Dietrich Bonhoeffer: Entdecker, Erneuerer, Kämpfer

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 26. Februar 2006 über Dietrich Bonhoeffer

Nach zehn Jahren Erfahrung mit dem Nationalsozialismus schreibt Dietrich Bonhoeffer zum Jahresende 1942 für sich selbst und für einige vertraute Freunde einen Rückblick auf das, was sie gemeinsam in dieser Zeit gelernt haben. Er schreibt:

Wer hält stand?
Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt. Dass das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen. …
Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?

Wer hält stand? Das war die Frage, mit der sich Dietrich
Bonhoeffer auf vielen Stationen seines Lebens beschäftigt hat. Er
hatte schon früh den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus
erkannt, als andere Kirchenmänner politisch durchaus mit Hitler
sympathisierten. Er hatte schon früh gesehen, dass die Kirche dem
Judenhass Hitlers in aller Klarheit widersprechen musste.

Bonhoeffer ist zuerst ein Entdecker gewesen, der in seinem liberalen
Elternhaus früh die Frage nach Gott gestellt hat und diese Frage
dann in seinem Studium weiter für sich geklärt hat. Die Begegnung
mit dem Nationalsozialismus aktivierte in ihm das Beste aus den
beiden Traditionen, in denen er stand: die geistige Freiheit des
liberalen Bürgertums einerseits und die Bibel andererseits. Er hat
sein Leben lang versucht, diese beiden Welten zusammenzubringen.

Vom Entdecker wurde er zum Erneuerer: er machte sich von da an
auch ganz praktisch auf die Suche nach Grundlagen, von denen aus
dem Nationalsozialismus zu widerstehen war. Er erlebte, wie Menschen
Hitler zufielen, weil sie in ihrem Denken kein Widerstandspotential
gegen ihn hatten. Und er dachte darüber nach, was für einen Grundansatz
Menschen brauchen, damit sie unabhängig bleiben und widerstehen
können. Wie muss man denken, um in solch einer Situation standzuhalten?

Bonhoeffers erste praktische Antwort darauf lautete: Wir brauchen
eine neue Art von Kirche, die Menschen so in Gott verankert, dass
sie resistent werden gegen den Sog des Nationalsozialismus, Menschen
mit klarem Widerstandspotential. Er bekam die Gelegenheit, diese
neue Kirche experimentell zu erproben, als er die Leitung des Predigerseminars
der Bekennenden Kirche in Finkenwalde übernahm. Von 1935 bis 1940
hat er junge Theologen der Bekennenden Kirche auf ihre Aufgaben
als Pfarrer vorbereitet. Zuerst im Predigerseminar, das bald verboten
wurde, aber illegal noch einige Zeit weiterbestand. Und als die
Gestapo 1937 das Predigerseminar schloss, da gab es noch bis 1940
ein improvisiertes Sammelvikariat. Damals hat er junge Theologen
auf eine unsichere Zukunft vorbereitet, denn sie wussten nicht,
ob sie jemals eine sichere Pfarrstelle bekommen würden, oder ob
sie nicht vielleicht nur im Untergrund als Pastoren tätig sein würden.
Zu dem Rüstzeug, das er ihnen mitgab, gehörte die praktische Erfahrung
einer geistlichen Gemeinschaft. Unter seiner Leitung entstand so
etwas wie ein geistliches Kraftzentrum. Die jungen Theologen lernten,
regelmäßig eine Meditationszeit mit der Bibel zu verbringen und
in verbindlicher geistlicher Gemeinschaft zu leben. Dazu legte Bonhoeffer
ihnen die Bergpredigt als Regel für das Zusammenleben aus. Daraus
entstand sein Buch „Nachfolge“.

In diesem Buch findet sich der Begriff der „billigen Gnade“:
eine Gnade, die Menschen zugesprochen wird, ohne dass ihnen auch
die Notwendigkeit der Umkehr und der Erneuerung des Lebens ermöglicht
und abverlangt wird. Und er schreibt: „Billige Gnade ist der
Todfeind unserer Kirche.“
Dagegen entwarf er eine Lebensgestaltung
aus der Bergpredigt heraus.

