Das volle Leben

Predigt am 23. Oktober 2005 (Goldene Konfirmation) mit Johannes 10,10b

Jesus Christus spricht:
Ich bin gekommen, um ihnen das Leben zu geben, Leben im Überfluss.

Jesus will Leben verbreiten. Das ist das Ziel seiner Mission. Wenn ihn einer fragt: »warum machst du das alles, warum kommst du zu den Menschen auf die Erde, wirst im dreckigen Stall von Bethlehem geboren und stirbst am Ende am Kreuz?«, dann sagt er: ich tue das, damit sie dort wissen, was Leben ist, und damit sie dieses Leben auch bekommen. Nicht nur ein bisschen, sondern im Überfluss, ohne dass man es ängstlich rationieren und sparen müsste. Leben, ein volles Maß an Leben. Darum geht es.

Damals, 1954, 1955 und 1956, als Sie konfirmiert wurden, da hatte nach dem Krieg das Leben schon wieder begonnen. Die Zeit, in der viele wenig und manche gar nichts mehr hatten, war schon wieder ein bisschen vorbei. Das Kriegsende lag schon ein Jahrzehnt zurück, und allmählich waren die Jahre der größten Knappheit vorüber. Das Wirtschaftswunder hatte begonnen; manche Familie, die nur mit einem Koffer hier in den Westen gekommen war, baute sich jetzt wieder ein Haus, und man schaute nach vorn: es konnte eigentlich nur noch besser werden. Ich bin gespannt darauf, vielleicht im Laufe dieses Tages zu hören, wie das damals gewesen ist: erwachsen zu werden mit dem Bewusstsein, dass es jetzt, wenn man sich nicht vor Arbeit scheut, eigentlich nur besser werden kann, dass die schlimmsten Jahre hinter einem liegen.

Ich entsinne mich auch, wie ich als kleiner Junge damals bei uns zu Hause die älteren Jugendlichen erlebt habe – das müssen ungefähr Ihre Jahrgänge gewesen sein. Wie wir als Kinder damals zugeschaut haben, als die sich in der Nähe eines Neubaugebietes in einer Sandkuhle getroffen haben und Musik gehört haben – wie die das wohl damals technisch hingekriegt haben? Ein bisschen merkwürdig, ein bisschen unheimlich, ein bisschen laut, aber – daran erinnere ich mich noch genau – die Jungen in Anzügen! Ich glaube, die »Halbstarken« hießen die damals. Ich weiß ja nicht, wie das hier in Ilsede war, aber im Rückblick kommt mir das vor wie ein großer Wunsch nach Aufbruch, nach Leben, raus aus den Wohnzimmern und hin an einen Ort, wo das ohne Aufsicht möglich war. Der Enge entkommen, nach vorne schauen, unter sich sein, vorsichtig ein unbeschwerteres Leben ausprobieren.

Jede Generation sucht sich dafür wieder ihre eigenen Wege, aber dieser Wunsch nach Leben, nach unverkürztem Leben, das man nicht sparsam aufteilen muss, der zieht sich durch, und gerade in diesen Lebensjahren nach der Konfirmation, da meldet er sich, glaube ich, ganz besonders heftig. Das ist uns angeboren, so als ob wir uns dunkel an eine verheißungsvolle Einladung erinnern würden: du sollst Leben im Überfluss haben, als ob unser Leben mit so einem Versprechen begonnen hätte, das noch nicht eingelöst ist.

Was meldet sich da? Unser Ursprung im Paradies. Die Menschheit wurzelt nicht wirklich in dieser Erde voller Mühsal und voller Schrecken, sondern in uns allen lebt noch die Erinnerung, dass wir ursprünglich aus dem Paradies stammen, und deshalb kommen wir uns manchmal hier vor wie im falschen Film. Deshalb tun wir so vieles, was uns vielleicht dahin zurückbringen könnte, was uns das Leben näher bringen könnte, das es eigentlich geben muss. Sehnsucht ist das Geheimnis der menschlichen Seele, und in manchen Phasen des Lebens spüren wir sie sehr deutlich – in anderen Zeiten tritt sie mehr in den Hintergrund, wenn wir völlig damit beschäftigt sind, das Leben zu organisieren und unsere Rechnungen zu bezahlen.

