Verletzung und Heilung – eine Sache des Herzens

Predigt am 12. November 2000 zu Jesaja 57,14-21

14 Der HERR spricht: Macht Bahn, macht Bahn! Bereitet den Weg, räumt die Anstöße aus dem Weg meines Volks! 15 Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: »Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. 16 Denn ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen; sonst würde ihr Geist vor mir verschmachten und der Lebensodem, den ich geschaffen habe. 17 Ich war zornig über die Sünde ihrer Habgier und schlug sie, verbarg mich und zürnte. Aber sie gingen treulos die Wege ihres Herzens. 18 Ihre Wege habe ich gesehen, aber ich will sie heilen und sie leiten und ihnen wieder Trost geben; und denen, die da Leid tragen, 19 will ich Frucht der Lippen schaffen. Friede, Friede denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der HERR; ich will sie heilen. 20 Aber die Gottlosen sind wie das ungestüme Meer, das nicht still sein kann und dessen Wellen Schlamm und Unrat auswerfen. 21 Die Gottlosen haben keinen Frieden.« spricht mein Gott.

Wenn ein Mensch Gott sein Herz hinhält, weil er verstanden hat, dass Gott sich das wünscht, dann ist das Größte passiert, was uns geschehen kann. Aber das Herz, das wir Gott hinhalten (wenn es gut geht), ist kein funkelndes Kleinod und kein makelloses Schmuckstück. Es ist verletzt, beschmutzt und manchmal gebrochen. Und es sind nicht bloß die anderen gewesen, die schuld daran sind, sondern es ist ein schwer entwirrbares Knäuel aus den Gemeinheiten anderer, aus unseren eigenen Irrwegen und Fehlhaltungen und allen möglichen Umständen und Zufällen, die unseren Lebensweg bestimmen.

Das Herz ist ja ein Symbol für die Mitte und Gesamtheit unseres Lebens, unserer Person. Woran einer sein Herz gehängt hat, das entscheidet darüber, wer er ist. Wo unser Herz ist, da sind wir wirklich. Wenn unser Herz verletzt und beschmutzt ist, dann sind wir selbst Menschen, die nur mit Krücken und Masken durchs Leben kommen. Wir können nur gebremst und behindert leben, wenn das Zentrum unserer Person nicht gesund und lebendig ist.

Vorhin haben wir bei Jesaja von den »Anstößen« gehört, den Stolpersteinen, die im Wege liegen und Menschen kaum vorwärts kommen lassen. Macht Bahn! heißt es deshalb. Räumt die Anstöße aus dem Weg meines Volkes! Und da geht es genau um diese Blockaden und Behinderungen im Herzen von Menschen, die sie bedrücken und ihr Leben schwerer machen, als es sein müsste. Anstöße und Stolpersteine – es kommt viel zusammen im Lauf eines Lebens. Gerade am Anfang sind Menschen noch so verletzlich und schutzlos. Es war kein Zufall, dass zwei von vier Szenen vorhin mit dem Kinder- und Jugendalter zu tun hatten. Es kommt keiner durch die Kindheit und Jugend ohne Schmerzen und Enttäuschungen, auch wenn die Eltern versuchen, einen davor zu schützen. Da sind wir noch unerfahren und können vieles kaum einordnen. Da jonglieren wir noch mit unserem Herzen und ahnen nicht, wie zerbrechlich es ist. Und auf der anderen Seite kann man gerade in jungen Jahren so gut sehen, wie Menschen aus eigenem Defizit heraus dann andere verletzen, andere kleinmachen, andern das Herz brechen, andere ihre geballte Missachtung spüren lassen, um sich selbst ein Stück größer vorzukommen.

