Das lebendige Buch

Predigt im Besonderen Gottesdienst zum Jahr der Bibel am 23. Februar 2003

Jedes Lebewesen ist am Anfang winzig klein: Eine einzige Zelle, aus der sich alle entwickelt. Und im Kern dieser Zelle findet sich das Entscheidende: das Erbgut, ein Bündel mit allen Informationen, die nötig sind, damit es eines Tages einen Menschen, eine Maus oder einen Elefanten gibt. Dieses Erbgut hat die erstaunliche Fähigkeit, dass es andere Materie organisieren kann, andere Materie dazu bringen kann, zu leben. Ein winziges Bündel mit dichtgepackten Informationen sorgt dafür, dass am Ende viele Gramm, Kilogramm oder Tonnen von Materie in Form eines Lebewesens durch die Welt laufen. Es ist ein geniales Prinzip: ein paar winzige Gene verändern die Welt.

Man kann diesem Mechanismus seine Bewunderung nicht versagen. Damit es neue Lebewesen gibt, müssen sich jedenfalls die höheren Tiere nicht selbst teilen, sondern sie brauchen nur dieses Bündel von Informationen richtig weitergeben, und das sorgt dann selbst dafür, dass es ein neues Tier oder einen neuen Menschen gibt. Ganz von allein verwandelt es seine Umgebung in ein Lebewesen.

Was hat das mit der Bibel zu tun? Die Bibel ist auch ein Bündel aus Information, das selbsttätig ungezählte Menschen beeinflusst und ihrem Leben mitunter eine ganz andere Richtung gibt. Die Bibel ist der Weg, wie Gott seine Gedanken in die Welt einschleust, seine zentrale Botschaft. Und das Erstaunliche ist, dass sie aus sich heraus Menschen so beeinflusst, dass sie diese Gedanken weitergeben. Sie verändert das Grundmuster unseres Denkens und sorgt dafür, dass wir andere Gedanken haben als vorher. In der Bibel finden sich sozusagen die Gene, die das Leben Gottes an Menschen weitergeben.

Und dazu müssen noch nicht einmal unbedingt Menschen da sein, die anderen die Bibel erklären. Das ist zwar sehr hilfreich, aber es gibt auch genügend Beispiele, wie Menschen allein mit einer Bibel waren und die Geschichte, die sie da lasen, hat an ihnen auch so ihr Werk getan. Es gibt genügend Menschen, die irgendwann einfach mal angefangen haben, die Bibel von Anfang an durchzulesen. Wir haben unsere drei Leute vorhin, die von Erfahrungen mit der Bibel erzählt haben, überhaupt nicht danach ausgesucht, aber es hat sich so ergeben, dass sie es alle mal so gemacht haben; die Bibel von vorne an zu lesen. Und viele andere haben das auch getan. Einige sind bis ans Ende gekommen, andere nicht, je nach ihrer persönlichen Beharrlichkeit, aber bei vielen hat das eine ganz starke Veränderung in ihrem Kopf bedeutet. Und zwar unabhängig davon, ob sie schon die dogmatisch richtige Ansicht über die Bibel hatten oder nicht. Es reichte, dass sie mit diesen Gedanken und Geschichten in Berührung gekommen sind.

Es ist natürlich sehr hilfreich, wenn man die Bibel in einer Übersetzung liest, bei der man nicht schon durch die Sprache große Verstehenshürden hat. Und es gibt ja heute auch gute zeitgemäße Übersetzungen. Wir haben dazu den Bibel-Büchertisch aufgebaut, damit Sie sich die einfach mal ansehen können. Aber zur Not kann die Bibel auch ihr Werk tun in dieser altertümlichen Sprache und mit den schwer lesbaren alten Buchstaben, mit denen sich manche bis heute noch abplagen.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich als Kind an so ein altes Exemplar geraten bin, das im Bücherschrank meiner Eltern stand. Und dann bin ich bei den Königsbüchern gelandet und habe gelesen, wie Israel immer wieder Gott vergaß, mit schlimmen Folgen, und ich fragte mich prompt: wie können sie das nur machen? Warum sind sie so? Und genau dafür ist die Bibel geschrieben worden, dass wir uns diese Fragen stellen.

Das heißt, wer die Bibel liest, der lernt einfach Gottes Blick auf das menschliche Leben kennen, und dieser Blick überzeugt aus sich heraus. Er ist einfach richtig. Wenn wir die Bibel lesen, dann fangen wir an, die Welt aus der Perspektive Gottes zu betrachten. Es reicht schon, wenn wir diese Sichtweise kennen, dann kann sie uns da hineinziehen. Dafür und mit dieser Absicht ist die Bibel erzählt.

