Das Neue wächst schon

Predigt am 31. Dezember 2006 (Sylvester) zur Jahreslosung 2007, Jesaja 43,19a

Gott spricht: Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?

Diese Jahreslosung stammt aus einer Epoche, die zu den wichtigsten Wendepunkten in der Geschichte Israels gehört. Israel war lange ein selbständiges Königreich, aber am Ende wurde es von den Babyloniern erobert und zerstört, und für die Menschen begann die Zeit der Babylonischen Gefangenschaft. Sie saßen nicht in Gefängnissen, sondern sie waren in einem fremden Land angesiedelt, fremdbestimmt, politisch handlungsunfähig, sie konnten ihre Kultur nur sehr begrenzt leben, und sie waren in Gefahr, als Volk einfach aufzugehen im Völkergemisch des Zweistromlandes.

Aber nach siebzig Jahren wendete sich ihr Schicksal: der persische König Kyros erlaubte ihnen die Heimkehr. Sie sind dann nach und nach zurückgekehrt, haben mühsam Jerusalem wieder aufgebaut, den Tempel neu errichtet, die Mauern wieder hergestellt, aber es wurde nicht wieder so wie früher. Nur für eine ganz kurze Zeit waren sie politisch selbständig, sonst waren sie immer Teil eines größeren Reiches und auch von den politischen Wendungen dort abhängig. Das ging so bis in die Römerzeit, als dann Jesus geboren wurde.

Das Bibelwort, das für 2007 ausgesucht worden ist, stammt aus dieser Wendezeit, als Gott das Volk darauf vorbereitete, dass die Fremdbestimmung ein Ende finden sollte. Im Buch Jesaja findet man ab Kapitel 40 die Worte dieses „Zweiten Jesaja“, wo er sagt: jetzt hat diese Zeit der Gefangenschaft ein Ende! Jetzt ist eure Strafe verbüßt, Gott wird mit euch Neues beginnen! Und auch hier an unserer Stelle wieder dieser Impuls: ich will Neues schaffen! Vergesst die Vergangenheit!

D.h., es geht nicht darum, dass man wieder zurückkehrt zu der guten alten Zeit vor der Katastrophe. Es geht nicht darum, dass das Königtum wieder aufgerichtet wird und die Hauptstadt wieder aufgebaut wird und dann machen wir weiter, als ob nichts gewesen wäre. Das war ja gerade der Weg, der in die Katastrophe geführt hatte. Das war nicht das, was Gott wollte. Einen Vers vorher heißt es:

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige!

Keine Nostalgie, keine Sehnsucht nach der guten alten Zeit! Wir kennen das hier ja auch bei uns, dass Menschen diese Sehnsucht nach der „guten, alten Zeit“ haben, als alles noch in Ordnung war und noch nicht erschüttert worden war durch die Weltkriege und die moderne Zeit. Aber diese gute alte Zeit hat es nie gegeben, und niemand von uns würde da wirklich leben wolle, man muss sich nur ein bisschen damit beschäftigen und alte Fotos ansehen.

Und genauso wenig gibt es das für die Kirche, so eine gute alte Zeit, als alles noch in Ordnung war. Wenn man die Erinnerungen älterer Menschen hört, z.B. an ihren Konfirmandenunterricht, dann hat man überhaupt nicht das Gefühl, dass es früher besser war, und wenn man sich in die Kirchengeschichte vertieft, hat man diesen Eindruck auch nicht.

Als etwa Martin Luther 1520 die Christen aufrütteln wollte, dass es einen Neuaufbruch in der Christenheit geben müsse, mit dem neu entdeckten Evangelium, da griff er auf diese Situation zurück aus der unser Bibelwort stammt, und schrieb eine Schrift mit dem Titel „Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. Und er beschrieb die Unterdrückung des Evangeliums und der Christen durch die mittelalterliche Staatskirche als so eine Lähmung, wo die Gemeinde nicht Herr im eigenen Haus ist, sondern fremdbestimmt, getrennt von der Wahrheit, materiell ausgeraubt und gefesselt durch unbiblische Denkmuster.

So sehr hatten sie sich daran gewöhnt, dass die Fesseln in den Köpfen viel wirksamer waren als die äußeren Zwangsmittel. Und genauso war Israel damals in Babylon gefesselt durch das gegenwärtige Unglück und genauso durch die Verklärung der guten alten Zeit, dass sie keine Augen hatten für Gottes neues, gegenwärtiges Handeln.

