Bethlehem und seine Fernwirkungen

Predigt am 24.12.2005 (Heiliger Abend) zu Jesaja 9,1-6

9,1 Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
2 Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. 3 Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. 4 Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; 6 auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

In diesen prophetischen Worten spiegelt sich schon lange vorher Jesu Geburt, lange, bevor es so weit war. Und Jesaja stößt in seiner Beschreibung sozusagen von außen nach innen vor, von der Peripherie ins Zentrum:

Man muss sich das so vorstellen, dass es bei Jesus sozusagen einen Kernbereich gibt, ein Zentrum, in dem die entscheidenden Dinge passieren – und dann gibt es die Ausstrahlung von diesem Zentrum in die Öffentlichkeit, in die Politik, ja, bis in die Militärangelegenheiten hinein. Im Zentrum steht die Geburt eines Kindes. Aber diese Geburt hat Folgen für viele Menschen.

Jesaja hat unterdrückte Menschen im Sinn, Menschen, die von Aufsehern mit dem Knüppel zur Arbeit getrieben werden. Wenn die Übersetzung sagt »der Stecken des Treibers«, dann klingt das irgendwie noch ländlich-idyllisch, aber gemeint ist, dass müde, entkräftete Menschen Tag für Tag schwere Lasten schleppen müssen und den Knüppel der Aufseher zu spüren bekommen, wenn sie nicht schnell genug arbeiten. Menschen, die von Krieg und Gewalt gezeichnet sind, denen das alles in den Knochen sitzt, die nicht mehr das haben, was man ein normales Leben nennt.

Diese ausgebeuteten Menschen sollen einen hellen Schein sehen, über ihnen soll das Licht der Hoffnung aufgehen. Das Stöhnen soll abgelöst werden von Freude und Jubel. Die drückende Herrschaft wird zerbrechen. Die blutigen Uniformen der Unterdrücker werden verbrannt.

Jesaja hat Szenen im Sinn, wie wir sie manchmal sehen, wenn ein Krieg zu Ende geht und die Waffen abgegeben und zerstört werden. Unter internationaler Aufsicht werden sie dann zerstört, so dass sich niemand mehr davor fürchten muss. Wir können uns den Jubel vorstellen, wenn ein geschundenes Land endlich befreit ist und die Aussicht auf bessere Tage hat. Das ist der sichtbare Bereich sozusagen.

Aber wenn wir ins Zentrum der Worte Jesajas hineinkommen, dann merken wir, dass das alles auf besondere Weise eintreffen soll, anders, als solche Dinge sonst zustande kommen. Im Zentrum steht die Geburt eines besonderen Kindes mit besonderen Eigenschaften. Es hat Herrschaft inne, es wird wie ein König mit ehrenvollen Titeln belegt, und seine Herrschaft bringt Frieden und Gerechtigkeit mit sich.

Dieses Zusammentreffen von Zentrum und Außenseite ist das Irritierende an Weihnachten. Das scheint nicht wirklich zusammenzupassen. Wie kann die Geburt eines Kindes, auch wenn es die Geburt eines besonderen Kindes ist, solche weitreichenden Auswirkungen haben? Genau das Gleiche sehen wir in der Weihnachtsgeschichte: »Friede auf Erden« singen die Engel bei der Geburt Jesu, obwohl von so einem Frieden herzlich wenig zu sehen ist.

Die Erklärung für dieses merkwürdige Miteinander ist, dass der Prophet und die Engel im ersten Anfang, im Keim, schon das ganze Ergebnis sehen. Engel und Propheten sehen nicht die Oberfläche, sondern sie schauen tiefer. Sie sehen im Baby schon den Erwachsenen, und sie sehen sogar noch weiter: sie sehen schon sein ganzes Werk fertig vor sich, obwohl er kaum angefangen hat. Sie sehen, was wirklich passiert in Bethlehem: Gott schleicht sich in seine Welt ein, vorbei an den Kontrollen der Machthaber. Er benutzt einen schlecht bewachten Hintereingang und wird unauffällig und gewöhnlich als Kind wie jedes andere geboren. Nur ein paar Hirten wissen, was da wirklich vor sich geht. Aber da ist das Entscheidende passiert: Gott ist in der Welt, und alles andere ergibt sich daraus.

Wir haben es schwer, diese beiden Bereiche (Innen und Außen) zusammenzubringen. Wir schauen auf den ganzen Außenbereich, auf die Ausstrahlung, die diese Geburt haben soll: Befreiung der Unterdrückten und Erlösung von der Macht, die aus den Gewehrmündungen kommt. Wir hören Worte wie »Schwerter zu Pflugscharen!«, wir merken, wie darin alte Menschheitshoffnungen anklingen, Hoffnungen auf eine friedliche und gerechte Welt, in der Menschen ohne Angst leben könne. Wir wissen zwar nicht, wie das Wirklichkeit werden kann, aber das sind Dinge jedenfalls Dinge, die uns einleuchten, da können wir uns was drunter vorstellen. Solche Visionen haben schon immer die Menschen guten Willens bewegt, es sind die richtigen Träume, und wir tun gut daran, wenn wir sie in die Herzen unserer Kinder pflanzen.

Aber dann haben wir im Kern von Weihnachten dieses Bild des Kindes, das in einem Stall geboren wird, in vielen Krippendarstellungen haben wir es gesehen, wir spüren etwas von dem Zauber, der mit jedem Neuanfang und jeder Geburt verbunden ist. Aber wir wissen auch, wie schnell so etwas unter die Räder kommt, und es ist schwierig zu begreifen, wie denn das gehen soll, dass dieses Zentrum ausstrahlt bis hin zu den weit entfernten Menschen, hin zu den Zonen von Krieg und Unterdrückung.

