Flüchtlinge in unserem Land

Predigt am 23. September 2007 mit 5. Mose 10,17-19

gd2007-09-23flucht

Am Anfang des Gottesdienstes wurden verschiedene Bibeltexte zu den „Fremdlingen“ vorgelesen und mit dem Schicksal von Geflüchteten in Beziehung gesetzt.

(Denn) der HERR, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt 18 und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. 19 Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.

So steht es im 5. Buch Mose. Das Wort, das Luther da mit „Fremdling“ übersetzt, unterscheidet nicht zwischen Flüchtlingen, Auswanderern oder Menschen, die wegen einer Hungersnot außerhalb ihrer Heimat ihren Lebensunterhalt suchen. Diese Gebote aus der Bibel schauen auf die Lage eines Menschen im fremden Land: er lebt dort, ohne von vornherein dazu zu gehören, ohne Bindungen an Familie und Freunde, ohne Boden, der ihm gehört, ohne die Rechte, die die Alteingesessenen haben. Es ist ein ungesicherter Status. Er hat nicht das Recht, dort zu leben, er wird nur geduldet.

Niemand wünscht sich, so zu leben. Und trotzdem kommt das gar nicht so selten vor, dass Menschen fern von ihrer Heimat leben. Vielen Hauptpersonen der Bibel ist das gegangen, und so ist es bis heute. In unserem Land haben viele Menschen am Ende des zweiten Weltkrieges erlebt, wie das ist, wenn man sein Zuhause verlassen muss und irgendwo in der Fremde neu anfangen muss: mit nicht mehr als dem, was man tragen kann, irgendwo notdürftig untergebracht, oft misstrauisch beäugt von den Einheimischen. Schon vorher haben viele Deutsche auf der Flucht vor den Nationalsozialisten erlebt, wie sich vor ihnen die Grenzen verschlossen und sie keine sichere Zuflucht fanden.

Bis heute verlassen Menschen z.B. ihre Heimat

  • weil dort Bürgerkrieg herrscht und besonders die Zivilbevölkerung zu den Opfern gehört – wie beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit seinen „ethnischen Säuberungen“ oder aktuell im Irak
  • weil sie in ihrer Heimat willkürlich verhaftet, gefoltert und getötet werden können, wie in Tschetschenien
  • weil sie der Armut und der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat entkommen wollen, wie es in vielen Ländern Afrikas der Fall ist
  • weil sie wegen ihres Glaubens angegriffen werden, vom Staat oder von anderen Gruppen.

Sie brauchen für ihre Flucht oft enorme Energie und Einfallsreichtum, nehmen gefährliche Wege, vertrauen sich unseriösen Schleppern an, bezahlen dafür ihr letztes Geld, um am Ende in einer fremden Kultur zu landen, in der sie sich nicht zu Hause fühlen und wo sie allein sind, oft getrennt von Familie und Freunden.

Roma aus dem Kosovo, ehemalige Kindersoldaten aus Afrika, Iraner, die vor dem Regime der Islamisten geflohen sind, Kurden aus der Türkei und aus Syrien, sie alle und viele andere sind gemeint, wenn es in der Bibel heißt: Gott liebt die Fremdlinge. Wenn Jesus sagt: ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen.

Gott will, dass Menschen Aufnahme finden, wenn sie durch die Wirren der Weltgeschichte irgendwo stranden, wo sie eigentlich nicht zu Hause sind. Gott weiß, was das mit einem menschlichen Herzen macht, wenn alle Sicherheit verloren geht. Wenn Menschen über Jahre und manchmal Jahrzehnte mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus leben müssen, ohne eine Perspektive, wie es weitergehen soll, ohne ihr Leben planen zu können, immer wieder in der Angst, das bisschen Sicherheit, das sie gefunden haben, zu verlieren – wer von uns kann wirklich nachempfinden, was das mit einem Menschenherzen macht? Aber Gott sieht das und weiß es, und wir sollen es auch wissen.

Deswegen erinnert Gott daran: ihr wart selbst einmal Fremde, ihr wisst, wie es im Herzen eines Flüchtlings aussieht. Israel weiß das aus der Zeit seiner Sklaverei in Ägypten, und wir teilen als Christen diese Erinnerung. Gott hat dafür gesorgt, dass in seinem Volk diese Erinnerung lebendig bleibt. In der Fremde leben zu müssen, das gehört zu unserer Geschichte als Volk Gottes. Dazu haben wir einen Zugang. Und deswegen kann es immer wieder aktiviert werden: Mitgefühl mit denen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen.

