Seid ihr noch bei Trost?

Predigt am 15. Mai 2005 zu Galater 3,1-5

31 O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch bezaubert, denen doch Jesus Christus vor die Augen gemalt war als der Gekreuzigte? 2 Das allein will ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke oder durch die Predigt vom Glauben? 3 Seid ihr so unverständig? Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden? 4 Habt ihr denn so vieles vergeblich erfahren? Wenn es denn vergeblich war! 5 Der euch nun den Geist darreicht und tut solche Taten unter euch, tut er’s durch des Gesetzes Werke oder durch die Predigt vom Glauben?

Es gibt nur einen Brief im Neuen Testament, in dem Paulus richtig heftig wird, und das ist der Galaterbrief. In der Lutherübersetzung »o ihr unverständigen Galater« klingt das noch einigermaßen harmlos und gesittet, aber emotional meint Paulus das so, als wenn wir sagen würden: »ihr blöden Bayern« oder »ihr ahnungslosen Ostfriesen«. Habe ich euch nicht immer wieder von Jesus erzählt, der gekreuzigt wurde, weil sein Gott ganz anders war als das, was sonst über Gott erzählt wird? Und jetzt kommen Leute aus der ideologischen Nachbarschaft derer, die ihn ans Kreuz gebracht haben, und ihr lasst euch ausgerechnet von denen erzählen, was man als Christ tun und lassen soll? Sagt mal, seid ihr noch bei Trost?

Muss ich euch eigentlich erst wieder an die ganzen christlichen Selbstverständlichkeiten erinnern? Habt ihr schon vergessen, was eigentlich der Grund war, dass ihr zu Jesus gekommen seid? Habt ihr die Kraft des Heiligen Geistes vergessen, die euch aus den zerstörerischen Bindungen des Heidentums befreit hat? Und die ganzen Krafterweise, die ihr von Anfang an erlebt habt, bis heute – Wunder, Zeichen, Gottes Taten unter euch, Zungenrede, Prophetie, Heilungen – woher kommt das alles, wenn nicht durch die unberechenbare, revolutionäre Kraft des Heiligen Geistes und durch die Verkündigung, das Evangelium, das dieser Kraft Gottes einen Weg bahnt, in die Mitte der Gemeinde und in euer Herz? Habt ihr euch schon ausreden lassen, dass da das Kraftzentrum eures Christseins ist? Glaubt ihr denn, das alles würde auch kommen, wenn ihr einfach nur brav die Gebote des jüdischen Gesetzes lernen und beachten würdet?

Wie gesagt, in diesem Brief wird Paulus richtig heftig. Der muss sich vorkommen, als ob er im Dschungel ein Camp für Abenteuerurlauber aufgebaut hat, wo man sich über Wasserfälle abseilt und das Abendessen mit bloßen Händen fängt, und nach einem Jahr kommt er zurück und es ist ein Sanatorium für Herzkranke draus geworden. Nichts gegen Sanatorien, die braucht man manchmal, aber wenn sich in der christliche Gemeinde die Ruhe und Langeweile einer Kurklinik breit macht, dann ist das nicht mehr die Gemeinde, die Jesus gegründet hat. Dafür hätte ihn niemand gekreuzigt.

Deswegen wird Paulus immer dann so richtig heftig, wenn Leute versuchen, unter der Hand so ein weichgespültes Christentum einzuführen, dass diesem Konflikt, in den uns Jesus gestellt hat, aus dem Weg geht. Paulus hat ja selbst immer Ärger gehabt, auch in seiner Zeit in Galatien, und hat gewusst: das ist unvermeidlich, wenn ich in den Spuren Jesu gehe, das ist nicht angenehm, aber es ist die Sache wert, den Preis muss ich bezahlen.

Können Sie verstehen, dass er jetzt sagt: Ich hätte mir die ganze Mühe sparen können, wenn am Ende aus euch nur diese netten, harmlosen, zuverlässigen guten Nachbarn werden, brave, adrette Leute, die nie bei Rot über die Ampel gehen, deren Lieblingszahl die Nr. Sicher ist, die bei jeder Mutter als Schwiegersohn eine gute Figur machen würden, angepasste, immer ein wenig langweilige graue Mäuse. Glaubt ihr denn, dafür hätte Jesus sterben müssen, dass ihr diese harmlosen Gutmenschen werdet?

