Gottes Herzensanliegen

Predigt am 30. Dezember 2007 zu Jesaja 49,13-16

13 Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. 14 Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. 15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. 16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.

Die Kapitel des Jesajabuches, aus dem auch dieser Predigttext stammen, die haben einen ganz großen Einfluss auf Jesus selbst und die frühen Christen gehabt. Für Jesus war dieser Teil des Alten Testaments so etwas wie eine Verständnishilfe, ein Muster, nach dem er sich und seine Sendung verstanden hat. Und auch viele der neutestamentlichen Schreiber haben auf diese Kapitel zurückgegriffen. Wie kommt das?

Die ganzen Versprechen des Jesajabuches waren in der Zeit Jesu im Kern noch offen. Seit über 500 Jahren warteten die Menschen darauf, dass die endlich einträfen. Es waren Texte aus einem Tiefpunkt in der Geschichte des Gottesvolkes, aus der Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Jerusalem war erobert und von den Eroberern zerstört worden, die Menschen in ein fernes Land verschleppt. Das waren gewaltsame Maßnahmen, um die Identität eines Volkes auszulöschen und es im bunten Kultur- und Völkergemisch des Vorderen Orients aufgehen zu lassen.

Damals stand das Überleben des Volkes Gottes auf der Kippe. Es war nicht klar, ob sie noch eine Zukunft haben würden. Sie hielten nur noch Gedenk- und Trauergottesdienste ab. Der Tempel, der Mittelpunkt ihrer Identität war zerstört.

In dieser Situation meldete sich Gott zu Wort durch einen Propheten, dessen Worte wir im Buch Jesaja ab Kapitel 40 finden, aber sonst wissen wir kaum etwas über ihn, keine Geschichte, keinen Namen, nichts über sein Schicksal. Dieser Prophet kündigte seinem Volk an, dass Gott nun beschlossen habe, sich ihnen von neuem zuzuwenden und ihr Schicksal zu ändern. Und tatsächlich eroberten wenig später die Perser Babylon; das muss damals ein sehr freiheitsliebendes Volk gewesen sein, denn ihr König Kyros ließ alle verschleppten Völker wieder nach Hause gehen.

Und so bekam auch Israel die Erlaubnis zur Rückkehr in ihr Land, sie bekamen den geraubten Tempelschatz zurück und Unterstützung zur Rückkehr und zum Wiederaufbau ihrer Hauptstadt Jerusalem. Aber trotzdem war das dann ein kümmerlicher Neuanfang. Große Teile des Volkes blieben zurück in dem Land, das ihnen zur neuen Heimat geworden war. Und die Zurückgekehrten brauchten lange, um an eine Zukunft zu glauben und die Stadt wenigstens teilweise wieder aufzubauen. Der Neuanfang verlief erbärmlich schleppend, und politische Eigenständigkeit erreichten sie auch nicht. Sie blieben ein politisch unselbständiger Teil der verschiedenen antiken Großreiche. Am Ende waren sie eine Provinz des römischen Imperiums.

Und das heißt, der Neuanfang war irgendwie stecken geblieben. Ja, einerseits hatte der Prophet richtig vorausgesagt, dass sie in ihre Heimat zurückkehren dürften. Andererseits konnte man in dem, was dann kam, nicht wirklich die neue Zeit des Heils erkennen, die er darüber hinaus ankündigte. Seit mehr als fünf Jahrhunderten war die Prophezeiung nur vorläufig erfüllt.

Als nun Jesus über seine Mission nachdachte, da hat er es als seine Aufgabe erkannt, diese neue Heilszeit anzukündigen und zu verwirklichen. Seine erste öffentliche Predigt orientierte sich an diesem Teil der Bibel. Er las die Stelle vor, wo vom Heilen der Behinderungen und von der guten Nachricht für die Armen die Rede ist und fügte dann nur einfach noch hinzu: heute ist dieses Wort erfüllt, und ihr werdet Zeugen davon sein. Jesus hat sich und das Reich Gottes als die Erfüllung dieser Verheißungen gesehen.

