Als in Deutschland die Gotteshäuser brannten

Predigt am 9. November 2008 mit Apostelgeschichte 4,19

gd2008-11-09pogromnacht

Der Gottesdienst begann mit einer Theaterszene, in der sich die gesellschaftliche Ausgrenzung der deutschen Juden während der ersten Jahre des Nationalsozialismus widerspiegelte. In einem Gespräch mit Dr. Jens Binner (Ilsede) kam die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Peine und der Verlauf der Reichspogromnacht dort zur Sprache. Die Predigt ging unter dem Stichwort „Urteilskraft“ der Frage nach, wie Menschen lernen können, sich rechtzeitig auf vergleichbare Situationen vorzubereiten:

19 Aber Petrus und Johannes erwiderten: »Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, euch mehr zu gehorchen als ihm!«

Nachdem wir so viel davon gehört haben, was vor 70 Jahren hier in Deutschland geschehen ist, stellt sich ja die Frage: Was war der Grund dafür, dass das geschehen konnte? Woran lag es, dass so viele Menschen einfach daneben standen und das alles geschehen ließen?

Es ist ja wichtig zu wissen, dass die Nazis die sogenannte spontane Volkswut richtig organisieren mussten, und das Volk trotzdem nicht spontan mitmachte. Wer in der Peiner Allgemeinen Zeitung gestern die Seite über den 9. November 1938 hier in Peine gelesen hat, der erinnert sich vielleicht an die Geschichte dieser über 80jährigen Frau, die erzählt, wie sie empört war, als sie sah, dass Leute da die Synagoge angesteckt hatten. Und sie hätte beinahe ihrer Empörung Luft gemacht, aber hat sich dann doch zurückgehalten, um keinen Ärger zu bekommen. Und so wird es vielen anderen auch gegangen sein.

Wo liegt also der Grund, dass sich so viele Menschen damals zurückgehalten haben, irritiert zugeschaut haben aber keine Konsequenzen gezogen haben? Ich möchte es so beschreiben: es war ein Mangel an Urteilskraft. Ein breit gestreutes Unvermögen, die Dinge zu sehen, zu begreifen und angemessen zu reagieren.

In der Apostelgeschichte gibt es eine Szene, wo den Aposteln Petrus und Johannes Konsequenzen angedroht werden für den Fall, dass sie weiter Jesus verkünden, und sie antworten mit den Worten: »Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, euch mehr zu gehorchen als ihm!« Das heißt, ihr eigenes Urteil steht fest, dass sie natürlich das tun, was Gott von ihnen will, auch wenn es nicht erlaubt ist, und sie fordern ihre Zuhörer auf: Kommt zu einem eigenen Urteil darüber, was recht ist! Nutzt eure Urteilskraft! Und diese Urteilskraft fehlte all den Menschen, die verstört dabei standen, als die Synagogen brannten. Die hatten oft ein schlechtes Gefühl dabei und wussten eigentlich, dass das Unrecht ist, aber sie schafften es nicht, dieses Gefühl in klare Gedanken und Taten umzusetzen.

Was damals gefehlt hat, das sieht man gerade an den Einzelnen, die die Situation mutig beurteilt haben und dann die entsprechenden Konsequenzen gezogen haben. Die hat es ja gegeben: Der Landrat, der sich mit gezogener Pistole vor die Synagoge in seiner Stadt gestellt hat und die SA davon abgehalten hat, sie zu verwüsten. Es hat weitsichtige Leute gegeben, die gesagt haben: Das wird nicht ungestraft bleiben! Das provoziert das Gericht Gottes!

Es hat einzelne Pastoren gegeben, die sehr mutig gepredigt haben. Der Pfarrer Karl Immer in Barmen-Gemarke z.B. stellte sich am folgenden Sonntag vor die Gemeinde hin, ohne Talar, und sagte seiner Gemeinde, ein paar hundert Meter von der Gemarker Kirche entfernt sei das Wort Gottes verbrannt worden. Er meinte damit die Zerstörung und das Anzünden der Barmer Synagoge. Er wolle und könne deshalb heute keine Predigt halten. Er wolle nur zwei Texte vorlesen. Und er las die Zehn Gebote in ihrer ursprünglichen Fassung und das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, betete das Vaterunser und sagte: Wer die Texte richtig verstanden hat, der möge doch bitte nachher zu ihm in die Sakristei kommen. Und es kamen tatsächlich etwa vierzig oder fünfzig Gemeindeglieder.