Selbst unsere Schwierigkeiten und die Dinge, die uns das Herz brechen, auch sie erzählen etwas von unserer wahren Bestimmung. Sie haben lange genug am Leben teilgenommen, um von den Tragödien zu wissen, die uns ins Mark treffen und den Aufschrei provozieren: »So sollte das Leben nicht sein!«.

Nein, so sollte es nicht sein. Nicht mit so viel Enttäuschungen, Abschieden und Schmerzen, die man bei sich selbst oder bei anderen erlebt. Nein, wir werden uns da hoffentlich nie dran gewöhnen, und ursprünglich war es mal anders gemeint. Was ist nur in dieser Welt passiert, dass immer wieder etwas unsere Pläne durchkreuzt, dass wir unser Herz der Freude öffnen und stattdessen Kummer einkehrt?

Immer wieder bauen sich Menschen ein kleines Glück auf und hoffen, dass es nicht von irgendeinem Hurrican überflutet und weggespült wird. Aber irgendwann auf dem Weg haben die meisten die Reise zum großen Glück aufgegeben, die Hoffnungen und Träume ihrer wilden Jahre hinter sich gelassen oder sie auf ein kleineres Maß zurückgeschnitten. Und manchmal wächst auch der Groll, weil es so viele andere gibt, die mitziehen müssten, wenn unsere Hoffnungen sich erfüllen sollen, aber die anderen tun es nicht und enttäuschen uns.

Vielleicht überrascht es Sie, aber der christliche Glaube ist keine Anleitung dazu, wie man die wilden Träume auf eine gemäßigte und ungefährliche Größe reduziert. Jesus redet ausführlich von dem Leben in Fülle, Leben im Überfluss. Statt unsere Erwartungen zu reduzieren, bestätigt Jesus sie und weckt sie neu. Er bestärkt uns, von dieser Erde viel zu erwarten, auch auf die Gefahr hin, dass wir die Schmerzen der Enttäuschung erleben.

Aber es ist ja richtig, dass diese Welt hier mit einem großen Versprechen verbunden ist, und Jesus ist gekommen, um dieses Versprechen aufrechtzuerhalten. Er erinnert uns daran, dass wir Teil einer viel größeren Geschichte sind, die weit über unseren alltäglichen Horizont hinausgeht: Gott lässt nicht zu, dass diese Erde ihre Perspektive auf das Paradies hin verliert. Die Menschheit hat im Paradies begonnen, und am Ende wird die neue Welt Gottes stehen, in der die Enttäuschungen, das Leid und auch der Tod Vergangenheit sind. Da werden wir das Leben leben, für das wir bestimmt sind – wenn wir nur nicht unterwegs die Hoffnung so gründlich aufgegeben haben, dass wir nicht mehr dahin zurückfinden.

Es wird wieder so sein wie am Anfang, dass unsere Beziehungen untereinander nicht von Misstrauen oder Ausbeutung geprägt sind. Es wird wieder so sein, dass die Arbeit uns Freude und Erfüllung bringt, dass wir so am Werk des Schöpfers teilnehmen und nicht immer wieder mit Mühsal und Vergeblichkeit Bekanntschaft machen. Und dieses Leben wird durchleuchtet und erfüllt sein von der Herrlichkeit Gottes – eine Ausstrahlung der Freude und des Glanzes, gegenüber der uns unsere besten Augenblicke auf der jetzigen Erde blass vorkommen werden.

Wenn wir uns an die besten Augenblicke des Lebens auf dieser Erde erinnern, Momente der Freude, der Begegnung und des Gelingens, die uns ja zum Glück auch hier immer wieder begegnen – solche Momente sind ein schwacher Hinweis auf die Art von Leben, das die neue Erde prägen wird. Verschwenderisch hat Gott schon diese Erde ausgestattet, und in der Frische eines klaren Morgens riechen wir schon etwas von der Herrlichkeit der neuen Schöpfung, die auf uns wartet. Jede Blume ist schon jetzt aufwändiger gestaltet als die feinste Stickerei, die wir kennen. Aber eines Tages wird es nichts Hässliches und nichts Banales mehr geben, keine Zerstörung, keine Verschmutzung und Vergiftung, und alles, was unser Herz hier erfreut und getröstet hat, das hat auch dort seinen Platz in der neuen Welt.

