Wer einmal lügt … – Befreiung zur Wahrheit

Predigt am 15. Oktober 2000 zu Epheser 4,25-32

25 Legt das Lügen ab und sagt zueinander die Wahrheit; denn wir alle sind Glieder am Leib von Christus. 26 Versündigt euch nicht, wenn ihr in Zorn geratet! Versöhnt euch wieder und lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. 27 Gebt dem Versucher keine Chance! 28 Wer vom Diebstahl gelebt hat, muss jetzt damit aufhören. Er soll seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen und zusehen, dass er auch noch etwas für die Armen übrig hat. 29 Lasst ja kein giftiges Wort über eure Lippen kommen! Seht lieber zu, dass ihr für die anderen, wo es nötig ist, ein gutes Wort habt, das weiterhilft und denen wohltut, die es hören.

30 Beleidigt nicht durch euer Verhalten den Heiligen Geist! Er ist wie ein Siegel, das Gott euch aufgedrückt hat, und er verbürgt euch die endgültige Erlösung. 31 Weg also mit aller Verbitterung, mit Aufbrausen, Zorn und jeder Art von Beleidigung! Schreit einander nicht an! Legt jede feindselige Gesinnung ab! 32 Seid freundlich und hilfsbereit zueinander und vergebt euch gegenseitig, was ihr einander angetan habt, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat, was ihr ihm angetan habt.

Wir alle haben eine starke Sehnsucht nach der Wahrheit in uns. Nicht nur danach, dass andere ehrlich mit uns sind, sondern auch danach, dass wir selbst uns nicht verbergen müssen. Wir sind Geschöpfe Gottes, wir sind so gemacht, dass wir vor Gott völlig transparent sind, und es widerstrebt uns im Grunde, wenn wir uns vor anderen, vor Gott und vor uns selbst zu verstecken versuchen. Wir wünschen es uns, dass uns einer wirklich versteht, dass wir uns vor einem Menschen jedenfalls nicht verbergen müssen, dass es irgendeinen Platz in der Welt gibt, wo wir ganz ehrlich sein können.

Und ich glaube, dass es verheerende Folgen hat, wenn ein Mensch das überhaupt nicht hat: einen Platz, wo er einfach nur er selbst sein kann, ohne Maske und Theaterspielen. Und wer überhaupt keinen Menschen hat, vor dem er sich traut, ehrlich zu sein, der hat jedenfalls die Möglichkeit, vor Gott ehrlich zu sein. Das ist das Gute, wenn wir allein beten, dass wir da keine Rücksicht auf Menschen nehmen müssen und uns so geben können, wie wir wirklich sind. Wer keinen Menschen hat, vor dem er ziemlich ehrlich sein kann, der soll auf jeden Fall beten, damit er weiß, wer er ist. Denn wenn ein Mensch nur noch Rollen spielt, dann weiß er bald selbst nicht mehr, was Wahrheit ist und was nicht. Wir können nicht im Innern die Wahrheit festhalten und nach außen Theater spielen. Wir müssen uns entweder zu mehr Ehrlichkeit nach außen durchringen, oder wir werden auch innerlich uns selbst etwas vormachen und an das glauben, was wir den Menschen um uns herum vorzuspielen versuchen.

Wer nach außen aus Angst vor Belastungen den Kranken spielt, glaubt bald selbst, dass seine Gesundheit ein empfindliches Gewächs ist und wird irgendwann wirklich krank. Wer allen erzählt, dass er nicht fähig ist, Sachen gut und zuverlässig zu erledigen, bekommt bald wirklich nicht mehr alles auf die Reihe.

Psychologen und Therapeuten und Seelsorger werden dafür bezahlt, dass sie Menschen einen sicheren Platz bieten, wo sie sich nicht verstecken müssen, sondern wahrhaftig sein können ohne Rücksicht auf die Folgen. Und diesen Platz brauchen vor allem Menschen, die nicht oder nicht mehr wissen, was denn die Wahrheit über sie selbst ist, und die dadurch krank geworden sind. Und sie müssen dann Schritt für Schritt lernen, zu dieser Wahrheit hinzufinden und sie müssen den Mut bekommen, sich dieser Wahrheit auch zu stellen.

