Die soziale Tradition – ein Leben für Gerechtigkeit

Predigt am 8. Februar 2004 (Die großen christlichen Traditionen IV)

Die soziale Tradition des christlichen Glaubens betont besonders, dass zum christlichen Glauben Gerechtigkeit und Befreiung gehören, und dass Christen sich dafür einsetzen sollen. Sie ist schon im Alten Testament verwurzelt. Propheten wie Amos haben Ungerechtigkeit und Unterdrückung angeprangert, und im Gesetz des Mose finden sich Vorschriften für ein Erlassjahr, in dem alle Schulden erlassen werden sollten. Dieses Erlassjahr sollte alle sieben Jahre sein, und alle fünfzig Jahre sollte es ein Jubeljahr geben, wo der ganze Grundbesitz neu verteilt wurde.

Jesus nimmt diese Tradition auf, wenn er in seiner programmatischen Antrittspredigt von dem »Gnadenjahr des Herrn« redet. Er spricht von den Armen, den Gefangenen, den Blinden und den Zerschlagenen. Er sagt zu seinen Jüngern (Lk 20,46-47): 46 Hütet euch vor den Schriftgelehrten, die es lieben, in langen Gewändern einherzugehen, und lassen sich gern grüßen auf dem Markt und sitzen gern obenan in den Synagogen und bei Tisch; 47 sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete. Die werden ein um so härteres Urteil empfangen. Und in der Bergpredigt, wie Lukas sie aufgeschrieben hat, heißt es (6,24-25): 24 Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. 25 Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn ihr werdet hungern. Auch die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus zeigt Jesu Sensibilität für die Kluft zwischen Arm und Reich.

In den christlichen Gemeinden saßen Menschen aller Gesellschaftsschichten bei einander. Sie waren mitten in einer geteilten Gesellschaft, in der Sklaven als Sachen galten, Gemeinschaften, in denen eine ganz andere Sicht aller Menschen eingeübt wurde.

Das führte schließlich dazu, dass Christen das Thema der Abschaffung der Sklaverei auf die Tagesordnung setzten. Das geschah zuerst in Amerika, als es noch eine englische Kolonie war. Damals war Amerika ein Sammelbecken für viele Christen, die in Europa verfolgt wurden, wenn sie ihren Glauben außerhalb der Staatskirche leben wollten. Eine dieser verfolgten Gruppen war die sogenannte »Gesellschaft der Freunde«, bekannter als die »Quäker«. Die Quäker lehnten feste Organisationsstrukturen und Riten ab, sie haben kein fest formuliertes Glaubensbekenntnis. Sie legen Wert darauf, in der Stille auf Gott zu hören und von ihm Weisungen zu empfangen.

Zu diesen amerikanischen Quäkern gehörte John Woolman. Er wurde am 19. Oktober 1720 geboren. Er wurde groß auf der Plantage seine Eltern. Schon als Kind hatte er Gesichte und prophetische Eingaben. Als Schüler las er am liebsten in der Offenbarung des Johannes. 1740 begann er eine Lehre bei einem Kaufmann. Dort lernte er, wie man Verträge und andere offizielle Schriftstücke abfasst. Eines Tages bekam er den Auftrag, einen Kaufvertrag für einen Sklaven zu schreiben. John war so betroffen darüber, dass der daran mitwirken sollte, einen Menschen zu verkaufen, dass er seinem Chef sagte, er »halte die Sklavenhaltung für eine Praxis, die mit der christlichen Religion nicht vereinbart« sei. Das war der Anfang. Woolman brauchte manchmal lange, bis er sich sicher war, was der Wille Gottes ist, aber wenn er sich einmal sicher war, dann blieb er hartnäckig.

Inzwischen hatte er ein eigenes Geschäft, aber vor allem war er als Wanderprediger unterwegs. Diese Reisen führten ihn auch in den Süden, wo er noch einen viel stärkerem Eindruck von der Sklaverei bekam. Er schilderte sie als eine »dunkle Finsternis, die über dem Land hängt«. Er zog von Plantage zu Plantage und redete den Sklavenhaltern ins Gewissen, nicht weiter in einem Wohlstand zu leben, der auf der Sklavenarbeit anderer Menschen beruhte. Er schrieb Briefe und Broschüren, und er weigerte sich, Produkte zu benutzen, die in Sklavenarbeit hergestellt worden waren.