Diese Erde wird erneuert, und nichts von dem, was wir hier an wirklich großen und schönen Dingen erlebt und getan haben, wird verloren sein. Und wo Jesus präsent ist, da fängt diese Erneuerung unter uns schon an. Das war es, was die Menschen zu ihm hingezogen hat: dass sie bei ihm den Wind der Erneuerung spürten, die Zuversicht, dass wir uns unsere Hoffnungen nicht verbieten oder verkleinern müssen. Nicht zu groß sind unsere Hoffnungen und Träume, sondern eher zu klein, zu sehr reduziert auf das, was wir für möglich halten. Jeder, der die Augen aufschlägt in der neuen Welt Gottes, dessen Erwartungen werden weit übertroffen werden. Wir werden verstehen, wie alles gemeint ist, und wir werden den ganzen Zusammenhang sehen, das ganze Muster, von dem wir bisher immer nur kleine Ausschnitte überblickt haben.

Wir werden zurückschauen und all die Dinge verstehen, die wir jetzt noch nicht verstehen, all das, was uns bis jetzt das Herz schwer gemacht hat, und wir werden zu Gott sagen: also darum hast du das so eingerichtet! Dazu war dieser Schmerz da, aus diesem Grund hast du mich damals gestoppt, davor hast du mich also bewahrt durch jene Enttäuschung! Und wir werden so froh sein über jeden Augenblick, wo wir hier daran festgehalten haben, das Richtige zu tun, nicht aufzugeben, sondern auf die Stimme zu hören, die uns immer wieder daran erinnert hat, was gut ist und richtig, gerecht und heilvoll. Wir werden froh sein, dass wir die Schmerzen nicht um jeden Preis vermieden haben, dass wir nicht mit den Wölfen geheult haben und dem treu geblieben sind, was als richtig und ehrenhaft gilt unter Menschen. Wir werden sehen, dass es richtig war, an den Träumen vom vollen Leben festzuhalten und nicht irgendwo auf halber Strecke aufzugeben und mit einem billigen Imitat zufrieden zu sein.

Jesus hat hier unter uns gelebt, um uns zu zeigen, welche Art von Leben Zukunft hat. Welches Leben mit dabei sein wird in der endgültigen Erneuerung, wenn die Tränen abgewischt werden und ein neuer Himmel und eine neue Erde die Erinnerung an die Schmerzen der alten zum Verschwinden bringen. Und immer wieder leuchtet bei ihm schon jetzt etwas auf von der Erneuerung, die in ihrer Fülle noch auf uns wartet. Da werden Wunden geheilt, da geschieht Menschen Gerechtigkeit, und da wächst eine befreite Gemeinschaft unter den Menschen, die mancher nicht für möglich halten würde.

Und in all dem bleibt die Sehnsucht nach der ganzen Erfüllung lebendig, die Hoffnung auf die endgültige Freude, die wir hier immer nur vorläufig und für kurze Zeit kosten dürfen. Unser himmlischer Vater hat uns nie das Schlaraffenland versprochen, aber überraschende Freuden und wunderbare Aussichten auf unserem Weg, mit denen beschenkt er uns immer wieder. Wir müssen das verstehen, damit wir weder die Hoffnung aufgeben, noch all das Gute dieser Erde durch Bitterkeit oder Maßlosigkeit verderben. Ein köstliches Glas Wein gibt es öfter, als wir denken – die ganze Flasche ist eine andere Sache. Noch ist sie es.

Konfirmandenunterricht soll – von Ihrer Zeit bis heute – eine Anleitung sein, wie wir mit unserem Herzen Zugang finden können zu der Lebendigkeit Gottes, die in Jesus auch ganz äußerlich unter den Menschen sichtbar geworden ist. Manchmal gelingt das besser, und manchmal weniger gut. Aber Menschen sollen lernen, dass dieses Leben in seiner Begrenztheit noch nicht alles ist, dass uns da jemand ins volle, größere Leben ruft, von Anfang an: Gott, der die Liebesgeschichte mit uns begonnen hat und auf unsere Antwort wartet. Und an unserer Antwort entscheidet sich, ob unser Leben seine volle Qualität erreichen wird, oder ob wir weit darunter bleiben; ob wir die Menschen werden, die Gott im Sinn hatte, als er uns schuf, und ob unser Leben auf dieser Erde am Ende bestehen bleiben und erneuert wird.