Lass dir nicht unversehens deine Berufung stehlen!

Predigt am 29. September 2002 zu Epheser 5,15-20

15 So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, 16 und kauft die Zeit aus; denn es ist böse Zeit. 17 Darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist. 18 Und sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. 19 Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen 20 und sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.

Die Welt ist nicht so, dass man einfach in den Tag hinein leben könnte: wir leben in einer bösen Welt. Es ist eine Welt, in der ein Kampf tobt, ein Kampf darum, ob Gottes Schöpfung ihre Bestimmung erreichen wird oder nicht. Und genauso findet in jedem einzelnen Leben ein unaufhörliches Gezerre darum statt, ob wir unsere Berufung erreichen oder verfehlen. Auch in unserem Leben gibt es diesem zähen Kampf darum, ob wir der Mensch werden, zu dem Gott uns berufen hat, oder ob wir große Teile unseres Lebens weit weg von unserer eigentlichen Berufung leben.

Deshalb soll unsere Aufmerksamkeit für unseren Lebensweg nicht nachlassen. Wir können es uns nicht leisten, da nachlässig zu sein, weil der Feind Gottes und der Menschen jede Gelegenheit ausnutzt, um uns von unserem Weg abzubringen. Deswegen sagt Paulus dem Sinn nach: achtet genau darauf, dass ihr nicht wie Blödmänner durch euer Leben stolpert, sondern versteht, was Gottes Wille ist! Es soll für uns nicht eine Ausnahmesituation sein, dass wir sagen: mir ist jetzt ganz deutlich, was Gottes Wille ist und was ich tun soll! Sondern das soll der Normalzustand für uns sein, dass wir uns sicher sind, dass wir unser Leben auch in den Einzelheiten nach Gottes Willen gestalten.

Ich will das mal vergleichen mit dem Steuern eines Autos und dem Lenken einer Eisenbahn. Bei einem Auto muss man jeden Augenblick genau darauf achten, wo man hinlenkt. Es reicht in manchen Situationen schon, wenn du eine Zehntelsekunde nicht aufpasst oder wegschaust, und schon bist du zu weit rechts oder zu weit links und verursachst einen schweren Unfall.

Bei einer Eisenbahn ist das anders. Die findet ihren Weg allein. Da muss schon viel passieren, bis ein Zug die Gleise verlässt und sich seinen Weg selbst sucht. Es gibt natürlich auch bei der Eisenbahn noch genug Möglichkeiten, Fehler zu machen, und wenn wir einen Lokomotivführer unter uns haben, der wird sich jetzt im Stillen sagen: glaub nur nicht, dass ich bei meiner Arbeit nicht aufpassen muss! Das stimmt, und trotzdem gibt es diesen Unterschied, dass ein Auto in jedem Augenblick gelenkt werden muss, und auf die Ampeln achten muss man auch noch.. Und deshalb ist unser Leben heute eher mit dem Steuern eines Autos vergleichbar als mit dem Führen einer Lokomotive.

Im Paradies war das nicht so. Der Lebensweg von Adam und Eva war viel stärker vorgezeichnet, der ähnelte mehr dem Bahnfahren. Die beiden haben dann ja leider auch ein rotes Signal einfach überfahren, und es gab deshalb ein großes Unglück. Aber da gehörte schon viel zu, bis das passierte. Die Schlange musste harte Überzeugungsarbeit leisten, bis Eva die verbotene Frucht nahm. Sie musste Eva zuerst überhaupt diese Möglichkeit bewusst machen, dass Menschen etwas anderes tun könnten als Gottes Willen. Paradiesische Zustände! Das Paradies war so eingerichtet, dass man dort spontan dem Willen Gottes entsprechend lebte. Da musste man nicht jeden Augenblick höllisch aufpassen, wo man hinsteuert. Da wiesen fast alle Vorgaben der Umwelt in Richtung Gott. Da konnte man leben wie der Lokführer einer gemütlichen Bimmelbahn, der sich zwischendurch ruhig mal die Gänseblümchen neben den Schienen ansehen kann, ohne dass es deswegen gleich zu einem großen Unglück kommt.

Aber wir leben nicht mehr in paradiesischen Zuständen, sondern wir müssen unser Leben in jedem Augenblick steuern, sonst fahren wir es gegen die Wand. Deshalb sagt Paulus: kein Alkohol am Steuer eures Lebens! Lasst euch nicht volllaufen, dann habt ihr keine Kontrolle mehr darüber, wo es hingeht! Natürlich haben die ersten Christen Wein getrunken, das war damals ein normales Getränk, aber es soll nicht sein, dass man soviel trinkt, dass man nicht mehr die Kontrolle über sein Leben hat.

