Näher als du denkst

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 03. September 2006 zu 5. Mose 30,11-14

Von Anfang an wird über den Gott der Bibel gesagt, dass er ein
naher Gott ist: einer, der auf uns hört und zu uns spricht und sich
um das Leben auf der Erde kümmert. Das ist sozusagen sein Markenzeichen.
Man könnte sich Gott ja auch wie einen Uhrmacher vorstellen: er
hat eine tolle Uhr gebaut, und dann stößt er das Pendel an, und
von da ab läuft die Uhr ganz allein, und er kümmert sich nicht mehr
darum.

Aber in Wirklichkeit ist Gott ständig mit dieser Welt beschäftigt,
und zwar unabhängig davon, ob wir das wahrnehmen oder nicht. In
Wirklichkeit hat Gott die Welt nicht als seelenloses Uhrwerk geschaffen,
sondern als ein lebendiges Geflecht, als ein Netzwerk des Lebens
mit Menschen, die ihn verstehen können. Die Welt ist so eingerichtet,
dass sie nur mit Gott zusammen funktionieren kann. Er ist auch immer
mit drin in diesem Geflecht des Lebens.

Es gibt eine Stelle in der Bibel, in des das sehr schön beschrieben
wird. Da ist Mose, der Befreier Israels, dabei sich zu verabschieden,
er wird nicht mehr lange leben, und er erinnert sein Volk noch einmal
an die Gebote Gottes, und als er damit fertig ist, sagt er (5. Mose
30,11-14):

11 Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. 12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 14 Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Er sagt damit: du musst nicht erst eine lange Reise an die äußersten
Grenzen der Welt machen, um da vielleicht etwas über Gott zu erfahren.
Nein, Gott ist dir ganz nahe an dem vertrauten Ort, wo du bist,
er wird dir begegnen durch sein Wort, das du lesen und hören kannst
und das dann in deinem Herzen lebendig wird. Es ist mit Gott gar
nicht viel anders als mit einem Menschen, dem du täglich begegnest.
Es ist nicht schwer, mit ihm zu kommunizieren. Du musst es nur wollen,
und du wirst auf ihn stoßen.

Jetzt gibt es aber manche, und sicher sind unter uns auch welche
dabei, die sagen: das ist ja alles schön und gut, aber wie soll
ich mir das vorstellen? Wie soll man mit jemandem kommunizieren,
der unsichtbar ist? Man kann Gott doch nicht sehen. Wie soll man
da mit ihm zu tun bekommen.

Das ist ein interessantes Argument, weil wir nämlich damit sagen:
mit jemandem, der sichtbar ist, mit dem kann man ohne weiteres Verbindung
auf nehmen. Aber stimmt das? Ist es wirklich so, dass es so viel
leichter ist, eine Verbindung aufzunehmen, wenn man jemanden sehen
kann? Wir wollen den Test machen. Wir sehen jetzt eine kurze Szene
zum Thema: "Kontaktaufnahmeversuch mit jemandem, der sichtbar
ist."

1. Szene: Eine Frau versucht vergeblich, ihren Mann, der gerade im
Fernsehen ein Fußballspiel anschaut, in ein Gespräch zu verwickeln.

Haben Sie gemerkt, wie schwer das sein kann, Kontakt aufzunehmen,
obwohl jemand sichtbar ist? Er ist sichtbar, aber er ist nicht anwesend.
Möglicherweise ist das für seine Frau gerade das Allerfrustrierendste,
dass er sichtbar ist und trotzdem nicht anwesend.