Heute sieht das anders aus als in der Zeit der Bibel. Aber unabhängig von allen Details geht es darum, ob wir inspiriert werden von diesem Mitgefühl; ob wir bereit sind, uns hineinzudenken in die Lage von Flüchtlinge und Asylbewerbern; ob wir uns auf den Gedanken einlassen: es könnte mir ja genauso gehen. Sie erinnern sich an das Bild vorhin: wie groß die Versuchung ist, zu sagen: Grenzen dicht! Dieses ganze Elend soll mir vom Leibe bleiben, so weit weg wie möglich. Aber Jesus hat in seinem Gleichnis vom Weltgericht deutlich gemacht: wenn ihr die aussperrt, dann sperrt ihr mich aus.

Die traurige Realität ist, dass der offizielle Umgang mit Fremden in unserem Land wenig widerspiegelt von diesem Mitgefühl, das erwächst aus der Erinnerung: uns selbst oder unseren Vorfahren ist es auch mal so gegangen. Europa schottet sich immer stärker ab gegen Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Erde. Die wenigsten Flüchtlinge kommen überhaupt bis nach Deutschland. Stattdessen sterben an den Außengrenzen der Europäischen Union immer wieder Menschen bei dem verzweifelten Versuch, Europa zu erreichen.

Wer aber doch nach Deutschland gelangt, unterliegt einem unübersichtlichen Ausländerrecht, in dem man sich auch als Deutscher nur mit einem Rechtsbeistand zurechtfindet. Die Gesetze sind stärker von Misstrauen gegenüber Ausländern geprägt als von Mitgefühl. Natürlich sollen Gesetze für Klarheit und Sicherheit sorgen – aber

  • warum führen unsere Gesetze dazu, dass Menschen jahrelang in einem provisorischen Zustand leben müssen, immer wieder nur mit kurzfristigen Duldungen für einige Monate versehen, so dass sie nie ein Gefühl der Sicherheit bekommen können?
  • Warum verbieten wir Menschen zu arbeiten und zwingen sie, über Jahre einfach passiv herumzusitzen, stecken sie in Heime irgendwo draußen in der Prärie, wo sie kaum eine Chance haben, die deutsche Gesellschaft kennenzulernen?
  • Und warum sollen Menschen unser Land verlassen, die manchmal schon seit einem Jahrzehnt oder länger hier leben? Oft sind sie hier aufgewachsen, sprechen besser deutsch als die Sprache ihres Herkunftslandes, sind hier zur Schule gegangen, haben hier Freunde, sind Mitglied im Sportverein, verdienen ihren eigenen Lebensunterhalt oder könnten es jedenfalls, wenn man es ihnen erlauben würde. Wir wissen: auch im Landkreis Peine hat es genug solcher Fülle gegeben. Und nicht jeder solche Fall steht auch in der Zeitung.

Wenn unsere Gesetze immer wieder zu solchen Ergebnissen führen, dann stimmt da etwas nicht, und sie müssen geändert werden. Im Sinne von mehr Gastfreundlichkeit, mehr Erbarmen, mehr Verständnis für die Lage von Menschen, die keinen Platz haben, wo sie wirklich zu Hause sind. Und es ist auch in unserem Interesse, dass Menschen Sicherheit für ihre Lebensplanung bekommen. Wenn Menschen eine dauerhafte Perspektive bekommen, dann werden sie auch ihren Platz in Deutschland suchen und finden. 1979 holte Ministerpräsident Ernst Albrecht vietnamesische Bootsflüchtlinge nach Niedersachsen. Ihre Integration ist eine Erfolgsgeschichte geworden. Warum? Weil sie politisch gewollt war. Wenn Menschen spüren, dass sie willkommen sind und Hilfe finden, dann reagieren sie normalerweise mit Dankbarkeit und der Bereitschaft, sich auf eine neue Kultur einzulassen.

Viel wichtiger als die einzelnen Gesetzesparagrafen ist deshalb der Geist, der sich in den Gesetze ausdrückt: spürt man etwas von der Großzügigkeit und der Bereitschaft, schutzlosen Menschen eine Zuflucht zu geben? Können sie da etwas merken von der Zuwendung Gottes zu den Heimatlosen, die auch Gottes Menschen kennzeichnen soll? Oder transportieren die Gesetze mit all ihren Paragrafen nur immer wieder Botschaft: „eigentlich wollen wir euch gar nicht hier haben“?