Er schrieb damals an seinen Bruder: „In der Bergpredigt sitzt
die einzige Kraftquelle, die den ganzen Zauber und Spuk einmal in
die Luft sprengen kann.“
Also auch da wieder die Frage: wo sitzt
die Kraftquelle, die dem Nationalsozialismus ein Ende bereiten kann?
Und Bonhoeffer fährt fort: „Die Restauration (also die Wiederherstellung)
der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem
alten aber nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt
in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der
Zeit, hierfür die Menschen einzusammeln.“
Das war seine Hoffnung,
eine Gruppe von Menschen zu sammeln, die mit ihrer Radikalität eines
Lebens in der Nachfolge Jesu Ausstrahlung in die gesamte Kirche
hinein hatte.

Aber man muss sagen, dass der Krieg seine Hoffnungen in dieser
Richtung sehr begrenzt hat: viele seiner jungen Theologen wurden
bei Kriegsbeginn zur Wehrmacht eingezogen, viele sind gefallen.
Aber Bonhoeffer hat aufgrund der Erfahrungen mit dieser Kommunität
im Predigerseminar Finkenwalde das Buch „Gemeinsames Leben“ geschrieben:
ein Buch, das bis heute Menschen inspiriert und anleitet.

Noch viel später, als er schon längst verhaftet war, hat er weiter
überlegt, wie eine Kirche aussehen müsste, die eine wirkliche geistliche
Macht sein und der Barbarei des Dritten Reiches widerstehen könnte.
Und er hat damals geschrieben:

„Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um
einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden
schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen
Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben.

Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens
teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss
den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist,
was es heißt, "für andere dazusein".“

Diese Vision einer „Kirche für andere“ ist beim Neuanfang der
evangelischen Kirche nach dem Kriege für viele leitend geworden.
Wirklich umgesetzt worden ist sie nicht – sie wartet noch auf ihre
Verwirklichung.

Schließlich, als ihm seine Kirche nicht folgte auf den radikalen
Wegen, die er ging, wurde er mit wenigen guten Freunden zusammen
zum Verschwörer. Er wurde zum Kämpfer, zum Widerstandskämpfer. Ein
Kreis von hohen Beamten, Offizieren und Politikern plante ein Attentat
auf Hitler. Als es 1944 misslang, fielen Tausende der Rache der
Gestapo zum Opfer, auch viele Menschen aus Bonhoeffers Verwandtschaft.

Bonhoeffer hat stets darauf bestanden, dass dies seine christliche
Entscheidung war, dass dies alles gewachsen war aus seiner Verwurzelung
in der Bibel. Er lebte von der Bibel, er war verwurzelt im Positiven
der Bibel, er strahlte Freude und Begeisterung aus und beeindruckte
damit die Menschen. Es war seine Antwort auf die Frage: „Wer hält
stand?“ Derjenige, der in Gott verankert ist, auf seine Stimme hört,
sich von ihm mit Freude füllen lässt und so immer wieder seine Unabhängigkeit
gewinnt.

Spätestens seit dem Beginn des zweiten Weltkrieges lebte Bonhoeffer
im Horizont des Todes. Das brachte die Verschwörung mit sich. Und
in dieser Gemeinschaft der Verschwörer fand er etwas, was er so
vielleicht auch in der geistlichen Gemeinschaft des Predigerseminars
nicht gefunden hatte: Menschen, die sein tiefstes Anliegen – die
Befreiung seines Volkes von dem nationalsozialistischen Joch – teilten.
Immer wieder klingt Kritik auf an denen, die sich in frommer Weltflucht
der Verantwortung für die kommende Generation entziehen, oder die
es für unfromm halten, für eine bessere irdische Zukunft zu abreiten.
„Mag sein“ schrieb er, „dass der Jüngste Tag morgen anbricht,
dann wollen wir gerne die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der
Hand legen – vorher aber nicht.“

So lebte er in seinen letzten Jahren mit der Ahnung, dass er
das Kriegsende und die Befreiung Deutschlands nicht erleben werde.
Aber gleichzeitig verlobte er sich und schrieb Skizzen für eine
neue Kirche, die bis heute aktuell sind, und auf deren Verwirklichung
wir immer noch warten. Er stieß auf Menschen, die sich nicht als
Christen bezeichnet hätten, die aber durch den Gang der Ereignisse
(und vielleicht auch durch die Begegnung mit ihm) Zugang fanden
zu längst verschütteten christlichen Wurzeln.

