Herausforderungen annehmen

Predigt am 10. September 2000 zu Apostelgeschichte 3,1-10

1 Einmal gingen Petrus und Johannes in den Tempel. Es war drei Uhr, die Zeit für das Nachmittagsgebet. 2 Am Schönen Tor des Tempelvorhofs saß ein Mann, der von Geburt an gelähmt war. Jeden Tag ließ er sich dorthin tragen und bettelte die Leute an, die in den Tempel gingen. 3 Als er Petrus und Johannes sah, wie sie gerade durch das Tor gehen wollten, bat er sie um eine Gabe. 4 Die beiden blickten ihn fest an, und Petrus sagte: »Sieh uns an!« 5 Der Gelähmte tat es und erwartete, dass sie ihm etwas geben würden. 6 Aber Petrus sagte: »Gold und Silber habe ich nicht; doch was ich habe, will ich dir geben. Im Namen von Jesus Christus aus Nazaret: Steh auf und geh umher!« 7 Und er fasste den Gelähmten bei der rechten Hand und half ihm auf. Im gleichen Augenblick erstarkten seine Füße und Knöchel; 8 mit einem Sprung war er auf den Beinen und ging umher. Er folgte Petrus und Johannes in den Vorhof des Tempels, lief umher, sprang vor Freude und dankte Gott mit lauter Stimme. 9 Das ganze Volk dort sah, wie er umherging und Gott dankte. 10 Sie erkannten in ihm den Bettler, der sonst immer am Schönen Tor gesessen hatte. Und sie staunten und waren ganz außer sich über das, was mit ihm geschehen war.

Als Petrus und Johannes den gelähmten Bettler sehen, da entscheidet sich, wie es weitergehen wird mit ihnen und der Gemeinde. Auch wenn das in diesem Moment noch keiner voraussehen kann – jetzt entscheidet sich, ob es vorangeht mit der jungen Gemeinde, hin zu größerer Vollmacht und Gewissheit. Werden Petrus und Johannes an dem Gelähmten vorübergehen, werden sie ihm vielleicht anstandshalber eine Mark in den Hut werfen, oder werden sie im Namen Jesu diese Situation grundlegend verändern?

Auf etwas niedrigerem Niveau begegnen wir auch immer wieder solchen Entscheidungssituationen: werde ich jemandem zustimmen, der mir erzählt, dass sein Leben unglücklich ist und dass man dagegen nichts machen kann? Werde ich freundlich sagen »ja, das ist wirklich schlimm«? Oder werde ich in der Vollmacht Jesu sagen, dass mit Gottes Kraft hier ein Neuanfang geschehen kann? Das eine wäre das Almosen, das andere die Veränderung im Namen Jesu.

Oder wenn ich von einer Krankheit erfahre, werde ich dann davon reden, dass Jesus Wunder tun kann, oder werde ich davon erzählen, dass die Medizin heute ja schon ganz weit entwickelt ist?

Was wäre passiert, wenn Petrus und Johannes diesem Gelähmten bloß zwei Mark gegeben hätten und dann schnell weitergegangen wären? Ihr Zutrauen in die Macht Jesu wäre ein Stück geringer geworden, und ihre Vollmacht wäre geschwunden. Vielleicht nicht sehr, aber es wäre ein Anfang gewesen. Und beim nächsten Gelähmten oder Blinden wäre es ein Stück schwieriger geworden, im Namen Jesu Veränderung zu bewirken. Ihr Reden von Jesus wäre etwas weniger überzeugt gewesen, sie hätten beim nächsten Mal etwas mehr gezögert, das hätte ihre Vollmacht von neuem reduziert, und eine verhängnisvolle Abwärtsspirale hätte eingesetzt.

Aber so ist es ja nicht, sondern sie stellen sich der Situation, und damit beginnt eine Aufwärtsspirale. Wer die Apostelgeschichte weiterliest, der wird Zeuge, wie Petrus und Johannes durch den Geheilten eine richtige Steilvorlage für ihre nächste Predigt haben, und prompt kommen noch einmal knapp 2000 Leute neu in die Gemeinde. Daraufhin werden sie vor den Hohen Rat geschleppt und sollen eingeschüchtert werden, aber das geht völlig daneben, die werden nur noch mutiger, und die Gemeinde unterstützt sie mit einer Gebetsversammlung, in dem eines der kraftvollsten Gebete der ganzen Bibel gebetet wird: »Und nun, Herr, sieh an ihr Drohen und gib deinen Knechten die Kraft, mit allem Freimut dein Wort zu verkünden. Strecke deine Hand aus und lass Heilungen, Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen Jesu!«

Und als sie so beten, werden sie von neuem mit dem Heiligen Geist erfüllt und die ganze Gemeinde fängt an, das Wort Gottes zu verkünden. Das wiederum gibt ein solches Gefühl der Verbundenheit, dass sie miteinander ihren Besitz teilen – und das stärkt wieder die Vollmacht, so dass noch mehr Wunder geschehen und noch mehr Menschen dazukommen.

