Die unsichtbare Heimat

Predigt am 3. Februar 2008 zu Hebräer 11,8-10

8 Wie kam es, dass Abraham dem Ruf Gottes gehorchte, seine Heimat verließ und an einen Ort zog, der ’nach Gottes Zusage‘ einmal sein Erbbesitz sein würde? Warum machte er sich auf den Weg, obwohl er nicht wusste, wohin er kommen würde? Der Grund dafür war sein Glaube. 9 Im Vertrauen auf Gott ließ er sich in dem ihm zugesagten Land nieder, auch wenn er dort zunächst nichts weiter war als ein Gast in einem fremden Land und zusammen mit Isaak und Jakob, denen Gott dasselbe Erbe in Aussicht gestellt hatte, in Zelten wohnte. 10 Er wartete auf die Stadt, die auf festen Fundamenten steht und deren Gründer und Erbauer Gott selbst ist.

Im 11. Kapitel des Hebräerbriefes wird an einer ganzen Reihe von Beispielen beschrieben, was Glaube ist. Am Anfang, gleich in Vers 1, steht eine Kurzfassung: Glauben bedeutet, mit der Wirklichkeit unsichtbarer Dinge rechnen. Es geht dabei aber nicht um die Frage, ob es Gespenster oder UFOs gibt, sondern es geht um Hoffnung. Denn alles, worauf man hofft, das ist noch unsichtbar, sonst müsste man nicht mehr hoffen. Aber wenn man damit rechnet, dass die Dinge, auf die man jetzt noch hofft, trotzdem real sind, und wenn sie jetzt schon das Leben bewegen, das ist Glaube.

Der Gegensatz dazu, das wäre der Materialist, der sagt: es gibt nur das, was ich sehe. Alles andere interessiert mich nicht. In grauer Vorzeit, als es die DDR noch gab, da konnte man das in manchen Diskussionen erleben, wenn einer gesagt hat: dies ist schlecht, und das muss sich ändern, dass dann irgendjemand antwortete: dann geh doch nach drüben. Und er meinte damit: wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh in die DDR! du hast zwei Möglichkeiten – entweder der freie Westen mit Wohlstand oder die DDR mit Unfreiheit, mehr gibt es nicht, und wenn du hier lebst, dann hör auf, zu meckern und dir etwas Drittes zu wünschen, das es nicht gibt.

Wenn man es ein bisschen zuspitzen soll, dann sagt der Materialismus: es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, was anderes gibt es nicht, basta. Und die Hoffnung und der Glauben sagen: ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass unser Vater im Himmel so schlecht kocht, es muss doch noch was Besseres geben als Tag für Tag immer nur Nudeln mit Ketchup!

Und der Hebräerbrief geht die ganze Geschichte Israels durch und zeigt an den Schlüsselstellen, wie die Menschen im Gottesvolk immer wieder aus ihrer Hoffnung auf die unsichtbaren Dinge gelebt haben. Wie die ganze Geschichte Israels überhaupt nicht möglich wäre ohne diese Hoffnung auf das Unsichtbare. Dauernd hat da das Unsichtbare Menschen bewegt und die Welt verändert.

Eins von diesen Beispielen ist Abraham. Der lebte ursprünglich in einer Stadt, wo er integriert war und hingehörte, aber dann sagte ihm Gott: verlass deine Heimat und deine Familie und zieh in ein Land, das ich dir zeigen werde. Und Abraham packte seine Sachen und wurde wieder Nomade, der in Zelten lebt, ohne festes Haus und ohne festen Wohnsitz. Er kannte das Land nicht, das Gott ihm versprach, er hatte nichts anderes als den Ruf Gottes, also alles sehr unsichtbare Dinge, aber er zog los.

Das ist das Erste, was zum Glauben gehört: einer Verheißung trauen, die man nicht sehen kann, und trotzdem diesem Ruf folgen.

Und dann kam Abraham zwar in das Land, aber es gehörte anderen, und er war nur Gast dort. Am Ende konnte er wenigstens nach langen Verhandlungen eine Grabhöhle für seine Frau kaufen. Aber das ist doch ein bisschen wenig, wenn einem eigentlich das ganze Land versprochen ist!