Wir müssen also unterscheiden zwischen sichtbar und ansprechbar.
Gott ist unsichtbar, aber er ist trotzdem ansprechbar. Sichtbar
zu sein ist etwas Äußeres, es ist wichtig, aber es ist nicht das
Entscheidende. Wenn wir Gott begegnen wollen, wird das Treffen in
unserem Kopf stattfinden. Das ist ungewöhnlich aber nicht unsinnig.
Viel wichtiger als räumliche Anwesenheit ist es, ansprechbar zu
sein, und das hat etwas zu tun mit Beziehung. Es hat etwas zu tun
mit innerer Haltung. Welche innere Haltung blockiert am meisten
unsere Ansprechbarkeit? Wenn wir abgelenkt sind, mit etwas anderem
beschäftigt, oder wenn wir sauer und blockiert sind oder beides
zusammen, dann sind wir schlecht ansprechbar – ganz egal, ob es
um Gott oder um Menschen geht. Und das schauen wir uns jetzt einmal
in der zweiten Szene an:

2. Szene: Ein Mann versucht, seine Frau zu einem romantischen
Abend zu überreden – aber sie ist völlig von ihrer Arbeit absorbiert

Wodurch wird eigentlich die Kommunikation behindert? Es sind
im Grunde immer Beziehungsprobleme, die da blockieren. Das ist so
zwischen Menschen, und das ist genauso zwischen uns und Gott. Aber
wer wäre in dieser Szene eben eigentlich Gott gewesen? Auf welchem
Stuhl hätte Gott gesessen?

Ist Gott derjenige, der sagt: stör mich nicht, ich bin beschäftigt?
Ich habe zu tun mit dringenden Problemen in der ganzen Welt, ich
kann mich jetzt nicht auch noch mit dir beschäftigen! Oder ist Gott
derjenige, der kommt und sagt: hey, lass uns unsere Beziehung mal
wieder auffrischen! Früher war das so gut mit uns beiden, aber diese
ganze Arbeit, dieser ganze Stress, und der Ärger, der sich so im
Laufe der Zeit eingeschlichen hat, das alles nimmt den Glanz von
unserer Beziehung, die wird immer oberflächlicher. Also, lass uns
zusammen etwas Schönes machen, nimm dir Zeit für uns, es kann wieder
so werden, wie es früher war.

Ich glaube, dass Gott in Wirklichkeit auf dem zweiten Stuhl sitzt
und sich in erster Linie wünscht, dass wir ihn wahrnehmen und ihm
Aufmerksamkeit zuwenden. Sie kennen das ja wahrscheinlich auch,
wie schwer es ist, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die gerade
in dieser "ich-habe-schrecklich-viel-zu-tun-und-du-fehlst-mir-jetzt-gerade-noch"-Stimmung
sind. Es gibt Menschen, die chronisch in dieser Stimmung sind. Und
in Bezug auf Gott sind wir fast immer in dieser Stimmung.

Aber was, meinen Sie, bedauern Menschen am Ende ihres Lebens?
Dass sie zu wenig im Büro gesessen haben? Das sie zu wenig Fenster
geputzt haben? Ist Ihnen schon mal ein Achtzigjähriger begegnet,
der gesagt hätte: "was ich wirklich bereue, das ist, dass ich
so selten mein Auto gewaschen habe"? Normalerweise wünschen
sich Menschen, dass sie mehr in ihre Beziehungen investiert hätten,
dass sie das besser hingekriegt hätten. Und genauso wird es im Rückblick
sein, dass wir uns wünschen, wir hätten diese Einladungen Gottes
angenommen: Hey, ich bin da! Ich würde gern was Schönes mit dir
machen. Ich würde gern mit dir zusammen sein. Heute ist unser Tag!
Willst du denn nie rauskommen aus dieser "ich-kann-jetzt-nicht"-Stimmung?
Du hast doch kaum noch Luft für dich selbst.

Wenn wir noch mal an diese zweite Szene denken – es hätte da
übrigens eine wunderbare Lösung gegeben: wenn die Frau nämlich ihren
Mann in ihre Arbeit eingeladen hätte. Nicht in ihre Hektik, sondern
in ihre Arbeit. Irgendwie ist sie gar nicht auf den Gedanken gekommen,
zu sagen: komm, setz dich dazu, nimm dir ein Messer und hilf mir,
ich mach dir hinterher auch Pflaster auf die Wunden, bring mich
auf andere Gedanken, und dann haben wir nachher vielleicht noch
Zeit für was anderes, und auf jeden Fall sind wir uns jetzt nahe
gewesen.