Wenn wir heute so einen Satz lesen wie »Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke oder durch die Predigt vom Glauben?«, dann ist unser spontaner Eindruck: ja, wieder eine von diesen theologischen Spitzfindigkeiten, die keiner so richtig versteht und die keine Bedeutung haben! Aber in Wirklichkeit geht es darum, ob das Christentum eine Religion ist, die immer hübsch im Rahmen bleibt, kalkulierbar, einsichtig, machbar – oder ob wir leben von der unberechenbaren Nähe Gottes, die uns beglücken und überwältigen kann, die intim und verletzlich ist, zart und mitfühlend, und dann wieder wie eine Flut, die an die Ufer dieser Welt brandet, wo jede Welle höher ist als die vorige, die die Grundfesten unseres Lebens erschüttert, so dass wir uns manchmal mitten in Trümmern wiederfinden – und trotzdem ist da die Hand des Vaters, der uns mitten in dem Chaos nicht verlässt, und der uns ermächtigt, der uns die Kraft verleiht, zu kämpfen und zu bestehen.

Die Leute, an die Paulus schreibt, die waren auf dem besten Weg, dieses starke Christentum zu verspielen. Dieses siegesfreudige Christentum, wo einer sagt: Jesus ist gekommen, um die Werke des Satans zu zerstören – und ICH WERDE DABEISEIN. In Galatien hatten sich Leute eingeschlichen, die daran arbeiteten, in das Herz der Christen Verunsicherung zu pflanzen. Sind wir eigentlich richtige Christen? Machen wir auch wirklich alles richtig?

Ist doch klar, wenn du erst anfängst, so zu fragen: mache ich auch wirklich alles richtig, dann hast du schon verloren, denn wer macht schon alles richtig? Wenn du über jemanden Macht bekommen willst, dann musst du ihn nur so lange verunsichern, bis er darum bettelt, dass du ihm bestätigst, dass er OK ist, dann hast du ihn in der Hand. Aber solange jemand mit Gott im Reinen ist und von ihm hört: du bist mein lieber Sohn, du bist meine hochgeschätzte Tochter, solange ist das der unabhängigste Mensch der Welt. Jesus war stark, weil er direkt von Gott gehört hat: ich habe meine Freude an dir, mach so weiter! Jesus musste nie von einem Menschen bestätigt bekommen, dass er OK ist, weil er das ein für alle Mal von Gott gehört hatte. Und jetzt macht euch klar: wenn Jesus in uns lebt, dann sagt das Gott zu uns genauso. Mein lieber Sohn, meine hochgeschätzte Tochter, ich freue mich an dir. Ich bin so froh, dass ich dich geschaffen habe. Ja, es war genau richtig, dass ich das getan habe!

In Galatien traten Leute auf, die versuchten, den Christen diese Sicherheit zu stehlen. Es gibt Menschen, die sind so verwundet und eingeschränkt, dass sie es nicht ertragen, wenn andere frei und voller Kraft ihren Weg gehen. Sie kamen an und sagten: alles gut und schön, was Paulus euch da erzählt hat, aber das Entscheidende fehlt. Wenn ihr richtige Christen sein wollt, dann müsst ihr euch aber beschneiden lassen zum Zeichen, dass ihr das jüdische Gesetz haltet – Zeigefinger hoch.

Was ich jetzt sage, das ist vielleicht ein bisschen unappetitlich, mindestens in einer Predigt, aber es ist wichtig, und es steht ja auch in der Bibel, und der ist es eigentlich kaum peinlich. Beschneidung geschieht so, dass den männlichen Babys an ihrem Geschlechtsteil ein Stück Haut abgeschnitten wird. Das tut ihnen wahrscheinlich ziemlich weh, aber das übersteht man schon. Wichtig ist die symbolische Aussage dahinter: es gibt da eine gefährliche Stelle, ein riskantes Körperteil, und das muss beschnitten werden, damit es gebremst wird, damit es unter Kontrolle kommt. Das ist das Wesen des Gesetzes: die menschlichen Kräfte zu kontrollieren, sie zu beschneiden, damit sie keinen Schaden anrichten.

Eigentlich ist das ja eine komische Methode: Gott hat uns jede Menge Kraft und Energie gegeben, und jetzt soll die begrenzt werden, damit sie nichts kaputt macht. Das ist wie mit diesen Motorrädern, die eigentlich 100 km/h fahren können, und dann wird da eine Drossel eingebaut, damit sie nur noch 40 oder 25 fahren. Wenn man an die vielen Unfälle gerade mit Motorrädern denkt, dann ist das ja sinnvoll, aber irgendwie bleibt es doch merkwürdig, und es gibt dann ja genügend Bastler, die die Begrenzung wieder ausbauen.