Man sieht: Es gab Einzelne, die das Ganze klar genug sahen, und die mutig genug waren, darauf zu reagieren. Aber sie hatten alle das Problem, dass sie Einzelne waren, die zu wenig Unterstützung durch andere hatten. Man merkt ja an diesem Aufruf von Pfarrer Immer, dass er das gespürt hat und deshalb die Gemeindeglieder einlud, in den geschützten Raum der Sakristei zu kommen, wo man offener sprechen konnte. Das war so ein Versuch, die Menschen aus der Isolierung herauszuholen und jetzt spontan eine Gemeinschaft zu schaffen, wo man sich gegenseitig in seinem Urteil bestärkt hat und vielleicht sogar gemeinsam etwas unternehmen konnte.

Wir können froh sein, dass wir solche Beispiele haben, weil sie zeigen, dass man auch damals viel mehr Spielraum hatte, als uns immer erzählt worden ist. Aber so richtig und mutig das alles war, es kam zu spät.

Man kann diesen Mangel an Urteilskraft nicht einfach so auf die Schnelle beseitigen. So etwas muss eingeübt werden. Da müssen Gemeinschaften vorhanden sein, die das miteinander erst nach und nach lernen. Die mutigen Pfarrer, die das Unrecht in ihren Predigten deutlich angesprochen haben, die kamen fast immer aus lebendigen Gemeinden, die ihren Pastoren Rückhalt gegeben haben. Sonst wäre da ja noch nicht mal wer gewesen, der das zur Kenntnis genommen hätte.

So dramatisch die Ereignisse der Reichspogromnacht waren, damals waren die Würfel schon längst gefallen. Politisch waren sie gefallen 1933, als Hitler auf verschlungenen Wegen Reichskanzler wurde. Danach war es zu spät – es hat später in Deutschland, wie es eben war, kaum noch wirkliche Möglichkeiten gegeben, Hitler aufzuhalten. Kirchlich kann man das nicht so genau an einem Punkt festmachen – da gibt es eine ganz lange traurige Geschichte, wie die Christen in Deutschland eben nicht Urteilskraft entwickelt haben und sich nicht in Gemeinschaften organisiert haben, sondern ganz individualistisch jeder für sich geblieben sind und gesagt haben: für die Politik bin ich nicht zuständig!

Die wirklichen Weichenstellungen geschehen lange, bevor es dann zu solchen dramatischen Folgen wie die Zerstörung der Synagogen kommt. Das bedeutet aber auch, dass wir gerade in den weniger dramatischen und ruhigen Zeiten daran arbeiten müssen, dass wir in den Entscheidungszeiten vorbereitet sind. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Deutschland noch einmal genau so etwas wie das Naziregime erleben wird – aber es ist so gut wie sicher, dass wir wieder Augenblicke erleben werden, wo unsere Urteilskraft und unsere Reaktion lebenswichtig sein werden. Deswegen ist es so wichtig, sich zu erinnern, damit uns die Entscheidungsmomente nicht unvorbereitet treffen.

Die Erinnerung an solche Entscheidungsmomente hilft uns, dass wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen und denken, später, wenn es mal ernst ist, dann wäre es immer noch früh genug, um zu überlegen, was man tun kann. Aber die Erinnerung zeigt uns: jetzt fallen die Entscheidungen, heute, bei uns allen. Wir wissen nicht, wo und wann sich die Konsequenzen zeigen werden, aber wir wären ja nicht bei Trost, wenn wir uns einbilden, es werde in Zukunft nie wieder ähnlich wichtige Weichenstellungen geben wie damals vor 70 oder mehr Jahren. Sie werden kommen, und wohl dem Volk, dass die Zeit genutzt hat, um eine politische Kultur zu schaffen, die sich dann bewährt. Wohl der Gemeinde, die die Zeit genutzt hat, um sich zu vernetzen und in ihren Gemeindegliedern Urteilskraft wachsen zu lassen, damit dann niemand mehr hilflos und verschreckt dabei steht, wenn das Problem unübersehbar wird. Wohl dem Einzelnen, der Jahr für Jahr seine Verbindung mit Gott entwickelt und gestärkt hat, damit er auch in schwierigen Tagen weiß, was Gott von ihm will.