Dumm natürlich, wenn ausgerechnet jemand aus dieser Berufssparte Angst vor der Wahrheit hat. Aber da ist er ja in guter Gesellschaft. Wir haben nämlich alle auch Angst vor der Wahrheit. Was wird passieren, wenn ich einfach ehrlich bin? Was wird passieren, wenn ich meinem Arbeitskollegen sage, wie sehr er mir auf die Nerven geht? Was wir passieren, wenn ich meinem Partner sage, dass meine Liebe zu ihm fast erloschen ist? Was wird passieren, wenn ich meinen Eltern sage, wie sehr sie mich mit ihrem Gerede nerven? Was wird passieren, wenn die Leute erfahren, dass ich mich meinen Aufgaben kaum gewachsen fühle und die Probleme nur vor mir herschiebe und vertusche?

Sind das berechtigte Fragen? Ja! Fast niemand lügt aus purem Spaß an der Unwahrheit, und wenn doch, dann hat er lange gebraucht, bis er so weit ist. Wenn wir lügen, dann hat das fast immer einsichtige Gründe, es ist nachvollziehbar, weshalb wir die Wahrheit, na, sagen wir mal, nett umschreiben. Wir fürchten die Folgen. Wir fürchten Streit und Feindschaft, wir fürchten unangenehme Einsichten über uns selbst, wir fürchten die Reaktion des anderen, und weil wir uns alle davor fürchten, deshalb rühren wir normalerweise nicht an die Fassaden, die wir gegenseitig aufbauen,

Lügen sind eigentlich immer Notlügen, weil sie eine Einsicht in die Wahrheit verhindern sollen, vor der wir große Angst haben. Wenn wir nicht mehr sagen würden: ich kann nicht kommen, ich habe keine Zeit, sondern stattdessen ehrlich: ich habe keine Lust, mir sind andere Dinge wichtiger, dann bestände die Chance, dass wir entweder miteinander über diese Beziehung reden würden, die so unbefriedigend ist, oder wir würden sie vielleicht auch beenden.

Aber wir möchten Frieden und keinen Streit. Wir wollen lieber nicht so intensive Auseinadersetzungen. Und was bekommen wir dann? Es entsteht etwas, was ich »Scheingemeinschaft« nennen möchte. Eine Gemeinschaft, die darauf beruht, dass wir stillschweigend bestimmte Themen und Zusammenhänge nicht anrühren. Eine Gemeinschaft, die ihre deutlichen Tabus hat, die nicht angesprochen werden. Und das ergibt dann Ehen, Verwandtschaftsbeziehungen, Freundschaften und auch Kirchengemeinden, die strikt an der Oberfläche bleiben. Man spricht nicht über Missverständnisse, Frustrationen und verborgene Wunden. Man läßt die anderen nur in die gute Stube, alles andere ist tabu.

Aber es ist klar, dann bleibt jeder auch allein mit dem, was ihn wirklich bewegt. Nur was ich von mir zeige, kann auch geliebt werden, und nur dann kann es auch heil werden. Wie soll jemand mich wirklich lieben, wenn er mich nicht kennt? Oder wenn er nur ahnt, was da alles noch verborgen ist. Denn natürlich kann sich niemand wirklich ganz verbergen. Was da mit uns los ist – die anderen sehen es, sie ahnen es, aber sie verstehen den Zusammenhang nicht, weil wir ihn nicht erklären.

Aber der liebe Friede, der dadurch entsteht, hat seinen Preis. Die unausgeräumten Missverständnisse, die ungenannten Kränkungen und Verdächtigungen, die gesammelten Enttäuschungen begleiten uns ja weiter. Sie vergiften die Atmosphäre. Sie melden sich als schlechte Laune, Gereiztheit, Motivationslosigkeit, sexuelle Störungen, Schweigen und Streit um Nebensächlichkeiten. Sie übertragen sich auf andere, die mit dem ursprünglichen Problem gar nichts zu tun haben.

Unzählige Ehen, Familien und Freundschaften gehen diesen Weg von einem hoffnungsvollen Anfang hin zu einem Ende als Scheingemeinschaft.

Und die Veränderung ist so schwer, weil wir alle ahnen, was das erste wäre, wenn wir uns der Wahrheit stellen würden: es würde knallen, es gibt Schreie und Tränen, wir hätten massiven Streit, wir müssten Scherben aufsammeln und Wunden verbinden. Jeder Friede, und sei er noch so trügerisch, ist uns zunächst einmal lieber als dieses Chaos.