Woolman war nicht der einzige Quäker, der die Sklaverei bekämpfte. Auch ein gewisser Benjamin Lay war an dieser Sache engagiert. Er war ein ziemlich exzentrischer, kleiner Mann, an dessen Kopf vor allem ein großer Hut und ein langer Bart auffielen. Bei einer Quäkerversammlung stellte er sich in die Mitte der Kirche und rief: »Ihr Sklavenhalter, warum werft ihr nicht eure Quäkermäntel fort, so wie ich es machen, und zeigt euch als das, was ihr wirkliche seid?« Mit diesen Worten warf er seinen Mantel ab, unter dem zum großen Erstaunen aller eine Uniform und ein Schwert zum Vorschein kamen. In der einen Hand hielt er eine Bibel, mit der anderen zog er das Schwert. Er rief: »In Gottes Augen seid ihr so schuldig, als ob ihr eure Sklaven so durchbohrt hättet, wie ich das mit dem Buch hier tue.« Damit stieß er mit dem Schwert durch die Bibel, und weil er sie vorher mit rotem Farbstoff präpariert hatte, sah es so aus, als ob aus der Bibel Blut spritzte. Eine Szene, die keiner so schnell vergessen hat.

Ein andermal kidnappte Lay den Sohn einer reichen Familie und brachte ihn erst nach einem Tag zurück. Zu den Eltern sagte er: »Jetzt wisst ihr, wie es ist, ein Kind zu verlieren. Vielleicht könnt ihr euch vorstellen, wie es afrikanischen Eltern zumute ist, denen ihre Kinder geraubt werden, um sie zu Sklaven zu machen.«

Im Gegensatz zu Lay war Woolman eher sanft und verbindlich. Er versuchte den Sklavenhaltern deutlich zu machen, dass es nicht nur um das Wohl der Sklaven gehe, sondern auch um das Seelenheil ihrer Besitzer. Dabei stritt er sich nie, sondern blieb immer ruhig und freundlich. 1758 wurde er z.B. nach einer Predigt gegen die Sklaverei in ein wohlhabendes Haus eingeladen. Beim Eintreten sah er einige Diener; später erkundigte er sich nach ihrem Status. Als man ihm sagte, dass es Sklaven seien, verließ er ruhig und ohne ein Wort das Haus. Die Wirkung dieses stillen Zeugnisses war enorm: am nächsten Morgen ließ der Hausherr trotz heftiger Einwände seiner Frau alle seine Sklaven frei.

In diesem Jahr, 1758, war die Sklaverei ein Thema auf der Jahresversammlung der Quäker in Philadelphia. Niemand verteidigte mehr die Sklaverei, aber keiner wollte sie wirklich abschaffen. Kompromissvorschläge wurden gemacht, einige meinten, man solle die Entscheidung vertagen, man wartete auf eindeutige göttliche Weisung oder ein Zeichen. In dieser Situation hielt Woolman eine aufrüttelnde Rede. Er sagte: »Die Schreie der Sklaven sind dem Allerhöchsten zu Ohren gekommen … In unendlicher Liebe und Güte hat er … unser Verständnis für unsere Pflicht gegenüber diesen Menschen geöffnet, und die Sache verträgt keinen Aufschub. Sollten wir es … versäumen, fest und konsequent unsere Pflicht zu tun, und weiter auf irgendwelche außerordentlichen Mittel warten, die ihre Befreiung bringen sollen, dann mag uns Gott in seiner Gerechtigkeit durch furchtbare Dinge antworten.«

Nach diesen Worten beschloss die Jahresversammlung, die Sklaverei unter den Quäkern einzustellen. Das war der Schritt von individuellen Überredungsversuchen hin zu einem verbindlichen Beschluss einer ganzen Gemeinschaft. Keine andere Gruppe hat das damals sonst noch getan. Woolman kam in den Jahren danach die Aufgabe zu, diesen Beschluss bekanntzumachen und durchzusetzen. Dabei besuchte er 1760 den Hafen von Newport, in dem die Sklaven ankamen. »Mein Bauch rumorte, meine Lippen, mein ganzer Leib zitterte«, notierte er in Anlehnung an den Propheten Habakuk. Wieder waren Hunderte Sklaven aus Afrika eingetroffen. Schlimmer noch: Ein Mitglied seiner eigenen christlichen Gemeinschaft, ein Quäker, bot die bedauernswerten Gestalten zum Verkauf an. Wie konnte es sein, dass sich ein Frommer am Sklavenhandel beteiligte?

1772 reiste Woolman nach England, um auch dort die Quäker davon zu überzeugen, sich nicht mehr am Sklavenhandel zu beteiligen. Auf dieser Reise steckte er sich mit den Pocken an und starb in York. Aber all das war nicht umsonst: englische Christen blieben von nun an weiter in dieser Sache engagiert, bis schließlich in England ein Gesetz erlassen wurde, das die Sklaverei verbot. John Woolmanns Tagebuch gehört heute zu den Klassikern der frühen amerikanischen Literatur.