Aber dafür will ihnen Jesaja die Augen öffnen: Es wächst schon auf, erkennt es doch, es hat schon längst begonnen, und wenn ihr nicht immer auf die goldene Vergangenheit schauen würdet, dann hättet ihr es schon längst bemerkt!

Wahrscheinlich in allen Religionen sind die Menschen in Gefahr, sich an den alten heiligen Zeiten und den alten heiligen Texten zu orientieren. Aber das Evbangelium weiß vom lebendigen Gott, der nicht irgendwo in der Vergangenheit steckt, sondern der uns vorangeht, der uns in seine Zukunft ruft, der heute ganz anders ist als gestern, und dessen Güte jeden Morgen neu ist.

Wenn die Verantwortlichen also diesen Spruch für 2007 gewählt haben, dann scheinen die ja auch etwas davon gespürt zu haben, dass die Dinge in Bewegung kommen, dass Gott etwas Neues vorbereitet, dass alte Fesseln brüchig werden. Am Ende des zweiten Weltkrieges hat es schon einen gegeben, der sehr deutlich die Vision einer ganz neuen, ganz anderen Kirche gehabt hat: Dietrich Bonhoeffer, dessen Gedicht „Von guten Mächten“ heute sehr viele Menschen kennen, ohne viel über den Verfasser zu wissen. Damals, als in den letzten Jahren und Monaten des Zweiten Weltkriegs um ihn herum so ziemlich alles zu Bruch ging, da hat sich für ihn der Vorhang weggezogen vor dem Bild einer neuen Kirche, und er erwartete, dass die Kinder, die damals geboren wurden, dies Neue erleben würden, sobald sie erwachsen wären.

Aber das alles ging viel langsamer, als er es erwartet hat. Das ist bei den meisten prophetischen Menschen so, auch bei Jesaja. So stark ist dieser Eindruck, den er von Gott bekommt, dass er das Gefühl hat: jetzt ist es soweit! Aber aus der heutigen Perspektive sehen wir, dass damals zwar neue Schritte getan wurden, aber das wirklich entscheidend Neue kam erst ein halbes Jahrtausend später, als Jesus geboren wurde. Das heißt, Gottes Zusagen sind gültig, sie werden eingelöst, aber es kann auch dauern. Und es hängt eben auch von den Menschen ab. Es dauert, bis die Menschen so weit sind. Deshalb schreibt Paulus z.B. : als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn. Es muss erst so weit sein, und wir durchschauen nicht Gottes Kriterien dafür. Irgendwie hängt es aber auch an uns, ob wir denn bereit sind für das Neue, oder ob wir mit unserem Herzen an der Vergangenheit hängen.

An Jesus kann man sehen: es hat nicht nur länger gedauert – was dann kam, war auch ganz anders, als die Propheten und überhaupt die Menschen es sich vorgestellt hatten. Statt der Aufrichtung eines staatlichen Reiches kam ein Prediger, der die Menschen sammelte, durch dessen Worte sie sich veränderten und der ein weltweites Netz von kleinen Gemeinschaften initiierte. Ich glaube, bis heute haben wir noch nicht wirklich verstanden, wie revolutionär das eigentlich ist im Vergleich zu allen staatlichen und religiösen Gebilden, die es bis dahin gab. Staaten beruhen auf Macht, Religion organisiert sich in Tempeln und Kirchen und Moscheen und anderen religiösen Institutionen, aber Jesus gab den Anstoß zu Gemeinschaften, die sich in jedem Haus treffen können, mit vielen oder wenigen, und er gab alles in die Hand von normalen Menschen. Und die konnten das, weil der Geist Gottes sie bewegte und beriet und unter ihnen wohnte.

So, denke ich, haben wir wieder einen Neuanfang vor uns, der diesen Impuls Jesu überhaupt erst richtig zur Geltung bringt. Und das kann tatsächlich noch dauern, weil es so fremd ist, so ungewohnt, so wenig vergleichbar mit allem, was wir als „Christentum“ kennen. Auch Bonhoeffer hat das damals nicht wirklich beschreiben können, so wenig wie Jesaja schon gewusst hat, wie Jesus sein würde, und auch wir können eigentlich nicht immer noch nicht viel Genaueres sagen als Bonhoeffer. Es wächst schon auf unter uns, es hat schon längst begonnen, aber vor unseren Augen ist noch ganz viel davon verborgen – vielleicht ist das auch gut, vielleicht wären wir noch gar nicht so weit, um damit richtig umzugehen. Es hängt auch an uns, wie schnell oder wie langsam das alles kommen wird. Und was können wir eigentlich schon sehen? Was wächst da an neuer Gemeinde Jesu schon unter uns? Welche Kennzeichen könnte das haben?

