Wo ist Jesus? Draußen vor der Stadtmauer

Predigt am 17. März 2002 zu Hebräer 13,12-14

Weil Jesus gekommen war, um das Volk durch sein eigenes Blut zu heiligen, musste er außerhalb der Stadtmauern sterben. Lasst uns daher zu Jesus vor das Lager hinausgehen und die Schmach auf uns nehmen, die auch er getragen hat. Denn hier auf der Erde gibt es keinen Ort, der wirklich unsere Heimat wäre und wo wir für immer bleiben können. Unsere ganze Hoffnung gilt jener zukünftigen Stadt, zu der wir unterwegs sind.

Über Menschen, die gequält worden sind, hat jemand mal ungefähr folgendes gesagt (ich glaube, es war Jean Amery): »Wer gefoltert worden ist, kann sich nie wieder richtig zu Hause fühlen in dieser Welt.« Und wir wissen tatsächlich, dass Opfer von Grausamkeit und Gewalt für ein ganzes Leben geschädigt sind. Immer wieder blitzt in ihnen die Erinnerung an Qual und Demütigung auf. Sie haben die dunkle Seite der Welt so hautnah kennengelernt, dass sie der Normalität nicht mehr trauen können. Ihr Vertrauen in die Welt ist so sehr geschädigt worden, dass es nie wieder ganz heil wird.

Dieses Los, wehrlos gequält zu werden, hat Jesus geteilt. Er ist der schlimmsten Situation, in die ein Mensch kommen kann, nicht ausgewichen. Und als er auferstanden war, zeigte er den Jüngern seine Wunden. die Wunden von den Nägeln, und auch wenn er vor Gott tritt, dann trägt er immer noch die Wunden, dieses Stigma, als Zeichen, dass da etwas mit ihm geschehen ist, was nie wieder rückgängig gemacht werden kann.

Aber was heißt das für uns Christen, die wir das Zeichen des Kreuzes tragen? In jeder Kirche hängt das Bild eines zu Tode gefolterten Menschen. Wie verarbeiten wir eigentlich diese Erfahrung der Gewalt und Grausamkeit, die unser Herr machen musste? Wir gehören ja zu ihm, und wir teilen so vieles mit ihm.

Wer zu Jesus gehört, in dem schlägt sich auch etwas nieder von dem Grauen, das Jesus durchgemacht hat. Wer zu Jesus gehört, der spürt diese Fremdheit, dieses Gefühl, sich nie wieder richtig zu Hause fühlen zu können in der Welt. Wer Jesus kennt, der weiß viel mehr als andere über die dunkle Seite der Welt.

Aber wenn das durch den auferstandenen Jesus zu uns kommt, dann kann das ja nicht mehr diese lähmende und heillose Erfahrung sein, dieser namenlose Schrecken, der die Opfer der Folter sonst ein Leben lang begleitet. Diese Erfahrung muss ja verwandelt sein. Denn Jesus trägt ja die Nägelwunden als ein Zeichen, dass er dieses ganze Dunkel überwunden hat.

Und so bedeutet dann für uns die Erinnerung an seine Kreuzigung nicht mehr dieses tiefe Misstrauen in das Leben und in die Welt und in Gott, das sonst aus solchen Erinnerungen entsteht. Sondern es ist verwandelt in eine chronische Fremdheit gegenüber allen menschlichen Systemen und Kulturen, die Menschen für ihre Zwecke opfern und ihnen Schmerz zufügen. Diese Erfahrung des gekreuzigten Jesus führt zu einer tief empfundenen Heimatlosigkeit, zu einer Unfähigkeit, sich in der normalen menschlichen Gesellschaft zu Hause zu fühlen und die Schrecken zu übersehen, die überall hinter der Oberfläche lauern.