Deshalb hat die Bibel auch immer über die Gemeinde hinaus eine große Wirkung auf die Kultur gehabt. Zur Zeit Jesu lasen auch Heiden das Alte Testament, um an dieser Fülle der Weisheit teilzuhaben. Manche schlossen sich dann dem Judentum an, manche nicht. Und auch bei uns hat die Bibel neben ihrer eigentlichen Funktion für die Gemeinde auch kulturell enorme Auswirkungen gehabt. Durch Luthers Bibelübersetzung ist die deutsche Sprache vereinheitlicht worden, jede Menge Redewendungen in der Alltagssprache stammen aus der Bibel. Man hat Schulen eingerichtet, damit Menschen die Bibel lesen konnten, und so wurde Deutschland alphabetisiert. Lesen hat man lange Zeit mit der Bibel gelernt. So ist dieses Buch in die emotionale Grundausstattung der Menschen hineingekommen und hat sie geprägt.

Die Bibel löst das Problem, dass die Geschichte Gottes mit den Menschen nicht von allen Menschen in gleicher Weise erlebt wird. Die wenigsten waren dabei, als Abraham auf seine weite Reise ging oder als Jesus durch Galiläa zog. Wie kann dann aber etwa die Botschaft von Jesus echt und authentisch bleiben und Menschen erreichen, die ihn nie selbst gehört haben und auch nicht seine Jünger, die ihn noch persönlich kannten?

Damit das trotzdem geschehen kann, hat Gott dafür gesorgt, dass Menschen da waren, die diese Geschichten so erzählt haben, dass sie ihre Kraft behalten. Menschen, die so erzählt haben, dass die Ereignisse selbst durch sie hindurch lebendig blieben. Wir haben uns so an diese Geschichten gewöhnt, dass uns gar nicht bewusst ist, was für eine geistige Arbeit dafür nötig ist: bis Menschen so eine vielfältige Geschichte wie das Leben Jesu in einem kurzen Buch zusammenfassen können, und zwar so, dass der Gesamteindruck mit dem übereinstimmt, den die Leute hatten, die dabei waren.

Es war ganz einfach die Frage: wie kann man diese Geschichte Gottes mit den Menschen, und was Menschen dabei gelernt haben, wie kann man das weitergeben? Ein theologisches Lehrbuch wäre ungeeignet, gerade weil da alles möglichst klipp und klar sein sollte. Viel besser eignen sich Geschichten. Geschichten sprechen gleichzeitig den Verstand, die Fantasie und die Gefühle an. Sie haben viel größere Tiefe als eine begriffliche Darlegung, sie berühren uns viel stärker, sie können von Menschen jeden Alters und jeder Bildungsstufe verstanden werden, und sie brauchen für das alles viel weniger Platz.

Und sie sind eben nicht die Arbeit eines genialen Schriftstellers, sondern dahinter steckt die Erzähltradition von vielen Einzelnen, die in der Gemeinde diese Geschichten gehört und weitergegeben haben, und dabei haben sie ihre Gestalt gewonnen. Die Geschichten sind so oft erzählt worden, bis am Ende jedes Wort stimmte und kein überflüssiger Ballast mehr dabei war. In diesem Umfeld der Gemeinde und unter dem Einfluss des Heiligen Geistes sind die Geschichten herangewachsen, bis dann die Evangelisten kamen und sie so zusammenstellten, dass ein authentisches Bild des Lebens Jesu dabei herauskam. Und ähnliches gilt für das Alte Testament.

Auf diese Weise trägt die Bibel in sich Worte von vielen Menschen, die vom Heiligen Geist bewegt waren. Und durch dieses ganze menschliche Erzählen und Aufschreiben hindurch hat sich so ein Abdruck der Persönlichkeit Gottes geformt, und deswegen ist die Bibel etwas ganz anderes als ein normales Buch eines einzigen Autors.

Sie kennen vielleicht diese Testfragen, wen und was man auf eine einsame Insel mitnehmen würde: welche Menschen, welche Gegenstände, und welche Bücher. Und ich glaube, viele würden wahrscheinlich unter den Büchern die Bibel nennen. Vielleicht ja nur, weil sie einfach denken: ganz ohne Bibel kann man nicht sein. Aber vielleicht auch, weil man sich fragt: welches Buch kann ich immer wieder lesen, ohne dass es mich irgendwann bloß noch nervt? An welchem Buch kann ich immer wieder Neues entdecken?

