Jesus trug unsere Krankheit

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 23. März 2003 zum Isenheimer Altar

Der Gottesdienst war ein Segnungsgottesdienst für Kranke und Gesunde. Die Gottesdienstbesucher konnten sich an mehreren Stationen in der Kirche segnen oder salben lassen, und sie konnten um Gebet für eine spezielle Situation – auch z.B. Krankheiten – bitten. Sie konnten auch als Zeichen für ein Gebet eine Kerze anzünden oder eine persönliche Spruchkarte bekommen. Zur Predigt wurden Bilder vom Isenheimer Altar von Matthias Grünewald gezeigt.

Im Museum von Colmar kann man eines der berühmtesten Werke der spätmittelalterlichen Malerei sehen: den »Isenheimer Altar« von Matthias Grünewald.

Im Zentrum des Altars steht eine Darstellung der Kreuzigung Jesu. Beeindruckten ist nicht nur die übermenschliche Größe der dargestellten Personen, beeindruckend ist vor allem die Darstellung des schrecklichen Leidens Jesu. Auf dem Bild darunter auf dem Altarunterteil sieht man die Grablegung Jesu, links ist der Heilige Sebastian dargestellt, ein Märtyrer, rechts der Heilige Antonius, de Schutzpatron der Kranken und des Antoniterordens.

Das Bild stammt ursprünglich aus dem Kloster der Antoniter in Isenheim im Elsass und ist zwischen 1512 und 1516 entstanden.

Im Zentrum des Bildes steht die Kreuzigung Jesu. Je genauer man hinschaut, umso deutlicher sieht man, wie brutal realistisch Grünewald die Qualen Jesu dargestellt hat. Die festgenagelten Hände recken sich grausam verkrampft zum Himmel. Der ganze Körper ist mit Wunden von der Geißelung übersät. Dornen von der Dornenkrone stecken in Armen und Körper. Der geschundene Körper beginnt schon abzusterben. Der Kopf mit dem schrecklichen Dorngestrüpp ist nach vorn gesunken, der Mund ist wie im Stöhnen erstarrt. Über der Szene liegt Dunkelheit. Der Himmel ist schwarz

Links vom Kreuz kniet Maria Magdalena. Neben ihr, ganz in weiß, Maria, die Mutter Jesu. Sie wird vom Lieblingsjünger Johannes gestützt. Rechts neben dem Kreuz steht Johannes der Täufer. Historisch gesehen ist das nicht korrekt, weil Johannes damals schon nicht mehr lebte. Aber dem Maler geht es nicht um eine historische Darstellung, sondern er möchte den Menschen deutlich machen, was da auf Golgatha wirklich passiert. Und Johannes der Täufer weist mit einem riesigen Zeigefinger auf Jesus, so als als ob er jedem deutlich machen will: hier, auf den kommt es an! Er hat ein Buch in der Hand, wahrscheinlich das Alte Testament, und das soll ausdrücken: das ganze Alte Testament läuft auf Jesus zu, auf diesen Moment seines Todes. Das ist das Ziel und das Geheimnis der langen Geschichte Gottes mit den Menschen. Jetzt kommt – wie wir es vorhin in der Lesung (Galater 3,6-9.14) gehört haben – der Segen Abrahams durch Jesus zu den Völkern.

Links neben Johannes sieht man ein Lamm, eine Erinnerung daran, dass Johannes ja einmal von Jesus gesagt hat: das ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt.