Aus der Zerstörung von Menschen durch Qual ist durch Jesus eine Gabe geworden: die Gabe, nicht mehr verwurzelt zu sein wie alle anderen, sondern zu hungern und zu dürsten nach Gerechtigkeit. Zu hungern und zu dürsten nach der neuen Welt Gottes, in der endlich kein Schmerz mehr ist und kein Leid, und wo Gott alle Tränen abwischen wird. Dieses Hungern und Dürsten hat Jesus selig gepriesen.

Und der Hebräerbrief ruft uns auf, diese Gabe nicht zu verspielen, sondern sie tatsächlich auszuüben. »Lasst uns hinausgehen vor das Lager zu Jesus und seine Schande teilen!« heißt es dort. Jesus wurde hinausgestoßen aus der Stadt Jerusalem, er wurde vor den Toren gekreuzigt, ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Menschen, wie ein Stück Dreck, das man nicht im Haus haben will. Und der Hebräerbrief sagt: Wenn wir zu Jesus gehören, dann lasst uns freiwillig diesen Platz außerhalb der menschlichen Gemeinschaft mit ihm teilen. Wenn sie ihn nicht haben wollen, dann muss da etwas grundsätzlich falsch sein. Und dann ist der richtige Platz für uns tatsächlich außerhalb.

In der Geschichte des Gottesvolkes gibt es immer wieder diese Aufrufe zum Auszug. z.B. der Auszug aus Ägypten, wo man ein Land der Unterdrückung hinter sich lässt. Und je länger der Weg durch die Wüste dauerte, um so deutlicher wurde es, dass man so eine Unterdrückungssituation nicht nur äußerlich hinter sich lassen muss, sondern sie trugen Ägypten ja auch mit sich, in ihrem Herzen. Sie waren geprägt von Sklavenmentalität. Und es kostete viele Enttäuschungen und viele Schmerzen, und es dauerte eine Generation, bis sie die Sklaverei auch innerlich verlassen hatten.

Deswegen muss der Hebräerbrief das den Christen wieder ins Gedächtnis rufen. Die gehen äußerlich nicht heraus aus der Welt, das geht nicht, es gibt ja keine freien Länder mehr, in die man fliehen könnte. Die ganze Welt ist schon voll. Um so notwendiger ist es, dass wir innerlich herausgehen, dass wir in unserem Denken diesen Standort »draußen« einnehmen. Dass wir die Sklavenmentalität aufgeben.

Im Johannesevangelium gibt es für die Welt den Begriff des »Kosmos«, und damit ist gemeint das Weltsystem, wie es funktioniert und unter dem Einfluss der großen und kleinen Mächte steht, von der atombewaffneten Supermacht bis zur scharfzüngigen Nachbarin und dem prügelnden Schulhofschrecken. In diesem Weltsystem wächst die Sklavenmentalität. Und dieses Weltsystem sollen wir hinter uns lassen, weil auch Jesus darin keinen Platz hatte.

Das ist gar nicht einfach zu verstehen. Deswegen hat es auch immer viele Missverständnisse gegeben, dass man etwa gesagt hat: hab nichts mit der »Welt« zu tun, und »Welt« bedeutete dann vielleicht das Kino, oder sonntags zum Tanzen zu gehen oder andere solche Dinge. Aber es geht nicht darum, dass man bestimmte Bereiche der Welt meidet. Die Arbeit ist nicht weniger weltlich als das Vergnügen.

Es geht darum, dass man wirklich in der Welt lebt und keinen Bereich ausklammert, aber dass man lebt auf eine Art, die ihren Ursprung nicht in der Welt hat, sondern im gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Und deswegen sind wir hier nicht zu Hause.

Die Opfer von menschlicher Grausamkeit fühlen sich nie wieder heimisch in der Welt, sie leben in einer Distanz zu den anderen, die ahnungslos sind und nicht wissen, was Qual bedeutet, aber das ist für sie eine Last, ein Fluch. Auch Jesus bringt seine Leute in eine Distanz zur Welt, aber das ist eine heilvolle Distanz, eine Distanz, die Freiheit schafft. Diese Freiheit hat er mit seinem Tod erkauft. Und es ist keine Distanz gegen die anderen, die verlorengehen, sondern es ist eine Distanz für die anderen. Denen kann doch nur geholfen werden, wenn Christen anders sind und etwas wirklich Neues einzubringen haben.