Ich glaube, dass es eine Strafe wäre, wenn man ein Buch immer wieder lesen müsste, auch wenn es das eigene Lieblingsbuch wäre. Irgendwann hängt es einem zum Halse raus. Und ein Buch von geringerer Qualität, mit dem macht man diese Erfahrung vielleicht schon beim zweiten Lesen. Warum? Weil die menschliche Substanz begrenzt ist, die in einem Buch konzentriert ist. Sie kommt ja im Wesentliche aus der Persönlichkeit des Autors. Bei manchen Schriftstellern weiß man einfach, dass in all ihren Büchern ein Liebespaar vorkommt, das sich am Anfang heftig verliebt, dann durch Missverständnisse getrennt wird und am Ende doch wieder zusammenkommt.

Die Bibel trägt dagegen in sich die Spuren vieler Menschen, ihr Vorrat an menschlicher Substanz ist viel, viel größer. Sie ist ein Gemeinschaftswerk unzähliger Menschen aus vielen Jahrhunderten, die Gott reden gehört und ihre Erlebnisse mit Gott getreulich weitergegeben haben. Und auf diese Weise ist die Bibel nicht nur voll mit einem riesigen Reichtum menschlicher Substanz, sondern genauso geprägt von der Persönlichkeit Gottes. Und das alles ist im Lauf der Zeit so konzentriert worden, dass es immer noch zwischen zwei Buchdeckel passt. Trotzdem ist diese Fülle so reich, dass keiner es schafft, sie wirklich auszuschöpfen, und wenn man denkt, man hat alles an einer Geschichte verstanden, dann fällt einem doch wieder etwas Neues auf.

Wer warten wollte, bis er die Bibel ganz verstanden hat, der wird auch an seinem Todestag immer noch darauf warten, weil man prinzipiell nicht damit zu Ende kommt. Nur Gott kennt den ganzen Reichtum an Gedanken in der Bibel. Wir sollen sie als einen Werkzeugkasten benutzen, mit dem wir an das Leben herangehen, und immer, wenn wir für eine neue Aufgabe ein neues Werkzeug brauchen, dann werden wir es dort finden. Je mehr wir uns so auf den Weg machen, um so nötiger brauchen wir die Bibel, und um so intensiver werden wir sie lesen.

Die Bibel ist genauso konzentriert wie das Erbgut im Zellkern. Und so wie das Erbgut in einem komplizierten Prozess ausgewickelt wird, damit es sich teilen und seine Informationen weitergeben kann, so muss auch die Bibel immer wieder ausgewickelt werden, damit sie mit menschlichen Leben in Berührung kommt. Dies Auswickeln geschieht im Nachdenken und Meditieren, wenn sich Stück für Stück der Reichtum an Gedanken zu erkennen gibt, der in einer Geschichte oder in einem Spruch steckt. Im Prozess des Durchdenkens füllt sich der Text auf mit Leben und Wirklichkeit, und in wachsendem Maß wird das Leben von Menschen nach diesen biblischen Genen neu gestaltet.

Weil die Bibel unter dem Einfluss des Heiligen Geistes gestaltet wurde, von Menschen, die in der Kraft des Heiligen Geistes lebten, und in Gemeinden, die vom Heiligen Geist erfüllt waren, deshalb zieht sie den Heiligen Geist an, wenn sie in Menschen lebendig wird. So wie unsere Gene Leben in tote Materie hineinbringen. Aber so wie unsere Gene ein schützendes Umfeld brauchen, damit das auch wirklich geschehen kann, so braucht die Bibel diese Umgebung des Nachdenkens, des Ergründens, des Bedenkens und Meditierens. Das ist die beste Art, mit ihr umzugehen. Luthers berühmter Satz dazu heißt: »Die Schrift ist wie ein Kraut: je mehr du es reibst, um so mehr riecht es.«

Also ist die beste Art, mit der Bibel umzugehen, sie doppelt zu gebrauchen: einmal sie nachdenklich und konzentriert zu lesen, und sie dann als Werkzeug zu gebrauchen, mit dem man an das Leben herangeht. Wie wir es vorhin in der Lesung gehört haben:

Mit den Heiligen Schriften in der Hand ist der Mensch, der sich Gott zur Verfügung gestellt hat, ausgerüstet für alle Aufgaben seines Dienstes.