Wir lernen früh, Wege zu suchen, die uns vor Schmerzen beschützen sollen, und doch sorgen sie nur dafür, dass unser Herz immer mehr vom Zorn Gottes getroffen wird. »Sie gingen treulos die Wege ihres Herzens« heißt es bei Jesaja. »Ich war zornig über die Sünde ihrer Habgier und schlug sie« sagt Gott. Habgier, das ist nicht bloß, wenn jemand Geld zusammenrafft und womöglich noch andere um etwas bringt. Es gibt auch eine seelische Habgier, wenn Menschen von der Lebensenergie anderer leben. Wenn Menschen andere klein machen, andere beherrschen, andere abhängig machen, andere mit ihren Launen oder ihrer Kritik oder ihrem Selbstmitleid in Bewegung halten oder sich anders die Zuwendung und die Beachtung erzwingen, von der sie meinen, dass sie ihnen zusteht.

So wie ein Habgieriger nicht glauben kann, dass Gott ihn materiell ausreichend versorgen wird, so sind wir alle in Sorge, dass unser Herz zu kurz kommen könnte und nicht ausreichend ernährt wird, wenn nicht andere Menschen sich um uns kümmern und uns das geben an Liebe und Beachtung, was wir unbedingt brauchen. Wird Gott wirklich bei denen wohnen, »die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen«? Wird es wirklich so sein? Oder ist es nicht sicherer, sich das von anderen Menschen zu holen, auch wenn man vielleicht ein bisschen nachhelfen muss? Aber es ist immer zu wenig, was sie uns geben. Erbärmlich wenig! Ganz viel Konflikte und Missstimmungen und Beleidigtsein unter Menschen kommt daher, dass es immer zu wenig ist, was die anderen uns geben, und wir kennen 1000 Gründe, weshalb sie eigentlich verpflichtet wären, uns besser zu behandeln. Das Dumme ist nur, dass es denen auch so geht. Und wir gehen treulos die Wege unseres Herzens und dann spüren wir nicht nur die Verletzungen unseres Herzens, sondern im Versuch, diese Wunden irgendwie abzudecken, bringen wir uns auch noch unter den Zorn Gottes, weil unsere Methoden ihm nicht gefallen können, und am Ende vermehrt das unsere Schmerzen.

Verletzte Herzen. Und die geben das weiter an andere. Eine ganze Kultur, in der Schmerzen und Empfindlichkeiten und falsche Wege zur Entlastung vom einen zum anderen weitergegeben werden.

»Räumt die Anstöße aus dem Weg meines Volks!« sagt Jesaja. Wie kann vom Volk Gottes Gesundheit ausgehen, wenn es selbst so beladen und heilungsbedürftig ist? Da im Buch Jesaja, da steht wahrscheinlich die Situation vor Augen, wie sich die ersten Menschen nach der Zerstörung Jerusalems schon wieder dort angesiedelt haben, es ist vielleicht hundert Jahre her, dass die Babylonier aus der Stadt einen Schutthaufen gemacht haben, und die meisten wollen überhaupt nicht zurück in ihre Heimat, einmal, weil da alles noch kaputt ist, aber vor allem geht von diesem Neuanfang überhaupt nichts Faszinierendes aus, es ist alles so desolat, weil die Menschen in ihrem Herzen noch so stark geprägt sind von den Erfahrungen der Schuld und der Katastrophe. Es gibt überhaupt keine Automatik, dass aus großem Unglück geistlicher Neuanfang entsteht, es kann auch nur noch tiefer ins Elend führen, und das gilt für die einzelnen Menschen genauso wie für ganze Völker.

Aber es gibt Hoffnung, weil sich auf Gottes Seite etwas verändert. Gott sagt: »Ihre Wege habe ich gesehen« – ich weiß ja, was sich in Menschenherzen abspielt, aber ich ändere meine Reaktion darauf, »ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen« wie es ja durchaus berechtigt wäre, nein, »ich will sie heilen«. Gott ergreift die Initiative, um sein Volk herauszuholen aus seinem desolaten Zustand und ihm Frieden zu geben, aber nicht nur seinem Volk, sondern »Friede denen in der Ferne und denen in der Nähe«. Frieden brauchen die, die schon immer dabei waren in der Gemeinde Gottes, und Frieden brauchen genauso die, die sich ferngehalten haben und aus der Distanz betrachten, was da im Kern des Gottesvolkes vor sich geht. Und wenn sie sehen, dass es da tatsächlich Frieden gibt, dann werden sie kommen, um mit dabeizusein.