An ihm kann man die ganze Bandbreite des christlichen Eintretens für Gerechtigkeit sehen: angefangen vom persönlichen Erschrecken darüber, dass es so etwas wie Sklaverei gibt, dann die Weigerung, selbst davon zu profitieren oder etwas damit zu tun zu haben, dann der Versuch, andere zu überzeugen, dass sie ebenfalls nichts mit Sklaverei zu tun haben sollten, schließlich die verbindliche Entscheidung einer Kirche, die ihre Mitglieder mit dem Ausschluss bedroht, sollten sie weiter Sklaven halten. Danach die internationale Kooperation der Christen. 100 Jahre nach John Woolman waren Quäker beteiligt an der sogenannten »Underground Railway«, einem Netzwerk aus Stützpunkten, Häusern und Kirchen, die Sklaven aus den Südstaaten der USA die Flucht in den sicheren Norden ermöglichte. Das war ein riskanter Verstoß gegen ungerechte und menschenverachtende Gesetze. Und am Ende stand schließlich, nach langem Kampf, auch das staatliche Verbot des Sklavenhandels, erst in England und im Norden der USA, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg auch im Süden.

Man kann bei John Woolman sehen, wie all das in seiner Beziehung zu Gott verankert ist. Er war gewohnt, auch in kleinen alltäglichen Entscheidungen auf die Stimme Gottes zu achten. Er schöpfte die Kraft zu handeln aus seinem Inneren, und anders hätte er diesen langen, hartnäckigen Kampf gar nicht durchhalten können. Gerade, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht, erreicht man selten schnell Veränderungen. Man muss über lange Zeit durchhalten und auch Rückschläge einstecken können, und das geht nur, wenn man genau weiß, dass man einen Auftrag von Gott hat. Gerade in diesem ganzen Bereich der Politik, wo man mit so großen Mächten zu tun hat, die einen Menschen schnell zu ihrem Spielball machen, da ist es wichtig, auch persönlich tief gegründet zu sein.

Der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei zeigt auch, wie gute Entscheidungen der Kirche irgendwann von der ganzen Gesellschaft nachvollzogen werden. Wenn nicht nur einzelne Christen, sondern eine ganze christliche Gemeinschaft mit ihrer Lebenspraxis für Gerechtigkeit eintritt, dann ist das ein Signal, an dem auf die Dauer die Gesellschaft nicht vorbeikommt. Deswegen kämpfte der sanfte und zurückhaltende John Woolman 1758 mit Entschiedenheit darum, dass seine Kirche nun endlich einen verbindlichen Entschluss zur Sklaverei fasste. Er wusste, dass jetzt die Zeit gekommen war, und dass die Versammlung, die weder für die Sklaverei war noch richtig dagegen, jetzt zu einer Entscheidung kommen muste. Denn es gibt auch verpasste Gelegenheiten, und die Tür zur richtigen Entscheidung bleibt nicht für immer offen.

In der sozialen Tradition des christlichen Glaubens ist es vielleicht am deutlichsten, wie die Wahrheit von der Gemeinde Jesu hinausgehen soll in die Welt. Die Gemeinde ist eine Art Frühwarnsystem, das rechtzeitig dem Unrecht entgegenarbeitet. Deshalb ist eine Gesellschaft auf eine gut funktionierende Kirche angewiesen. Sonst würde die Ungerechtigkeit einfach weitergehen, immer schlimmere Folgen haben und schließlich das Gericht Gottes über das ganze Land bringen.

Und von der Gemeinde aus gesehen ist der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden einer der wirksamsten Wege, ihre Werte den Nichtchristen nahezubringen. Das Thema der Gerechtigkeit ist auch Menschen zugänglich, die sonst mit christlichen Impulsen nicht viel anfangen mögen. Von der ruhmreichen Tradition des Kampfes gegen die Sklaverei zehrt die Christenheit bis heute. Im 20. Jahrhundert hat ein Mann wie Martin Luther King diesen Kampf verkörpert und damit unübersehbar viel für die Glaubwürdigkeit und das Ansehen der Christen in der ganzen Welt getan. Ein Lied wie »We shall overcome« wird von vielen Menschen mit Leidenschaft gesungen, auch wenn ihnen gar nicht klar ist, dass das eigentlich ein christliches Lied ist: »wir werden überwinden« – Christen sind Überwinder.

Keine der großen christlichen Traditionslinien kommt ohne Verbindung zur sozialen Tradition aus. Sonst werden sie steril und unglaubwürdig. Aber zum Glück hat es diese Verbindung fast immer gegeben.