Deutschland tut immer noch eine ganze Menge für Flüchtlinge. Aber es besteht die Gefahr, dass all das entwertet wird, weil es auf eine unfreundliche und mürrische Weise gegeben wird. So als wären wir leider nur durch einige Artikel des Grundgesetzes und internationale Menschenrechtsabkommen dazu gezwungen. Ein widerwillig gegebenes Geschenk wird nicht die Herzen von Menschen erreichen, auch wenn es teuer ist.

Dabei sind die Gebote Gottes nie weltfremde Vorschriften, die uns zu einem sinnlosen Verhalten zwingen sollen, das uns nur Probleme bringt. Gottes Gebote sind vernünftiger als die Herzlosigkeit vieler Gesetzesvorschriften. Gottes Gebote fördern das Leben, und zwar das Leben aller Beteiligten. Das wirkliche Problem heißt: Hartherzigkeit. Wenn eine Gesellschaft sich aus Überzeugung um Schutzlose kümmert, dann kommt das Inländern wie Ausländern zugute. Fürsorglichkeit und Gastfreundschaft sind gut für alle. Darüber hinaus sind Zuwanderer eine Bereicherung für unser Land. Das fängt bei Döner und Pizza an und hört noch längst nicht auf bei den Arbeitsplätzen, die auch von Unternehmern mit Migrationshintergrund geschaffen werden.

Ein Abkömmling italienischer Gastarbeiter ist heute Richter am Bundesverfassungsgericht, der Vorsitzende der FDP-Fraktion des niedersächsischen Landtages stammt aus Vietnam. Schon vor über 100 Jahren sind polnische Bergarbeiter in großer Zahl ins Ruhrgebiet eingewandert – daran erinnern heute oft nur noch Familiennamen mit polnischen Anklängen wie z.B. „Kaminski“. Sie alle sind heute ein Teil unseres Landes – und das ist gut so. Gerade in unserer Zeit, in der die weltweiten Verflechtungen immer enger und wichtiger werden, brauchen wir Menschen, die uns helfen können, Zugänge zu anderen Kulturen zu finden. Das ist auch rein ökonomisch ein echtes Potential, das wir nutzen können. Es sind ja oft die Engagiertesten und Kreativsten, die sich auf den Weg gemacht und es bis hierher geschafft haben.

Das alles und noch mehr ist gemeint, wenn Gott verspricht, dass er diejenigen segnen wird, die Erbarmen zeigen. Ich glaube, dass ein großer Teil der Bevölkerung mindestens in unserer Gegend da schon viel weiter ist als die Gesetzgebung und die Verwaltungen. Viele Menschen in unserem Land sind bereit, Gastfreundschaft und Mitgefühl zu zeigen und Flüchtlingen einen Platz zu geben. Aber diese Bereitschaft muss auch durch gesetzliche Regelungen unterstützt werden. Man kann das Problem nicht in die Privatheit abschieben. Alle Offenheit und Hilfsbereitschaft der Menschen wird entwertet, wenn gut integrierte Zuwanderer irgendwann gezwungen werden, das Land wieder zu verlassen. Oder wenn Flüchtlinge so untergebracht werden, dass ein Kontakt kaum möglich ist.

Aber Europa kann sich nicht der Verantwortung entziehen für Menschen, die internationalen Schutz benötigen. Europa muss ein Asylkontinent bleiben. Jedes Land und jeder Kontinent muss bereit sein, Menschen aufzunehmen, die in der Welt durch Krieg, Gewalt, Klimawandel und andere Katastrophen ihre Heimat verloren haben. Immer wieder sind in den letzten Jahren die gemeinsamen christlich-abendländischen Wurzeln Europas betont worden. Wenn aber die Bibel zu den Wurzeln der europäischen Kultur gehört, dann ist Flüchtlingsschutz einer der zentralen Werte.

Es geht um die Entscheidung, ob wir das Schicksal von Flüchtlingen an uns heran lassen – oder ob wir zumachen: unsere Grenzen und unser Herz. Aber an dieser Stelle fällt noch eine andere Entscheidung: die Entscheidung darüber, ob wir mit den Flüchtlingen Jesus aussperren wollen aus der Festung Europa.