Kurz vorher hat Paulus geschrieben: Ihr seid Licht, ihr unterscheidet euch von denen, die in der Finsternis leben! Und nun soll in unserem Leben dieses Licht auch wirklich leuchten und nicht dadurch verdunkelt werden, dass wir falsche Entscheidungen treffen. Jesus hat nicht nur unser Leben im Ganzen erlöst, sondern er hat auch einen neuen Lebensstil gebracht, der uns prägen soll vom Moment an, in dem wir zu Jesus finden. Der Missionsauftrag Jesu an seine Jünger lautet nicht nur: tauft die Menschen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, sondern er geht weiter: lehrt sie, alles zu halten, was ich euch befohlen habe! Indem wir zu Jesus finden, bekommen wir eine neue Lebensgrundlage, und dann geht es darum, dass unser Leben von dieser Grundlage aus auch gelebt wird.

Das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu kann der Feind nicht mehr rückgängig machen, aber er versucht zu verhindern, dass Christen das Leben Jesu leben. Er tut alles, damit wir den Kontakt zum neuen Leben Jesu in uns verlieren. Er lässt sich viel einfallen, damit wir unsere Energie nicht auf diesen Punkt richten, wie das neue Leben Jesu in uns Gestalt annehmen kann. Es ist ein ganz gefährlicher Glaube, dass das von allein kommen würde. Das war im Paradies so, da reichte Liebe zu Gott und der Wille zum Gehorsam. Aber uns, die wir jenseits von Eden leben, uns schreibt Paulus: achtet genau darauf, wie ihr lebt! Konzentriert eure Energie und euer Nachdenken darauf, dass ihr mit eurem Leben auch ganz praktisch das Leben Jesu widerspiegelt, dass ihr erkennbar ein alternatives Lebe lebt, eine faszinierende Alternative zu dem normalen Leben, das die meisten Menschen eigentlich gerne gegen etwas Besseres eintauschen würden.

Die Menschen wünschen sich eine echte Alternative, aber sie glauben nicht mehr, dass es sie wirklich gibt. Daran ist Stoiber gescheitert: die Leute hätten es zwar gerne, dass die Arbeitslosigkeit besiegt wird, aber sie trauen es keinem zu, dass er das schaffen kann, und dann entscheiden sie lieber nach dem Eindruck, bei wem es wahrscheinlicher ist, dass er uns vor einem Krieg bewahrt und davor, dass unser Kinder im Irak sterben müssen.

Die ersten Christen waren für ihre Zeitgenossen dagegen so anziehend, weil sie eine praktisch funktionierende Alternative anbieten konnten, den Lebensstil Jesu. Dafür nahmen die Menschen Verleumdungen, Angriffe und sogar den Tod in Kauf, weil sie bei diesem attraktiven Leben dabei sein wollten. Und sie wussten ja: selbst wenn wir dafür sterben müssen, wir werden auferstehen und es wird weitergehen! Wir werden dieses tolle Leben, das wir gefunden haben, nie wieder verlieren!

Aber im Lauf der Jahrhunderte ist dann in der Kirche genau dieses geschehen, dass die konkrete sichtbare Lebensalternative Stück für Stück demontiert worden ist, und immer mehr verschob sich die Aufmerksamkeit auf das Jenseits, auf den Himmel, und das neue Leben Jesu hier auf der Erde, in den Christen, geriet demgegenüber aus dem Blick. Aber die Logik im Reich Gottes läuft in Wirklichkeit andersherum: je mehr wir mit dem neuen Leben in diesem Augenblick hier auf der Erde verbunden sind, um so sicherer ist uns der Himmel. Und je mehr wir unsere Konzentration von der Erde fort auf den Himmel richten, um so größer ist die Gefahr, dass wir das heutige Rendezvous mit Jesus verpassen.

Das Wissen darum, dass die Zeit ihrem Ende entgegen geht und die neue Welt Gottes kommen wird, das führt bei Paulus (genau so wie vorher bei Jesus) nicht zu der Konsequenz, dass er sagt: lasst uns sehen, dass wir irgendwie durchhalten, bis dieses Jammertal hinter uns liegt. Zähne zusammenbeißen und auf den Himmel oder die Entrückung warten! Sondern dieses Wissen um die Rückkehr Jesu, das bringt Paulus dazu, zu sagen: dann lasst uns diese Zeit, die wir bis dahin noch haben, auch wirklich ausnutzen bis zum letzten Moment, lasst uns alle Möglichkeiten ergreifen, lasst uns jetzt schon mit der Qualität leben, die mal die ganze Ewigkeit prägen wird. Alle anderen, die müssen warten, aber wir haben das schon jetzt, deshalb richtet eure Konzentration darauf, dass ihr das auch wirklich ausschöpft und lasst euch das Lebenssteuer nicht aus der Hand nehmen, sondern ergreift es und steuert konzentriert und energisch allen Versuchen entgegen, euch von Jesus zu trennen in euren konkreten Lebensentscheidungen.

Und es geht dabei nicht gleich um die großen und dramatischen Spitzenentscheidungen, an die wir zuerst denken, sondern um ein kontinuierliches Leben Tag für Tag aus der Gegenwart und der Weisheit Jesu. Aus so einem Leben wachsen dann ohne sehr viel Mühe auch die beeindruckenden Lebensentscheidungen heraus, die wir an den großen Christen so bewundern.