Diese jahrhundertelange Geschichte erinnert uns und unsere faktengläubige Zeit daran, dass auch Verheißungen Fakten sind, die manchmal mehr bewirken können als Kriege und Eroberungen. Ein ganzes Volk ist über Jahrhunderte von der Erwartung einer neuen Zeit voller Freude und Erfüllung geformt worden; das hat ihnen die Kraft gegeben, all die Jahre voller Fremdherrschaft und schwieriger Lebensverhältnisse zu überstehen. Was Menschen hoffen und glauben, welchen Erwartungshorizont sie haben, das formt sie mindestens so stark wie ihre äußeren Lebensumstände; nur wenn Menschen sich in ihren Hoffnungen auf die so genannte Realität begrenzen lassen, dann werden sie ein Opfer dieser Umstände. Und so haben viele gesellschaftliche und persönliche Depressionen auch damit zu tun, dass unter uns diese Hoffnungsdimension schwach geworden ist. Je weniger die Menschen von dem ganz anderen Gott her leben, um so weniger Rückhalt und Perspektive haben sie. In Israel haben die Worte der Propheten diesen Erwartungshorizont immer sehr weit gespannt.

Und das hat den Menschen gut getan. So etwas ist nicht fromme Vertröstung oder eine andere Art, sich die Realität schön zu trinken. Suff und andere Süchte machen die Menschen schwach und klein; die Verheißungen der Bibel haben Menschen Kraft gegeben, nach vorne zu schauen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich nicht mit der schlechten Realität abzufinden.

Der Grund dafür ist, dass diese biblischen Verheißungen eine Basis haben, die weit über eine bloße Lagebeurteilung oder auch eine Prognose hinausgehen. All diese Verheißungen sagen nicht nur etwas über die geschichtlichen Entwicklungen, sondern vor allem etwas über Gott, den Herrn der Geschichte. Sie machen die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen transparent für den Gott, der dahinter steht und mit den Menschen seinen Weg gehen will.

Natürlich gibt es tatsächlich jede Menge Religionen, die die Leute einlullen und die Macht der Machthaber und Ausbeuter stützen. Auch das Christentum hat sich dazu schon hergegeben. Darum haben die Propheten immer wieder daran gearbeitet, dass wir den Unterschied erkennen zwischen den toten Götzen, die das Leben aussaugen, den heiligen Zombies sozusagen, und dem lebendigen Gott, der seine Schöpfung in ihrer ganzen Herrlichkeit und Freiheit wiederherstellen will.

Als die ersten Menschen sich von Gott abwandten, als Mord und Gewalt sich breit machten, als sie ihre Angst mit Zivilisation kompensieren wollten und ihr so gerade verhaftet blieben – da sprach Gott zu Abraham, gleich im zwölften Kapitel des ersten Mosebuches, er gewann sein Vertrauen und machte aus ihm ein Volk, durch das er die Erde heilen wollte. Dieses Volk und dieses Projekt ist Gottes Herzensangelegenheit. Wenn dieses Volk in Depression zu Grunde geht, dann ist Gottes Projekt gescheitert.

Verstehen Sie, denen ging es ganz ähnlich wie uns, wenn wir denken: ja, damals in den alten Zeiten, da hat Gott noch die großen Dinge getan, früher war noch Saft und Kraft drin, aber wir sind eine kümmerliche Zeit der Nachgeborenen, die die alten Sachen noch hören, aber nicht mehr erleben. Genau das war das Gefühl in den ganzen Jahrhunderten vor Jesus, in vielen Psalmen spiegelt sich das wieder, wenn sie sagen: ja, in den alten Zeiten, da hast du Großes getan, aber heute? Diese »Ja, damals«-Depression, die hat es gerade vor den entscheidenden Zeiten in der Geschichte des Gottesvolkes immer wieder gegeben.