Der Impuls von dieser einen Heilung reicht für drei Kapitel der Apostelgeschichte – es ist eine Aufwärtsspirale, die sich ständig selbst beschleunigt. Als Petrus und Johannes vor dem Gelähmten stehen, haben sie die Wahl zwischen Zurückweichen und Abwärtsspirale oder mutigem Annehmen der Herausforderung und der Aufwärtsspirale. Sie haben sich zum Glück für das zweite entschieden.

Nun muss man dazu sagen, dass wir nicht immer vor der Herausforderung stehen, für einen von Geburt an Gelähmten um Heilung zu beten. Und es war eben auch nicht irgendjemand aus der Gemeinde, sondern es waren Petrus und Johannes, die bei Jesus in die Lehre gegangen waren und sich in diesem Moment bestimmt gefragt haben: was hätte Jesus jetzt gemacht? Also, wir müssen uns nicht gleich dafür fertigmachen, wenn um uns herum die Gelähmten nicht reihenweise geheilt durch die Gegend hüpfen. Aber die grundlegende Frage bleibt die Gleiche: haben wir das Zutrauen, den Namen Jesu und seine Kraft durch uns heranzulassen an einen Menschen und an eine Situation? Unser Problem ist heute wohl eher, dass wir Angst haben, dass es nicht klappt, und wir stehen dann als die Dummen da – wir sagen steh auf! Und es geht nicht. Aber das war nicht das Problem von Petrus und Johannes. Damals mussten die beiden zu Recht fürchten, dass sie Ärger bekamen, wenn sie im Namen Jesu so etwas machen. Aber es war richtig, dass sie es wagten, so ging es voran.

Ich habe den Eindruck, dass solche Herausforderungen grundsätzlich immer drei Nummern zu gross sind. Petrus und Johannes stießen nicht auf jemanden mit Schnupfen oder Kopfweh, sondern auf einen von Geburt an Gelähmten. Und wir bekommen es meist nicht mit einer gut formulierten Anfrage eines wohlwollenden Menschen zu tun, sondern wir stoßen auf Situationen, in denen wir das Gefühl haben: eigentlich möchte ich jetzt ganz unbedingt zu Hause sein in meiner schönen Stube oder irgendwo im Urlaub, wo mich keiner kennt, jedenfalls weit weg von hier.

Herausforderungen sind immer zu gross, sie sind nicht handlich und überschaubar, sie sind viel schwieriger, als wir es geplant hatten, sie sind nicht pädagogisch an unsere Fähigkeiten und unser Selbstvertrauen angepasst. Gott setzt uns Dingen aus, wo wir denken: das muss ein Irrtum sein! Sicher hat er diese Situation für jemand anders vorgesehen, für jemand, der reif und erfahren ist, aber doch nicht für mich! Es muss ein Irrtum sein! Die haben da im himmlischen Computer sicher gerade eine neue Software aufgespielt, und da sind die Planungen durcheinandergeraten, und jetzt habe ich die Aufgabe bekommen, die eigentlich für Mutter Teresa bestimmt war, oder für den Papst, aber nicht für mich!

So sehen die echten Herausforderungen aus. Meine erste Vermutung dabei ist, dass überschaubare und an unsere Fähigkeiten angepasste Herausforderungen eben keine sind. Und meine zweite Vermutung ist, dass es Gott unheimlich am Herzen liegt, diese Aufwärtsspirale endlich in Gang zu setzen. Wenn Sie überlegen, welche Spiralen sich bei uns im christlichen Europa in der Vergangenheit gedreht haben – also mein Eindruck ist, dass da die Abwärtsspiralen oft überwogen haben. Aber das soll nicht so sein, und Gott möchte, dass wir endlich wieder in eine deutliche Aufwärtsspirale hineinkommen. Und deswegen schubst er uns immer wieder in solche Situationen hinein, wo wir uns überfordert fühlen, schlecht vorbereitet, wo wir nicht übersehen, was da noch draus werden kann, wo wir Ärger kriegen können, und wo es viel bequemer wäre, fünf Mark in den Hut zu schmeißen und mit ein paar freundlichen Worten schnell das Weite zu suchen.