Das biblische Wort für so ein Anderssein ist »geheiligt«. Die Gemeinde Jesu ist durch seinen Tod geheiligt. »Heiligen«, das bedeutet in der biblischen Sprache zunächst einmal unterschieden, trennen. Wenn es heißt: du sollst den Feiertag heiligen! – dann bedeutet das zuerst: du sollst ihn unterscheiden von anderen Tagen. Wie man das konkret macht, das ändert sich im Lauf der Zeit. Aber immer geht es um die Unterscheidung von gewöhnlichen und besonderen Tagen.

Wie genau die Gemeinde dann lebt, das wird sich auch im Laufe der Zeit ändern. Aber es soll seine Wurzeln bei Jesus haben und nicht im Weltsystem.

»Hier auf der Erde gibt es keinen Ort, der wirklich unsere Heimat wäre und wo wir bleiben könnten« heißt es im Hebräerbrief. Es gibt hier keine sichere Heimat. Das gilt für alle, aber die Christen wissen es. Weil wir von der zukünftigen Stadt wissen, von der neuen Welt Gottes, deshalb trauen wir uns, der Tatsachen ins Auge zu sehen, dass es keinen sicheren Ort in dieser Welt gibt.

Das ist eben die Erfahrung gequälten Menschen, das ist die Erfahrung der Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, das ist die Erfahrung all derer, deren Lebenswege ohne Warnung durchkreuzt worden sind: es gibt keinen sicheren Ort in dieser Welt. Deswegen klammern sich Menschen ja oft an jedes Stückchen Heimat, an Traditionen, auch an religiöse Riten, weil sie in der ganzen Unsicherheit der Welt wenigstens irgend etwas haben wollen, was stabil bleibt. Das Weltsystem hat auch seine religiösen Ecken, wo man sich ein bisschen beruhigen lassen kann und hoffen, dass ein höchstes Wesen da ist, das es alles nicht zu schlimm kommen lassen wird.

Aber die Antwort Jesu ist eben nicht: ich gebe dir den festen Punkt, an den du dich klammern kannst, wenn das Chaos ausbricht. Ich versichere dir, ich erspare dir das alles. Sondern er sagt: ja, es stimmt, es gibt keine Sicherheit, solange du nicht dieses Weltsystem hinter dir gelassen hast. Solange du da drinsteckst, wird es dir immer wieder Angst machen. Deswegen: geh heraus, komm zu mir, lass das hinter dir, was dich krank und verletzt macht. Du kannst nicht meine Sicherheit haben und doch in dem Weltsystem bleiben, das mich nicht haben will. Wenn du gerettet werden willst, dann tu das, was in deinen Augen das Allerschlimmste wäre: lass deinen halbwegs sicheren Platz im Weltsystem los, geh hinaus vor das Tor, und finde genau dort eine Heimat bei mir.

Der Hebräerbrief ist an Christen gerichtet, die müde wurden, die überlegten, ob sie sich nicht lieber wieder unter den Schutz der gesellschaftlich anerkannten jüdischen Religion flüchten sollten. Der erste Elan war dahin, die Teilnehmerzahlen der Gottesdienste bröckelten.

Und genau da sagt der Verfasser: ich erinnere euch daran, wie ihr mal gestartet seid: raus aus der gesicherten Stadt, hin zu dem ausgestoßenen Jesus. Er wollte euch da rausholen. Schaut doch mal, ob ihr nicht heimlich wieder zurückgegangen seid. Ob ihr nicht wieder umkehren müsst, an den Platz, wo man nur durch die Hoffnung auf Gottes Kraft eine Perspektive hat – die dann aber wirklich.

»Selig sind die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit« sagt Jesus. Warum sind sie es? Weil Gott ihren Hunger und Durst teilt und ihn stillen wird.