Aber es gibt ein Verbindungsglied, eine Brücke. Und das sind Menschen, die sich von diesem Weihnachtszentrum bewegen lassen und dann erstaunliche Dinge tun. Und auf einmal ist der Weg gar nicht mehr so weit.

Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Es hat in diesem Jahr einen wirklich bewegenden Weihnachtsfilm gegeben, ich weiß nicht, wie viele von uns den gesehen haben, er ist in Peine leider nicht gelaufen. »Merry Christmas« heißt er und beruht auf wahren Ereignissen, die sich im ersten Weltkrieg an der Westfront zugetragen haben. Am Weihnachtsfest 1914 schließen da deutsche, französische und englische Soldaten ihren ganz eigenen Waffenstillstand miteinander. Erst singen sie in ihren Stellungen die gleichen Lieder, dann kommen sie vorsichtig aus ihren Schützengräben heraus, sie wünschen sich frohe Weihnachten und teilen ihre Weihnachtsrationen miteinander, schließlich feiern sie zusammen einen Gottesdienst, und am Ende gibt es zwischen den Schützengräben richtige Weihnachtsfeiertage. Wenn man vorher sieht, in welcher Hölle aus Kanonendonner, Kälte, Dreck und Tod die Männer sich bis dahin gegenseitig umbringen mussten, und wie sie dann miteinander essen und trinken, dann versteht man erst, welche Kraft im Evangelium verborgen ist. Der englische Militärpfarrer, der den Gottesdienst gehalten hat, sagt hinterher: die sind gekommen wie Erfrierende zu einem warmen Feuer. Über denen, die im finstern Landes des Grabenkrieges wohnten, scheint es hell.

Aber als das ruchbar wird, da reagieren die Militärführungen sofort. Das darf nicht sein, dass Soldaten zusammen Weihnachten feiern, anstatt aufeinander zu schießen. Die Einheiten werden umgehend ausgetauscht. Bei den Engländern kommt der Militärbischof und hält eine sehr geschickte Ansprache an die Soldaten, um ihnen ihre Erfahrungen schnell wieder auszureden. Und man fragt sich: wird es ihm wirklich gelingen? war das jetzt alles umsonst? Hat denn das Evangelium keine Chance gegen die mächtigen Apparate?

Aber 90 Jahre später werden diese alten Geschichten ausgegraben, und Menschen gehen ins Kino und sehen das und sind tief bewegt davon, wie da mitten in einer Welt voller erbarmungsloser Gewalt Menschen zu ihrer wirklichen Bestimmung finden und menschlich werden. Das bewegt uns auch noch nach 90 Jahren, wenn die offiziellen Beweihräucherungen schon längst keinen mehr interessieren. Was damals passiert ist, das bleibt und wird eher noch wichtiger werden.

Hier kann man sehen, wie Gott sich von diesem Zentrum aus in die Welt einschleicht, wie er von der Ankunft Jesu in Bethlehem her alle möglichen Winkel der Welt durchdringt. Er kommt immer noch dahin, wo man ihn nicht erwarten würde. Wer Gott aus seiner Welt und seinem Leben draußen halten will, der kann gar nicht wachsam genug sein.

Und das Verbindungsglied zwischen diesem Zentrum, dass Jesus in die Welt kommt, und all seinen Ausstrahlungen und Folgen in den entlegensten Ecken der Welt, das Bindeglied dazwischen sind normale Menschen, die Jesus annehmen und sich von ihm bewegen lassen. Wir sind als so ein Bindeglied berufen.

Das hat Jesaja so noch nicht gesehen, dass Gott sich verbündet mit der großen Kraft von freien menschlichen Seelen. Tief unten in unserem Herzen sind wir empfänglich für den Ruf von Gottes Freiheit. Tief unten sehnen wir uns nach Liebe und Lebendigkeit, und auch wenn wir das alles haben verhungern lassen, und auch wenn das alles schon fast ganz verschüttet ist: das kann sich wieder regen und in Bewegung kommen und leben, solange wir atmen. Was vom Stall von Bethlehem und erst recht vom erwachsenen Jesus ausgeht, das nistet sich da ein und ist nicht wirklich zu kontrollieren.

Dazu eine letzte Szene aus dem Film »Merry Christmas«: Bevor am Ende die deutsche Einheit in einem Güterwagen an die Ostfront transportiert wird, kommt noch einmal so ein hohes Tier in Uniform zu ihnen und beschimpft sie. Und er sieht die Mundharmonika, zu deren Klang sie die Weihnachtslieder gesungen haben, und wütend schnappt er sie sich und trampelt mit seinen Soldatenstiefeln darauf herum, bis sie kaputt ist. Aber dann fangen die Soldaten alle an, die Melodie dieses Weihnachtsliedes zu summen, und dagegen kann er nichts mehr tun. Wütend blickt er dem Zug hinterher, der mit den summenden Soldaten wegfährt. Vielleicht werden sie sterben müssen, aber er hat das Beste an ihnen nicht zerstören können, und dieses Lied wird eines Tages im Himmel laut erklingen.

Dazu sind Weihnachtslieder da, dass man da gegen allen Tod und alle Hoffnungslosigkeit in der Welt immer wieder den Klang des Lebens hört. Man braucht manchmal das Ohr der Engel und der Propheten, um es zu verstehen. Aber dieses Lied des Lebens wird nicht mehr verstummen. Es hat den Tod schon längst besiegt, und es geht nur noch um die Frage, ob wir es mitsingen werden. Jetzt, damit wir Menschen des Friedens werden, und später noch einmal viel besser und voll endgültiger Freude im Himmel.