Wenn Gott »Frieden« sagt, dann meint er, dass diese ganze Kultur der verletzten Herzen aufgelöst wird und abgelöst wird von dem heilen und gesunden Leben, dass von ihm aus in die Welt kommt. Wir müssen an Jesus denken, wie er unter den Menschen steht, die immer noch in so einem desolaten Zustand waren, aber sie kamen, um bei ihm zu sein, denn sie merkten: das ist es! das brauchen wir. Wir verstehen, dass wir nicht drinbleiben müssen in dem ganzen Elend, in dem wir uns eingerichtet hatten, vielleicht merken wir erst jetzt, wie tief wir da dringesteckt haben, aber es gibt andere Wege, die wir gehen können. Und Jesus heilt und lehrt und befreit und streitet und macht vieles andere, und jedesmal ist es der Friede Gottes, der von ihm ausgeht und auf vielerlei Weise seinen Weg in die Herzen von Menschen hinein findet.

Gottes Botschaft ist: öffnet eure Herzen dafür, plagt euch nicht länger ab auf den Wegen, die euch nur noch tiefer ins Dunkel führen. Jetzt gebe ich euch etwas anderes, damit ihr geheilt werdet, damit all das Harte aufgelöst wird und ihr anders leben könnt.

Wie kommt es denn dazu, dass Herzen (ich meine jetzt diesen Muskelkloß in unserer Brust) ihren Dienst nicht mehr tun? Wenn sich in den Adern des Herzens so viel Schmutz abgelagert hat, dass die nicht mehr elastisch sind, sondern brechen, oder wenn gar kein Blut mehr durchkommt, weil alles verstopft ist, dann stirbt das Herz ab, Stück für Stück. Das Leben kommt nicht mehr ran, weil zu viel Dreck den Weg versperrt. Manchmal kann man ja die Ablagerungen irgendwie wieder auflösen, damit das Herz aufleben kann. Das ist nicht einfach.

Aber darum geht es bei Jesus, dass wir neu versorgt werden mit dem Leben, das von Gott kommt. Gott startet eine Offensive, damit sein Leben bis zu uns gelangen kann und all die Panzer und Ablagerungen auflöst, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben auf unseren Wunden, und damit auch die Wunden heilen. Die Narben werden wir diesseits des Himmels wohl immer noch spüren, und deshalb sollte man sich nicht leichtsinnig Verletzungen holen, aber das neue, makellose Leben beginnt und breitet sich aus, und es ist jeden Preis wert, da dabei zu sein. Und dann fängt das Herz an, aufzuleben, und wo Enge und verschlungene Wege Menschen prägten, da breitet sich ansteckender Friede aus.

Frieden! Damit fasst auch Jesus alles zusammen, was er den Menschen bringt. Zu seinen Jüngern sagt er vor seinem Tod: »Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.« (Joh. 14,27) Und als er nach seiner Auferstehung zum ersten Mal zu den Jüngern kommt, sagt er wieder: »Friede sei mit euch!« (20,19) und dann gibt er ihnen den Heiligen Geist, damit sie seinen Frieden ausbreiten können zu den Nahen und Fernen.

Gott schickt von neuem seinen Frieden in die Welt. Bei Jesaja ist er nur in Umrissen zu sehen, durch Jesus ist er in aller Deutlichkeit präsent. Jenseits unserer Zeit wird es nichts anderes geben als diesen Frieden: keine Tränen mehr, kein Leid, keine Sünde. Aber jetzt schon kommt Gott, um unser Leben damit zu erfüllen. Jetzt schon sollen die Bindungen und Verhärtungen aufgelöst werden. Räumt sie aus dem Weg – es gibt keinen Grund mehr, sie festzuhalten. Es geht um die tiefe Sehnsucht, gesund zu werden: Sehnsucht, die durch Jesus entsteht. All das andere, was uns behindert, hinter uns zu lassen, damit wir leben können, wirklich leben, und nicht mehr angewiesen sind auf die Krücken und Masken. Sich die Freiheit nicht mehr rauben lassen und jetzt und ewig ein Loblied sein für Gott.