Deshalb drückt der Prophet das immer wieder in starken Bildern aus, wie sehr Gott sich mit seinem Volk verbunden hat und wie unermüdlich er an ihnen festhält. »Könnte denn eine Mutter ihr Kind einfach vergessen?« fragt er. Und selbst wenn (wir wissen ja, dass so etwas leider immer wieder vorkommt) – Gott kann euch noch viel weniger vergessen. »Ich habe euch in meine Hände gezeichnet« sagt Gott. Wenn ich auf meine Hände schaue, habe ich euch immer vor Augen. Ich habe euch nicht aufgegeben. Ich sehe die Mauern Jerusalems immer vor mir. Die zerstörten Mauern Jerusalems, dieses Symbol der Ohnmacht und Wehrlosigkeit Israels, an die denkt Gott die ganze Zeit. Damit findet er sich nicht ab.

Heute hat sich das Gottesvolk ausgedehnt, seit Jesus gehören nicht nur die Juden dazu, sondern Menschen aus allen Völkern. Es geht auch nicht mehr um die Stadtmauern Jerusalems, sondern die Stadtmauern sind ein Bild für die äußere Gestalt, in der das Gottesvolk existiert. Gott liegt daran, dass wir in einer richtigen äußeren Gestalt leben, er hat nicht eine ideale Ansammlung von Menschen vor Augen, die irgendwie in ihrem Herzen ihn gut finden. Sondern es geht ihm um eine sinnvolle, konkrete Gestalt, die sichtbar ist und durch die die Menschen erreicht werden und die Welt wirklich Heilung erfährt. Er arbeitet daran, dass wir wieder in Form kommen und unsere Aufgabe besser erfüllen können. Es geht ja gar nicht so sehr um Leute, die aus Pflichtbewusstsein ihre Zeiten im Gottesdienst absitzen – das macht heute sowieso kaum noch wer. Es geht um Menschen, die sich in diese Mission Gottes hineinstellen und sich so verändern und heilen lassen, dass sie zur Heilung der Welt beitragen können.

Es geht um Menschen der Hoffnung. Menschen, die sich einfach sicher sind, dass sie an der wichtigsten und hoffnungsvollsten Sache der Welt mitarbeiten. Und die immer besser lernen, wie das geht. In denen die Klarheit Gottes wächst und die Ängste, Neurosen und Empfindlichkeiten ihren Einfluss verlieren. Solche tätige Hoffnung ist etwas Gesundes, sie hält uns jung, frisch und beweglich. Wenn du nicht Hoffnung lebst, dann schrumpft dein Herz.

Und wir sollen verstehen, dass das Gottes Herzensanliegen ist. Deshalb ist es nicht so, dass wir zu ihm hingehen müssten, um ihn zu bewegen, damit er doch endlich mal was für diese Welt tut. Da ist er schon so lange dabei. Das ist von Anfang an seine Sache gewesen, und wenn wir die auch gut finden, dann deshalb, weil er das in uns angeschoben hat.

Ein Mensch fragte Gott: »Warum tust du nichts gegen das Unrecht und die Gewalt? So viel Elend ist in der Welt, so viel Kinder, die unschuldig leiden müssen. Rührt das denn gar nicht dein Herz? Ich habe das Gefühl, du bist in Rente gegangen und interessierst dich dafür gar nicht mehr. Warum tust du nichts dagegen?« Und Gott antwortete: »ach, das ist ja lustig! Genau das Gleiche wollte ich dich gerade fragen.«

Es gibt so eine arrogante Form des Gott-Anklagens, wo Menschen sich beschweren, dass Gott keine Lösung für das Problem findet, das sie selbst darstellen.

Es ist aber Gottes eigene Herzensangelegenheit, dass seine Schöpfung nicht elend zugrunde geht. Schon immer. Und deshalb ist sein Volk seine Herzensangelegenheit, weil er die Welt durch seine Menschen heilen will. Wo Menschen das merken, dass das Gottes eigene Sache ist, da sind sie voll Freude und Jubel, weil sie wissen, dass wir mit dem Schicksal unserer Welt nicht uns selbst überlassen sind. Jemand, der größer und beständiger ist als wir, hat das zu seinem Herzensanliegen gemacht. Aber er hält uns einen Platz frei, wo wir mitmachen können, weil auch wir seine Herzensangelegenheit sind.