Aber wir bleiben dann schuldig, was nur wir geben können. »Silber und Gold habe ich nicht« sagt Petrus. Natürlich hat der Mann, der da am Tempeltor sitzt, schon längst aufgehört, auf Heilung zu hoffen, wenn er es je getan hat. Wie viele Menschen laufen durch die Welt mit trauriger Miene und erwarten nicht mehr, dass ihr Leben sich ändert, und sie sind schon mit Almosen zufrieden: mit einem anteilnehmenden Wort, mit ein bisschen Beachtung, mit ein bisschen Ehrung und Mitleid, manchmal auch mit Geld. Aber das sind Almosen, Silber und Gold, nicht das, was echt helfen könnte.

Merken Sie dagegen das Selbstbewusstsein bei Petrus: Silber und Gold haben wir nicht, da bist du bei uns falsch, wir haben leider nur etwas viel besseres: den Namen Jesu und Heilung für deine Beine.

Liebe Freunde, wenn wir als Christen und Gemeinde zu den Menschen kommen, dann lasst uns sehen, dass wir genau das mitbringen und es durch nichts anderes ersetzen. Dass uns das zentral bewegt und nicht die vielen anderen Dinge, die auch ganz nett sind. Sicher muss man manchmal auch ein Almosen geben – aber das ist nicht die Sache, um die es geht. Von Jesus wissen wir, dass es bei ihm eine gemeinsame Kasse gab, die bekanntermaßen Judas führte, und aus der wurden auch Arme unterstützt, aber wir erfahren davon nur am Rande, in einem Nebensatz, wo es eigentlich um Judas geht. Dass Jesus auch Almosen gegeben und Arme unterstützt hat, das war den Verfassern des neuen Testaments kaum eine Erwähnung wert, weil das nicht die Sache ist, für die er gekommen war. Obwohl das in den Augen anderer bis heute oft die einzige Sache ist, auf die sie konzentriert schauen.

Petrus muss sich richtig was einfallen lassen, um den gelähmten Bettler aufmerksam zu machen und ihn herauszuholen aus seiner Erwartungslosigkeit. Hey, guck mal her! sagt er. Wahrscheinlich denkt der Bettler, er kriegt jetzt was Besonders, einen Zehner oder einen Fünfziger. Da erst guckt er hin und hört zu. Und dann muss Petrus ihn wieder von dieser Erwartung wegbringen – »Silber und Gold habe ich nicht« -, bis der Mann endlich so verwirrt ist, dass etwas Neues zu ihm durchdringen kann. Menschen können in ihren Erwartungen so eingeschränkt sein, dass sie gar nicht checken, was Gott jetzt mit ihnen vorhat. Das beschränkt sich nicht auf gelähmte Bettler, wir sind auch so – und vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass Gott uns in verwirrende und unüberschaubare Herausforderungen stürzt. Wir sollen jedenfalls lernen, solche Situationen zu entdecken und anzunehmen.

Als Petrus dann aus Anlass dieser Heilung eine Ansprache an die Menschen hält, da sagt er: kehrt um, hört auf, Jesus abzulehnen, glaubt an seinen Namen! Es ist eine riesige Sache, wenn ein von Geburt an Gelähmter gesund wird, aber noch größer ist es, wenn Menschen zur Quelle dieser Gesundheit finden. Beim Bettler scheint es geklappt zu haben, der freut sich, läuft und springt durch den Tempel und lobt Gott, als müsste er sich erst davon überzeugen, dass die Beine wirklich funktionieren. Der führt einen Tanz auf, mit dem er Gott lobt, und alle merken es.

Das ist das Ziel der Geschichte und das Ziel der ganzen Welt: Gott soll so klar erkennbar werden, dass Menschen sich freuen und ihn loben. Wir sollen den Namen Jesu überallhin mitbringen, damit Gott die Möglichkeit hat, sich selbst bekanntzumachen und die Menschen sich an ihm freuen, wenn sie erst merken, wie er wirklich ist.