Und trotzdem hielt Abraham sein Leben lang an dieser unsichtbaren Verheißung Gottes fest. Mit einigen Ausnahmen und Fehltritten, aber er vertraute mehr der unsichtbaren Verheißung Gottes als der sichtbaren Wirklichkeit, die er erlebte. Und deshalb wurde er nicht sesshaft, sondern lebte weiter in Zelten. Er weigerte sich, sein Nomadentum zu beenden, bevor die Verheißung Gottes sich realisiert hatte. Glaube ist also nicht nur ein Ja zu dem, was man hofft, sondern auch ein Nein zu einer falschen, vorschnellen Realisierung der Hoffnung.

Das ist das Zweite, was zum Glauben gehört: sich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden geben.

Abrahams Neffe Lot rechnete letztlich auch nur mit dem Sichtbaren. Er war mit Abraham losgezogen, da muss also Glauben gewesen sein, aber er konnte nicht so lange warten wie Abraham. Er sah, dass es in diesem verheißenen Land recht schöne Städte gab und siedelte sich da an, in Sodom. Ist doch einleuchtend: schöne Städtchen in prima Wohnlage, wahrscheinlich hat Gott das gemeint, als er ein gutes Land versprochen hat. Onkel Abraham ist ein Träumer, wenn er auf irgendwas wartet, was angeblich noch kommen soll. Ich bin Realist, ich nehme das, was sich förmlich anbietet.

Ein paar Jahre später war Lot ein heimatloser Flüchtling, der seine Frau verloren hatte, in einer Höhle wohnte und vor dem seine Kinder keinerlei Respekt mehr hatten. So enden Leute, die vielleicht in einigen Situationen mit dem Unsichtbaren rechnen, aber es am Ende doch nicht schaffen, ausdauernd dabei zu bleiben. Abraham, der Nomade wurde und blieb, der nicht das Nächstliegende nahm, sondern auf Gottes Erfüllung wartete, der wurde der Ursprung einer Bewegung, mit der Gott bis heute die Welt von Grund auf verändert. Wer aufhört, mit dem Unsichtbaren zu rechnen, der wird auch das Sichtbare verlieren. Ein wirklicher Realist rechnet mit dem Unsichtbaren, weil das Unsichtbare hier in der Welt eine entscheidende Rolle spielt. Es gestaltet die Welt, viel mehr als das Sichtbare.

Es ist kein Zufall, dass auch Jesus immer unterwegs geblieben ist. Er hatte keinen festen Wohnsitz, er zog von Ort zu Ort, und wer bei ihm bleiben wollte, musste mitkommen. Niemand wurde gezwungen, mitzugehen, aber wenn du bei Jesus bleiben wolltest, musstest du dich bewegen. Sonst war er auf einmal weg und dir blieben nur noch Erinnerungen. Das heißt nicht, dass Christen immer in der Welt herumziehen müssen. Es heißt aber auf jeden Fall, dass sie beweglich bleiben müssen. Auch wenn wir lange an einem Ort wohnen, brauchen wir eine Nomadenmentalität. Wir müssen lernen wie Nomaden zu denken. Nomaden hängen nicht daran, dass immer alles an seinem alten Platz steht. Ihre Zelte müssen sie ja dauernd neu aufbauen. Sie dürfen sich nicht zu sehr an ein einmal erreichtes Ziel gewöhnen, weil sie ja wieder aufbrechen müssen. Wenn wir heute nicht geografisch gesehen herumziehen, dann müssen wir trotzdem immer wieder neu aufbrechen, neues probieren und immer wieder auswerten. Und dann wieder auch das Gute hinter uns lassen, weil es seine Zeit gehabt hat.

Man kann nicht sagen: das ist jetzt die richtige Art, Gemeinde zu sein, da müssen wir hin, wenn wir das haben, dann ist es o.k. Sonst ist das, was heute unser großes Ziel ist, morgen unser Hemmschuh. Sondern wir müssen uns einfach daran gewöhnen, immer wieder neu zu erfinden, wie Gemeinde, wie Nachfolge Jesu eigentlich aussehen muss.

Wenn wir Jesus irgendwann einmal auf eine bestimmte Weise begegnet sind, dann ist das noch längst kein Versprechen, dass das auch in Zukunft immer so sein wird. Vielleicht ist er schon längst weiter gezogen. Zu viele Menschen auch in der Christenheit halten sich fest an den Traditionen, den Liedern, den Stilen, den Theologien, den Veranstaltungsformen, der Sprache, die irgendwann mal vielleicht etwas von Jesus zu uns transportiert haben. Aber Jesus ist schon längst weiter gezogen.