Und das ist im Prinzip mit Gott nicht anders: wir können ihn
ganz genauso einladen in all die Dinge, die wir so Tag für Tag machen.
Wir müssen nicht immer Extrazeiten für ihn vorsehen, sondern wir
können mit ihm die normalen Dinge tun. Nicht unsere Aufgaben sind
das Problem, sondern dass sie uns so mit Beschlag belegen, dass
wir für nichts und niemanden sonst mehr Aufmerksamkeit haben: für
Menschen nicht und für Gott schon gar nicht.

Wenn die beiden hier in der Szene zusammen die Kartoffeln geschält
hätten, dabei wäre das Entscheidende vielleicht gar nicht die Zeitersparnis
gewesen, sondern sie hätten es eben anders gemacht. Schwer zu beschreiben,
was sich eigentlich genau verändert hätte! Der Unterschied wäre
eben, dass sie es zusammen gemacht hätten. Ein kurzer Blick zwischendurch,
eine Bemerkung, ein Gedanke, der ausgetauscht wird – das wären kleine
Veränderungen, aber sie hätten einen großen Unterschied gemacht.

Und so etwa ist das auch gemeint, dass wir unseren Tag mit Gott
zusammen leben. Wir tun unsere normalen Dinge, aber wir schauen,
dass es immer wieder diese kleinen Blickkontakte mit Gott gibt,
einen kurzen Gedankenaustausch, einen kleinen Hinweis:

  • Probieren Sie mal aus, darauf zu achten, auf wen Gott Sie aufmerksam
    macht im Lauf des Tages.
  • Vielleicht heute auf diesem Fest: könnte Ihnen Gott etwas sagen
    zu einzelnen Personen, die Ihnen über den Weg laufen?
  • Oder, wenn Sie essen, dann denken Sie daran, dass das in Wirklichkeit
    ein Geschenk für Sie ist, mit dem Gott Ihnen sagen will, dass er
    für Sie da ist. Essen tun Sie sowieso, warum das nicht nutzen für
    einen Blickkontakt?
  • Oder abends beim Schlafengehen mit Gott zusammen einen Blick
    auf den vergangenen Tag werfen. Vielleicht gibt es da etwas, worauf
    er Sie aufmerksam machen will, was Sie völlig übersehen haben oder
    schon längst wieder vergessen?
  • Und morgens beim Aufstehen Danke sagen für das Geschenk dieses
    neuen Tages – das müsste eigentlich die Stimmung enorm verbessern.

Ich kann das heute nur in Kurzfassung sagen. Ich möchte darüber
aber an den nächsten Sonntagen ausführlicher sprechen. Das ist also
eine Einladung in die Gottesdienste in den nächsten Wochen. Vielleicht
ist Ihnen der Gedanke ungewohnt, aber Gottes Gegenwart wahrzunehmen,
das hat auch viel mit Übung und Ausprobieren zu tun, das ist zu
einem guten Teil auch etwas, was man lernen kann. Und unsere Gemeinde
ist auch ein Lernort dafür, dafür sind wir da.

Gott umgibt uns von allen Seiten, und er wohnt in der Tiefe unseres
Herzens. Und er versucht ständig eine Verbindung dazwischen herzustellen.
Und wenn ein Wort von ihm unser Herz trifft; oder wenn wir etwas
Wunderschönes sehen und davon überwältigt und berührt sind; oder
wenn uns Mitleid bewegt, so dass wir einen Kloß in unserem Hals
haben und Tränen in den Augen – all das sind solche Momente, wo
der Kontakt geschlossen ist und der Strom der Gegenwart Gottes fließen
kann.

Und jetzt wenigstens eine kurze Übung, um zu zeigen, wie einfach
es sein kann, auf Gott zu achten. Überlegen Sie einen Augenblick,
wofür Sie heute dankbar sind! Und – haben Sie etwas gefunden?
Dann heben Sie den Arm! Sehen Sie, wie viele das sind?

Schauen Sie, dass sind solche Momente, die den Unterschied machen!
Augenblicke, in denen wir den Reichtum spüren, der uns umgibt –
und ohne diesen Moment des Innehaltens hätten wir es vielleicht
gar nicht gemerkt! Und es geht darum, dass viele solcher Momente unser Leben durchziehen.