Ein paar Stichworte fallen mir dazu ein:

  1. Das Neue von Jesus her wird eng mit den Menschen verbunden sein. Es wird nichts sein, was von großen Organisationen und Institutionen abhängig ist, sondern es wird leben von der Kraft und der Persönlichkeit von Menschen, die tief berührt sind von Jesus. Es ist kein Zufall, dass die Menschen heute immer mehr den Glauben an Institutionen, an Parteien, Verbände, Kirchen usw. verlieren. Was wirklich zählt, das ist die Kraft, die von Personen ausgeht, und wenn auch viele Menschen da wenig Kraft bei sich selbst spüren, hoffen sie doch auf andere Menschen, die diese Kraft haben. Heilige Räume und heilige Zeiten, heilige Gewänder und Amtspersonen werden immer unwichtiger werden. Die göttliche Kraft, die Menschen bewegt, der Heilige Geist, ist die wirkliche Kraftquelle der Christenheit.
  2. Dies Neue von Jesus her wird eng mit den Armen verbunden sein. Und es gibt ja immer mehr Arme, Menschen, die herausfallen und nicht gebraucht werden, Menschen, die ihr Leben nicht selbst in die Hand nehmen können. Es gibt immer mehr davon, Menschen in prekären Situationen, Flüchtlinge, Fremde. Menschen, die keinen Grund haben zu diesem schrecklichen Selbstvertrauen, das uns von Gott trennt, und wo einer insgeheim denkt: so schlecht wird es mit schon nicht gehen, dass ich mich an Gott wenden müsste.
  3. Zu diesem Neuen wird es gehören, dass Menschen ihr ganzes Leben für Gott hingeben, nicht nur einen Teil davon, nicht als Hobby oder als Freizeitbeschäftigung. Es wird deutlich werden, dass Gott Hingabe und Opfer verdient, Hingabe von Geld und Zeit, Opfer des Lebens. Gemeinde wird nichts Harmloses mehr sein.
  4. Das wird dazu führen, dass Gott dann eben auch Tag für Tag und Stunde für Stunde präsent sein wird. Dass wir dann auch Tag für Tag und Stunde um Stunde ganz realistisch mit seinem Eingreifen rechnen werden.
  5. Und das wird auch nötig sein, denn das Neue von Jesus ist auch die Rettung in bedrohlichen Zeiten. Wir erleben schon jetzt so viel Erschreckendes, Katastrophen, Bedrohungen. Und es scheint eher noch schlimmer zu werden. Die Forscher sagen, es kann sein, dass durch die abschmelzenden Pole der Golfstrom stoppt. Das kann ganz schnell passieren, binnen zehn Jahren. Dann hätten wir hier in Europa Verhältnisse wie im mittleren Kanada etwa. Das muss nicht passieren, aber es ist nicht ausgeschlossen. Und ich glaube, dass Gott seine Gemeinde vorbereitet, damit sie in solchen Situationen Rettung bedeuten kann, wenn die Menschen nicht wissen, wie sie auf all das reagieren sollen.

Wahrscheinlich bin ich noch längst nicht vollständig. Aber das sind Umrisse einer Gemeinde Jesu, wie Gott sie in dieser Zeit wachsen lässt. Es kann gut und gerne noch 100 Jahre dauern, bis sie deutlich sichtbar wird, es kann schneller gehen oder länger dauern. Das hängt auch von uns ab. Nach Jesaja dauerte es noch 500 Jahre bis zu Jesus. Aber auch in dieser langen Zeit hat das kommende Neue Menschen aufgeweckt, die dann in ihrer Zeit und an ihrem Ort mutig mit Gott gehandelt haben: Nehemia, der Jerusalem wieder aufbaute. Maria, die bereit war, ein uneheliches Kind für Gott zur Welt zu bringen. Johannes der Taufe. Und viele andere: sie wurden angestoßen von dem Neuen, haben gehandelt, so gut sie es konnten, und wenn wir gut sind, lassen wir uns genauso bewegen, im kommenden Jahr und darüber hinaus.