Der Mut, sich der Wahrheit zu stellen, das ist ja in der zweiten Szene vorhin ein Markenzeichen des Patienten gewesen. Und in der Tat ist der echte Simon Petrus jemand gewesen, der seinem offensichtlichen Versagen ins Auge geblickt hat und gerade so wieder mit sich ins Reine gekommen ist. Da hatte allerdings auch Jesus vorgearbeitet. Er hatte ihn vorher gewarnt und damit gleichzeitig deutlich gemacht, dass er die Gemeinschaft mit ihm nicht aufgibt, obwohl er weiß, was noch in Petrus steckt. So konnte Petrus sein Versagen ansehen und betrauern, weil er wusste: das ist nicht automatisch das Ende der Beziehung zu Jesus. Dieses ganze Chaos, das ich erlebe, die Zerrissenheit, mein Schmerz über mich, das ist irgendwie alles noch im Bereich der Beziehung zwischen Jesus und mir, er hält mich fest, obwohl ich mich von ihm distanziert habe.

Verstehen Sie, wir können uns der Wahrheit nur stellen, wenn wir das Vertrauen haben, dass die Basis, die Grundbeziehung stärker ist als das Chaos, das ausbrechen kann, wenn wir wahrhaftig werden. Es kann sein, dass eine schlechte Beziehung das nicht überlebt. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass sie überhaupt nicht angefangen hätte, wenn wir von Anfang an ehrlich gewesen wären. Menschen tasten dich ja am Anfang ab, ob du jemand bist, der sie verletzen wird, ob du jemand bist, der unangenehm ehrlich werden kann, oder ob du sie hinter ihrer Fassade in Ruhe lassen wird. Vielleicht wird aber aus einer oberflächlichen Beziehung eine tiefe und ehrliche Beziehung, wenn man miteinander die Erfahrung des Chaos, der Auseinandersetzung und der neugewonnenen Gemeinschaft gemacht hat.

Wir fürchten die Wahrheit, weil wir glauben, dass sie das Ende der Gemeinschaft bedeuten würde. Aber wenn man sich miteinander in das Abenteuer der Wahrheit hineinbegeben hat und auch wieder miteinander herausgekommen ist, dann ist die Verbindung oft ganz enorm gestärkt. Ich hatte im Studium mal einen Bekannten, von dem ich mich schlecht behandelt fühlte. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte es ihm ganz offen. Ich hatte mich auf einen heftigen Streit eingestellt, aber das war mit egal. So ging es nicht weiter. Es gab aber keinen Streit, sondern er hörte sich das an und schluckte und akzeptierte es. Ich war auf einen Knall und Streit eingestellt, und er sah es einfach so ein. Von da ab waren wir nicht nur Bekannte, sondern Freunde. Ich hatte den Mut gehabt, ehrlich zu ihm zu sein und er hatte den Mut, es zu akzeptieren. Wir hatten uns kennengelernt als zwei, denen an der Wahrheit lag.

So geht das natürlich nicht immer. Meistens liegt dazwischen eine Zeit, in der man unglücklich und verunsichert ist. Und man hat keine Garantie, dass es am Ende wirklich gut wird. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass am Ende alles gut wird. Obwohl das gar nicht so selten ist. Es hängt davon ab, wie stabil die verbindende Basis ist. Im Epheserbrief, aus dem ich vorhin vorgelesen habe, heißt es: Legt das Lügen ab und sagt zueinander die Wahrheit; denn wir alle sind Glieder am Leib von Christus. D.h., Paulus sagt hier: weil es eine ganz feste Verbindung unter euch gibt, deshalb könnt ihr euch an die Wahrheit heranwagen. Wenn eure Verbindung zu Jesus fest ist, dann wird sie euch auch durch die Mühen und Schmerzen der Wahrheit hindurchtragen. Jesus lebte ja aus dem Vertrauen, dass es nichts in der Welt gibt, das so stark wäre, dass es uns von Gott trennen könnte. In seiner Kraft müssen wir uns vor keiner Herausforderung fürchten. Nichts ist so schlimm, dass uns keine andere Möglichkeit bleibt, als so lange wie möglich die Augen davor zu verschleißen.

Deshalb ist es so wichtig, eine Entscheidung für die Wahrheit zu treffen. Sich zu entscheiden, sich nicht hinter einer Lüge zu verstecken, sondern die Wirklichkeit anzunehmen so wie sie ist. Vielleicht kann ja etwas sehr Gutes und Hilfreiches passieren, wenn das eintrifft, was wir am meisten gefürchtet haben. Vielleicht müssen wir dann nicht mehr die Last des Versteckens tragen. Vielleicht entdecken wir unerwartet das wirklich tragende Fundament unserer Beziehung. Auf jeden Fall werden wir selbst mit der Wahrheit besser leben. Das verspricht uns Jesus: Die Wahrheit wird euch frei machen. Wir haben nur zu gewinnen.