Es ist nun wichtig zu wissen, dass der Antoniter-Orden den besonderen Auftrag hatte, sich um Kranke zu kümmern. Er entstand am Ende des 11. Jahrhunderts. Damals wurden weite Landstriche Westeuropas von einer Krankheit heimgesucht, die man wegen der heftigen brennenden Schmerzen, die sie verursachte, das »Heilige Feuer« nannte. Daran war aber nichts heilig, sondern es war eine schreckliche, schmerzhafte Krankheit. Heute weiß man, dass es sich um eine Vergiftung durch Mutterkorn handelt. Ein Chronist aus dieser Zeit berichtet: »1089 war ein Seuchenjahr, besonders im westlichen Teil Lothringens, wo viele, deren Inneres das Heilige Feuer verzehrte, an ihren zerfressenen Gliedern verfaulten, die schwarz wie Kohle wurden. Sie starben entweder elendig, oder sie setzten ein noch elenderes Leben fort, nachdem die verfaulten Hände und Füße abgetrennt waren. Viele aber wurden von nervösen Krämpfen gequält.«

Die gepeinigten Menschen nahmen damals Zuflucht bei den bekannten Heiligen, darunter auch dem Heiligen Antonius. Seine Gebeine lagen angeblich in der Kirche eines kleinen Dorfes in der Nähe von Grenoble. Als dort immer mehr gesunde und kranke Pilger erschienen, um Bewahrung vor dem heiligen Feuer oder Heilung zu erbitten, bildete sich eine Laienbruderschaft zur Betreuung der Pilger. Das war zuerst eine Gruppe von etwa 10 Menschen. Damit hat alles angefangen. Aber sie wurden bald mehr. Sie bauten schließlich ein eigenes Krankenhaus, ein Spital. Es dauerte nicht lange, da wurde ihnen auch in anderen Orten die Betreuung der Kranken übertragen. Bald war der Orten für seine therapeutischen Leistungen berühmt.

Eines der Klöster des Antoniterordens war Isenheim. Vor den Altar in der Klosterkirche wurden die Kranken geführt, wenn sie im Spital aufgenommen wurden. Der Eindruck muss gewaltig gewesen sein. Und wenn die Kranken genauer hinsahen, dann sahen sie die zerschundene, mit Wunden übersäte Haut des gekreuzigten Jesus.

Grünewald hat sie so gemalt, dass sie genauso aussah, wie die Wunden und Geschwüre der Menschen, die an dem Heiligen Feuer litten. Wir wissen das, weil Grünewald an einer anderen Stelle des Altars einen an dem Heiligen Feuer erkranken Menschen gemalt hat.

Hier sieht man, wie der ganze Körper des Kranker von Geschwüre bedeckt ist, und sie gleichen den Wunden auf dem Leib des gekreuzigten Jesus.

Wenn also die Kranken vor diesem Bild standen, dann sahen sie einen Jesus, der die gleichen schrecklichen Schmerzen erlitt, die sie auch so gut kannten. Sie verstanden: der weiß, wie das ist, wenn der Körper nur noch eine einzige Wunde ist, wenn die Glieder einem bei lebendigen Leibe absterben, der kennt diese Schmerzen, bei denen man nur noch schreien kann.

Grünewald ist es gelungen, im Gesicht des gekreuzigten Jesus die ganze Qual dieser Situation zu zeigen. „Ja,“ konnten die Kranken sagen, „genauso geht es mir. Genau das fühle ich. Genauso möchte ich manchmal schreien, aber selbst dazu fehlt mir die Kraft.“ Grünewald hat einen Jesus dargestellt, der den ganze Schmerz und das ganze Elend der Welt fühlt und in dieser Qual zu Tode kommt. Einen Jesus, der sich nichts erspart hat, und der stirbt am Elend der geliebten Welt Gottes. Dazu können einem die Worte aus Jesaja 53 einfallen: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.“

