein? Aber diese überwältigende Einsicht geht auch wieder vorbei, wir vergessen es wieder, und dann fängt uns die andere Wirklichkeit wieder ein.

Deshalb gibt es von Gott aus diese ganzen Hilfsmittel, die uns immer wieder daran erinnern sollen, dass Jesus der König ist: der Gottesdienst und die Sakramente etwa. Aber die können natürlich auch zu solchen Schildern verkommen, die über einem Leben zu lesen sind, aber in der Alltagswirklichkeit läuft es nach ganz anderen Regeln.

Deswegen brauchen wir auch im Alltag solche Erinnerungszeichen, die uns immer wieder sagen: du stehst unter einem höheren Befehl, dein Chef ist ganz oben, und vergiss nicht, wer du bist! Die großen Momente der Klarheit haben ein Fundament aus einem Leben, in dem Tag für Tag immer wieder nach dem Willen Gottes gefragt und auf ihn vertraut wird. Wie kann man möglichst viele Lebenssituationen mit Gott in Verbindung bringen? Das hat auch mit Gewohnheiten zu tun. Man kann sich daran gewöhnen, an einer roten Ampel für die anderen zu beten, die da auch warten, man kann sie segnen und bekommt dann gleich eine andere Einstellung zu denen, an denen man sonst nur ihre Blechmaske sieht.

Andere haben sich vorgenommen, ganz besonders auf den ersten Menschen zu achten, den Gott ihnen an einem Tag über den Weg schickt, und ihn auch so zu behandeln, wie Gott das möchte. Dann haben sie jedenfalls mit Einem angefangen, und vielleicht färbt das ja auch ein bisschen ab auf die anderen.

Oder ich habe von einer Lehrerin gehört, die sich jeweils beim Pausenklingeln kurz an Gott erinnert, für ihre Arbeit und ihre Schüler betet und sich wieder zurückholt in das Wissen, dass Jesus der König auch dort in ihrer Klasse ist. Ich vermute, die Kinder finden es gut, dass sie pünktlich die Stunde beendet. Aber wichtiger ist wahrscheinlich, dass ihre Lehrerin sich immer wieder von Gott her diesen Blick auf die Kinder schenken lässt.

Solche Zeichen und Situationen sollen uns helfen, auszubrechen aus der Logik der Welt, in die wir immer wieder zurückfallen, und uns wieder neu verankern in der Logik Gottes, der immer noch andere Möglichkeiten hat. Dieses neue Denken und Sein von Gott her ist die Kraft, mit der Jesus auch die finstersten Situationen verwandelt hat. Es beginnt innen, im Kopf und im Herzen, nach einiger Zeit übrigens auch im Bauch, aber es will da raus und die Welt gestalten. Andere Könige haben ihre Leibwache und ihre Beamten. Jesus hat diese neue Art, von Gott her zu denken, von ihm her die Welt zu sehen, von ihm her zu sein und zu leben. Das ist seine Weise der Herrschaft. Das ist seine Art, die Welt zu gestalten. Die Menschen in Jerusalem sahen die Ergebnisse und jubelten darüber, aber sie konnten nicht glauben, dass das reicht. Seine Jünger ja auch nicht.

Aber es stimmt. Mit diesem Anschluss an die Wirklichkeit Gottes bricht Jesus die Betonmauern der Welt auf. Das ist gemeint mit dem Satz »Jesus Christus herrscht als König«. Und wir sollen dafür sorgen, dass uns immer wieder klar wird, zu wem wir gehören und in wessen Namen wir kommen, wohin wir auch gehen. Wir stehen unter höherem Befehl, das macht uns frei, und wir sollen uns daran erinnern.