Das gibt es alles nicht zum Nulltarif. Das braucht Nachdenken und Geduld, das braucht die Auseinandersetzung mit ungewohnten Überlegungen und Gedanken, das braucht Erinnerung wie heute, das braucht Zeit und Verbindlichkeit. Das ist nichts, was man mal macht, wenn endlich die Zeit gekommen ist, wo man mehr Zeit hat. Das funktioniert nur, wenn man das mit Entschlossenheit ganz oben auf die Prioritätenliste setzt.

Es gibt so viel andere gute und nützlich Dinge, die auch unsere Aufmerksamkeit und Energie haben möchten, von den nutzlosen und überflüssigen ganz zu schweigen. Aber die gemeinsame Entwicklung von Urteilskraft ist eins von den allerwichtigsten Dingen. Das ist die Voraussetzung, um viele andere gute Dinge zu erreichen. Wenn unsere Klarheit getrübt ist, dann steckt uns das Böse irgendwann in die Tasche, trotz bester Absichten.

Wir haben in der Christenheit so eine Bremse, die uns da erheblich behindert. Jesus hat ja mal gesagt: verurteilt niemanden, und dann haben wir daraus gemacht: weil mir kleinem Lichtlein ja sowieso kein Urteil zusteht, halte ich mich da zurück und komme mir auch noch richtig demütig vor, wenn ich mich aus den Dingen raushalte. Und in Wirklichkeit ist das nur einfach fromm getarnte Konfliktscheu. Wer anfängt, seine Urteilskraft zu stärken, der wird natürlich Konflikte wahrnehmen, die er vorher nicht gesehen hat und kann dann nicht mehr wegschauen. Aber dazu macht uns Jesus ja gerade stark, dass wir sichtbar und erkennbar werden und unser Licht nicht mehr unter den Scheffel stellen.

Wenn man es mal mit dem Fußballplatz vergleicht: wenn Jesus sagt, wir sollen nicht verurteilen, dann meint er damit die Leute, die auf der Tribüne oder vor dem Fernseher sitzen und groß davon erzählen, dass sie das natürlich alles besser machen würden als der Trainer und die dämlichen Spieler. Zu solchen Zuschauern will Jesu uns tatsächlich nicht machen. Aber er möchte, dass wir wirklich mitspielen und Leistung zeigen. Und wenn man da unten auf dem Platz ist, dann braucht man Klarheit und Stärke, dann muss man in Sekundenschnelle die Gelegenheiten sehen und beurteilen und mit vollem Einsatz dabei sein, bis der Ball im Kasten ist. Und das wird vorher immer wieder geübt, damit ein Spieler im entscheidenden Moment die Situation beurteilen und nutzen kann. Zu solchen Mitspielern im Spiel des Lebens möchte Jesus uns machen. In der Tat, wir sollen nicht die Leute sein, die vor dem Fernseher bei Bier und Chips billige Urteile über Menschen abgeben, die in einem harten Kampf verlieren, aber wir sollen mit Sicherheit und Klarheit beurteilen können, was Gott von uns will. Und wir müssen lernen, das gemeinsam zu tun, weil wir als Einzelne im entscheidenden Moment garantiert unter Druck stehen und angegriffen sind und die Stütze durch die Gemeinschaft brauchen, um trotzdem durchzublicken. Wenn Sie sich an die Lesung vorhin erinnern: wovon Gott wirklich angewidert ist, das ist die Lauheit, die Urteils- und Entscheidungslosigkeit.

Die Stärke eines Volkes liegt in den Überzeugungen und Werten, die ihm helfen, in guten und schlechten Zeiten mit Überzeugung das Richtige zu tun. Und es sind die christlichen Gemeinden eines Landes, die an der strategischen Schlüsselposition stehen, um die Urteilsfähigkeit in einer Gesellschaft zu stärken. Die Gesellschaft hat den Christen vor langer Zeit diese Rolle anvertraut, für die Werte und grundlegenden menschlichen Fragen in unserem Land zuständig zu sein. Das war eine gute Entscheidung, aber das ist kein Rechtsanspruch auf ewig. Das Vertrauen, das die Gesellschaft in die Christen gesetzt hat, muss immer wieder neu gewonnen werden. Es muss sich immer wieder bewähren. Deswegen müssen wir in den ruhigeren Zeiten wie diesen daran arbeiten, unser Potential und unsere Urteilskraft zu stärken, damit wir im entscheidenden Moment nicht verwirrt danebenstehen.

»Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, euch mehr zu gehorchen als ihm!«