Ich habe mal eine nette Geschichte gehört über einen Pastor, der in seiner Gemeinde gern was Neues machen wollte. Ihn störte z.B. , dass das Klavier links in der Kirche stand, er hätte es gern rechts gehabt, da wäre es viel besser gewesen. Aber das ging nicht, weil das schon immer links gestanden hatte.

Also, glauben Sie nicht, die Geschichte wäre unrealistisch – ich habe selbst mal miterlebt, wie sich eine ältere Dame ausführlich darüber beklagte, dass in ihrer Heimatkirche der Taufstein gerade von der linken auf die rechte Seite gesetzt worden war.

Aber zurück zu dem Kollegen – eines Tages dachte er sich: jetzt stelle ich dieses Klavier einfach nach rechts, und wenn es das letzte ist, was ich in dieser Gemeinde tue.

Es war das letzte, was er tat. Er wurde gefeuert. Nach ein paar Jahren dachte er: ich muss doch mal sehen, was aus meiner alten Gemeinde geworden ist. Er ging also in den Gottesdienst, setzte sich in die letzte Reihe, und was sah er? Das Klavier stand auf der rechten Seite. Nach dem Gottesdienst ging er zu dem neuen Pastor, stellte sich vor und fragte: wie hast du das bloß geschafft mit dem Klavier? Und der antwortete: ganz einfach – jede Woche einen Zentimeter!

Man kann das hören als eine Mahnung, nicht zu forsch zu sein mit Veränderungen. Man kann aber auch sagen: Wie muss es um die Christenheit stehen, wenn man die Menschen so mühsam überlisten muss!

Es ist verständlich, wenn Menschen sich am Sichtbaren festhalten, obwohl das auch im ganz normalen Leben kein wirklicher guter Rat wäre. Aber in dem Volk, das von Abraham abstammt, ist es eine Katastrophe, wenn Menschen dermaßen vom Sichtbaren her leben. Es gibt leider diese vielen Verkürzungen der Verheißung, wo Menschen sich etwas Sichtbares nehmen und das festhalten und dann sagen: das ist es! Die einen halten die Partei für unfehlbar, die anderen den Vatikan, die dritten irgendeine andere Autorität. Jedes Mal soll es irgendetwas Unfehlbares sein, das einem die Zweifel erspart, das einem das eigene Prüfen und Überlegen abnimmt, irgendetwas, das es uns erspart, noch weiter auf der unsicheren Suche zu bleiben.

Aber Glauben heißt genau das: dem Ruf Gottes folgen, nie endgültig angekommen sein, eine Zeit lang Gast zu sein und dann weiter zu ziehen. Das ist eine große Freiheit. Man lebt mit offenen Fragen, es gibt keine abschließenden Antworten, aber Gott ist nahe. Das ist ja das Besondere an Nomaden, dass sie keinen festen Ort haben, aber die Beziehungen, die bleiben bestehen. Und so ist Gott von Haus aus ein Nomadengott, der sich nicht an einen bestimmten Ort bindet, sondern an Menschen. Ein Gott der uns auf dem Weg vorangeht, wie Jesus seinen Jüngern vorangegangen ist.

Abraham hat in dieser Unsicherheit leben können, so sagt es der Hebräerbrief, weil er auf die Stadt wartete, die Gott noch bauen würde. Er hatte eine unsichtbare Heimat, deshalb musste er sich keine sichtbare suchen. Er hatte einfach etwas Besseres. Weil er im Unsichtbaren verwurzelt war, hat er immer wieder das Sichtbare loslassen können. Auch für Abraham war das nicht leicht, aber er hat es fast immer geschafft. Und genau so hat er dann Gott gefunden und war von Gott getragen. Und Jesus zieht die Linie dann bis zum Ende aus und lässt sein Leben los und geht in den Tod und findet genau dort Gott und wird mitten im Tod noch von Gott gehalten. Abraham hat den Weg begonnen, Jesus ist ihn bis zum Ziel gegangen, und so sind wir eingeladen auf diesen Weg der Freiheit. Wer auf das Unsichtbare vertraut, der wird frei von den Zwängen des Sichtbaren. Und so wird er Gott kennenlernen, wie man ihn nirgendwo sonst kennenlernen kann, und er wird die Welt so beeinflussen, wie man es von keinem anderen Ort aus kann.