Ein Mann wie Dietrich Bonhoeffer hat seinen Weg ins Martyrium im Dritten Reich nur gehen können, weil er sich von Anfang an immer wieder ganz praktisch darin geübt hat, jeden Tag von Jesus her zu leben. Seine Bereitschaft, auch sein Leben aufs Spiel zu setzen, ist vorbereitet gewesen durch die vielen Male, wo er bereit war, alte Lebensgewohnheiten, alte Denkmuster und auch alte Freunde hinter sich zu lassen und dem Ruf Jesu zu folgen. Und als dann der Ruf Jesu kam, ihn auch mit seinem Tod zu verherrlichen, da war er bereit.

Ich glaube, wenn Paulus heute schreiben würde, dann würde er als große Gefahr für ein Leben mit Jesus gleichberechtigt neben dem Alkohol auch das nennen, was wir heute unter dem großen Oberbegriff »Unterhaltung und Entspannung« zusammenfassen. Dass man im Rausch das Lebenssteuer aus der Hand gibt, das passiert natürlich immer noch, und bei fast allem Elend, das es unter Menschen gibt, ist auch immer der Alkohol irgendwie beteiligt.

In unserer Zeit ist aber gegenüber der Zeit des Paulus neu, dass wir nicht mehr so viel arbeiten müssen wie die meisten Menschen damals, und dass wir in der Zeit, die wir dadurch gewonnen haben, uns mit Dingen beschäftigen, die uns zwar fesseln, aber unser Herz unterfordern. Alle Arten von Medien gehören dazu. Die tun alles, damit wir mit aller Konzentration unsere Aufmerksamkeit auf sie richten.

Und wir möchten das auch, weil Glück nämlich zu einem ganz großen Teil dadurch zustande kommt, dass wir uns voll hineingeben und engagieren, dass wir mit Herz und Seele bei einer Sache sind. Es liegt in unserem Wesen, dass wir unsere Erfüllung in der Hingabe finden. Und von daher hat es Sinn, wenn einem versprochen wird, dass man in einem Film von Anfang bis zum Ende eine Gänsehaut haben wird, oder wenn z.B. für Computerspiele geworben wird mit dem Argument, die hätten einen »hohen Suchtfaktor«. Die Leute, die das schreiben, die haben etwas verstanden über das Wesen des Menschen. Wir können das echte Glück nur finden, wenn wir uns mit Leib und Seele und mit voller Konzentration engagieren, und diese vorsichtige Zurückhaltung und die Furcht davor, sich festzulegen, die mag in vielen alltäglichen Dingen richtig sein, aber am entscheidenden Punkt hält sie uns vom großen Glück fern.

Nur die Frage bleibt natürlich, ob wir uns denn auf das Richtige konzentrieren, und ob wir nicht am Ende leer und enttäuscht zurückbleiben. Und ob wir nicht eben durch diese Art von Sucht das Lebenssteuer aus der Hand geben und auf diese Weise das Glück verlieren. Alle Süchte arbeiten ja mit dem Glücksversprechen, und deswegen kommt man mit Vernunft so schwer dagegen an. Was ist schon Vernunft, wenn jemand den Eindruck hat: jetzt, einmal im Leben, begegne ich dem großen Glück, da greife ich zu, und über die Folgen kann ich später immer noch nachdenken.

Deswegen schreibt Paulus hier nicht nur vom vernünftigen Standpunkt aus. Er sagt auch: statt euch zu betrinken, lasst euch vom Geist Gottes erfüllen. Dem Glücksversprechen, das uns Alkohol oder Unterhaltungsmedien machen, dem setzt er ein anderes Glücksversprechen entgegen: den Geist Gottes live zu erleben – das ist ein größeres Glück, es ist beständiger, es ist auch billiger, und es lässt uns nicht mit einem Kater oder unbestimmter Unzufriedenheit zurück. Paulus spricht Herz und Verstand an, weil wir nur so genügend Widerstandskraft entwickeln gegen die Tricks des Feindes. Auch unser Herz muss von Jesus her gefüllt werden, damit wir nicht hinter einer christlichen Außenhaut unsere eigentliche Lebensenergie aus ganz anderen Quellen beziehen.

Und er spricht von den Hilfsmitteln, die wir dafür zur Verfügung haben, dass man im Herzen singen und spielen kann für Gott, und dass man dankbar wird. Das Glück hängt ja davon ab, ob man dankbar sein kann. Es gibt Menschen, die viel haben aber unzufrieden bleiben, weil sie es nicht merken. Und wenn wir in der Gemeinde und in unserem Herzen für Gott singen und uns freuen, dann kommt Gottes Geist leicht zu uns. Darüber müssen wir ein anderes Mal gründlicher nachdenken. Heute lag der Schwerpunkt mehr auf dem Verstand. Aber die Aufgabe bleibt uns: unter Einsatz unserer ganzen Aufmerksamkeit ein Leben zu lernen, in dem sich die Person Jesu und sein Leben widerspiegeln in unserer Zeit und unter unseren Bedingungen. Und damit jahrhundertealte Defizite der Christenheit auszugleichen.