Er schreibt: „Andere Zeiten erlebten es, dass die Bösen zu
Christus fanden und die Guten ihm fern blieben. Wir erleben es,
dass die Guten Christus finden und die Bösen sich gegen ihn verstocken.
Andere Zeiten konnten predigen: ehe du nicht ein Sünder geworden
bist wie dieser Zöllner und diese Dirne, kannst du Christus nicht
erkennen und finden. Wir müssten eher sagen: ehe du nicht ein Gerechter
geworden bist wie diese um Recht, Wahrheit, Menschlichkeit Kämpfenden
und Leidenden, kannst du Christus nicht erkennen und finden.“

D.h., wer sich nicht am politischen Widerstandskampf beteiligt,
dem bleibt Christus fremd. Das ist die politische Zuspitzung der
Lehre von der teuren Gnade: nur wo Umkehr und Lebenserneuerung ist,
nur dort versteht man überhaupt, wer Jesus ist. Ohne Nachfolge hat
man nur ein Zerrbild von Christus.

Diese Verbindung der klösterlichen Gemeinschaft im Predigerseminar
in Finkenwalde mit der politischen Praxis des deutschen Widerstandes
– diese Verbindung hat es damals nur in der Person Bonhoeffers und
einiger weniger Mitstreiter gegeben. Dafür hat Bonhoeffer in seinen
letzten Jahren Wege skizziert, die bis heute noch nicht auf breiter
Front gegangen worden sind. Diese Verbindung war seine endgültige
Antwort auf die Frage „Wer hält stand?“. In diesem Sinn hat sich
Bonhoeffer noch in seinen letzten Tagen mit dem Neffen des russischen
Kommunisten Molotow angefreundet, einem Atheisten, den er in der
Haft traf, und hat auf dessen Bitte seine letzte Andacht gehalten.
Hätte es für diese Antwort Bonhoeffers auf die Frage nach dem Standhalten
eine breite Basis in Deutschland gegeben, dann hätte Hitler nicht
so einfach seine Zerstörungen anrichten können.

Aber so blieb Bonhoeffer am Ende nur noch, mit dem Zeugnis seines
Lebens seinen Weg, seine Entwürfe, seine Vision zu bekräftigen.
In einem Gedicht über Mose, der das Gelobte Land nur von Ferne sehen
kann, aber selbst nicht hineinkommt, hat er wohl von sich selbst
gesprochen.

Seine Ahnung hat ihn nicht getrogen. Aber sein Wunsch, der Tod
möge ihn nicht zufällig, nicht Abseits vom Wesentlichen treffen,
dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Wir haben es eben gehört,
was er zwei Jahre vor seinem Tod geschrieben hat: „Nicht die
äußeren Umstände, sondern wir selbst werden es sein, die unseren
Tod zu dem machen, was er sein kann, zum Tod in freiwilliger Einwilligung.“

So ist es gekommen. Als die SS kam, um ihn aus dem Kreis der anderen
zu holen, sagte er zu einem Mitgefangenen: „Das ist das Ende, für
mich aber der Beginn des Lebens“.

Einer der letzten, die ihn noch gesehen haben, war der Lagerarzt
von Flossenbürg. Er schrieb später: „Durch die halbgeöffnete
Tür eines Zimmers im Barackenbau sah ich vor Ablegung der Häftlingskleidung
Pastor Bonhoeffer in innigem Gebet mit seinem Herrgott knien. Die
hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebetes dieses außerordentlich
sympathischen Mannes hat mich aufs Tiefste erschüttert. Auch an
der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und
bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen. Der Tod erfolgte
nach wenigen Sekunden. Ich habe in meiner fast 50jährigen ärztlichen
Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.“