Das Gesetz ist so eine Art Begrenzung, die verhindert, dass Menschen Unfälle mit riesigem Schaden anrichten. Aber in dem Moment, wo der Geist Gottes in einem Menschen wohnt, wo der Sinn Jesu in sein Herz gepflanzt wird, da ist diese Begrenzung nicht mehr nötig, ja, da ist sie sogar immens schädlich, weil sie dann ja das neue Leben begrenzt, das Jesus bringt. Ihr kennt diese Geschichten: Jesus will heilen, er will Leben aufrichten, und dann kommt das Gesetz in Gestalt der Pharisäer und sagt: Halt, heute ist Sabbat, verboten – Zeigefinger hoch!

Wenn man den Galaterbrief weiterliest, dann kommt man zu einer ganz besonders heftigen Stelle (5,12), wo Paulus schreibt: die Leute, denen so viel an der Beschneidung liegt, die sollen sich doch gleich kastrieren lassen! Stellen wir uns mal vor, das würde heute einer sagen! Wie viele Leute würden dann sagen: das ist lieblos und hässlich und so redet ein Christ nicht! Merkt ihr wie brav und weichgespült unser Christentum inzwischen geworden ist? Einer wie Paulus wäre heute schwer zu ertragen! Der ist wirklich kein adretter Traum-Schwiegersohn.

Aber worum geht es ihm, wenn er so was Drastisches sagt? Tiere kastriert man, damit sie sanfter werden. Ein Hengst oder ein Stier, die können ziemlich ungemütlich werden, wild, gefährlich. Wenn man sie kastriert, dann sind sie ruhiger, sie sind leichter zu zähmen, sie sind ungefährlich.

Die Sache hat nur einen Haken: sie können kein Leben mehr weitergeben. Und Paulus graust es vor einem Christentum, das kein Leben mehr weitergeben kann, das ungefährlich geworden ist, ein gezähmtes Christentum, das die unberechenbare Kraft des Heiligen Geistes ersetzt hat durch die Regeln, die uns zu unauffälligen, unanstößigen, gut funktionierenden netten Kerlen macht. Sicher, das ist besser als wenn wir ein gewalttätiges oder gemeines Leben führen würden, aber es viel weniger als das, wozu wir berufen sind. Es ist nichts, wofür man sich begeistern kann. Es ist nichts, was unsere ganze Kraft und unser ganzes Herz fordert. Um es im Bild zu sagen: So richtig Geschwindigkeitsbeschränkungen sind, weil es sonst noch viel mehr schreckliche Unfälle geben würde – aber ich habe noch nie jemandem erlebt, der mit leuchtenden Augen erzählt hätte: Toll! Ich habe es geschafft! Ich habe alle Geschwindigkeitsbeschränkungen zwischen Peine und Ilsede eingehalten!

Also: woher kommt die Kraft des christlichen Glaubens? Dadurch, dass wir die Regeln einhalten und uns in unseren Möglichkeiten vorsichtshalber beschneiden? Oder so, dass wir die Geschichte von Jesus gehört haben, der den Kampf aufgenommen hat gegen die Mächte, die den Menschen die Kraft aussaugen, sie arm, schuldig, klein und krank machen und ihnen die Freude nehmen? Jesus, der sich nicht hinter Schreibtischen, Paragrafen und Uniformen verschanzt hat, sondern der einfach mit seiner menschlichen Substanz und in der Kraft Gottes präsent war und so die Welt bewegt hat wie kein anderer? Die Geschichte von Jesus, der aus dem Weg geräumt wurde, weil er allein durch die Macht seines Wortes bedrohlich wurde, und den Gott auferweckt hat, und dessen Geschichte nie zu Ende sein wird?

Wenn wir diese Geschichte hören und da selbst mit hineingezogen werden, dann wächst seine Kraft auch in uns, dann fangen wir an, den gleichen Kampf zu kämpfen, wir lernen von ihm, dann wachsen unsere Möglichkeiten, und die sollen nicht beschnitten werden. Dann gedeiht unser Herz, das vorher schon so klein und zusammengeschrumpft war, und es fängt wieder an zu leben, und wir können mit leuchtenden Augen Geschichten erzählen, die andere ebenso begeistern und bewegen. Und sie werden kühn und brechen auf und kommen mit.

Nur durch diese Inspiration wird das Leben Jesu weitergegeben. Die muss bewahrt werden, die darf nicht ersetzt werden durch das Einhalten von Regeln. Christen sollen ungezähmt bleiben, unbegrenzt, sie sollen Leben spenden, unberechenbar sein, wild und ohne Ängstlichkeit und so, dass Menschen aufblühen in ihrer Gegenwart und die Pharisäer mürrisch das Weite suchen.

Wir sollen so sein wie unser Gott: unkontrolliert, unberechenbar und absolut vertrauenswürdig.