Grünewald hat dem Bild seine Deutung mitgegeben: am Fuß des Kreuzes sieht man ein Lamm. Schaut man aus der Nähe hin, dann sieht man, dass dieses Lamm Blut verliert. Das Blut strömt in einen Abendmahlskelch. Jesus, das Lamm Gottes, gibt sein Blut, und damit sein Leben, und er gibt es, damit alle Anteil bekommen können an diesem Leben. So wie es bei Jesaja heißt: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Grünewald hat in seinem Bild also ganz besonders diesem Zusammenhang zwischen dem Kreuz Jesu und der Heilung herausgestellt. Denn Heilung ist ausgegangen vom Orden der Antoniter. Deswegen kamen die Menschen ja von überall her, weil es hier Hilfe gab: durch den Antoniuswein und den Antoniusbalsam, beides berühmte Medikamente. Und durch die geistliche Wirklichkeit, die in der Mönchsgemeinschaft präsent war. Man sieht daran, dass Gebet und Medizin sich nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig fördern und ergänzen. Uns Evangelischen scheint es vielleicht seltsam, dass diese geistliche Wirklichkeit durch einen Heiligen repräsentiert wird. Aber in dem Bild von Grünewald wird deutlich, was die eigentliche Kraft dahinter ist: nämlich die Hingabe Jesu, der im Auftrag Gottes an die dunkelsten und schrecklichsten Stellen der Welt gegangen ist, der einen hohen Preis dafür bezahlt hat, Gott auch an diese Orte der Qual zu bringen.

Und damit macht er sichtbar, woher überhaupt die Kraft kommt, wenn von christlichen Gemeinden Heilung ausgeht. Es ist diese Bereitschaft Jesu zur bedingungslosen Solidarität mit der Welt, die so schrecklich leidet an ihrer eigenen Abwendung von Gott. Nur weil Jesus bereit war, dies alles zu ertragen, deshalb konnte die Hilfe und die Heilung Gottes wieder einen Weg zu den Menschen finden. Das ist das Potenzial, dass bis heute in der Kirche wirkt und und tatsächlich immer wieder Menschen gesund gemacht hat, auf vielen verschiedenen Wegen, durch christliche Heilkunst ebenso wie durch Fürsorge, Liebe und Gebet. Es gibt keinen Widerspruch dazwischen, weil es alles aus einer Quelle kommt. Man muss nicht Gebet und Segen gegen Medizin oder gegen Liebe und Fürsorge ausspielen, wenn deutlich ist, dass es alles einen Ursprung hat. Es ist diese Tat Jesu, die das Tor zum Leben Gottes wieder aufgestoßen hat und bis heute in der Kirche wirkt und ihre Kraft entfaltet.

Wenn man den Lieblingsjünger Johannes auf dem Bild von Grünewald genau ansieht (es ist der junge Mann auf der linken Seite, der sich um die weiß gekleidete Maria kümmert), dann erkennt man eine Ähnlichkeit zwischen seinem Kopf und dem Kopf Jesu. Sicher, der Kopf des Jüngers ist kleiner, und die Fülle der Qual, mit der Grünewald das Gesicht Jesu dargestellt hat, die findet sich nicht bei Johannes. Aber trotzdem: der Schmerz Jesu spiegelt sich wider in den Gesichtszügen des Johannes. Jesus hat die Kraft, seine Nachfolger zu prägen. Deswegen hat es in der Kirche immer wieder Menschen gegeben, die bereit waren, nicht vor dem Elend zu fliehen, so wie damals die ersten zehn Antoniter in der Zeit des »Heiligen Feuers«. Und daraus entsteht dann Hilfe und Heilung. Wenn Menschen bereit sind, sich so von Jesus prägen zu lassen, dann kann Gott mit seiner heilenden Kraft eingreifen.

Wenn im Spital der Antoniter die Kranken vor dieses Altarbild geführt wurden, dann sahen sie vor sich die Quelle der Heilung von Körper und Seele, auf die sie vertrauten, und wegen der sie nach Isenheim gekommen waren. Sie verstanden: nun bin ich zu dem gekommen, dem kein Preis zu hoch war, um mich zu erreichen. Ich bin zu dem gekommen, der meine Schmerzen so gefühlt hat, wie ich sie kenne. Der mein Elend geteilt hat. Jetzt bin ich angekommen. Und jetzt bin ich bereit dafür, von ihm das Leben Gottes zu empfangen.