Das Wunder der Inkarnation

Predigt am 26. Dezember 2007 (Christfest II) zu 2. Korinther 8,9

Wir haben heute nur einen ganz kurzen Predigttext; nur ein Vers aus dem 2. Korintherbrief (8,9). Da schreibt Paulus eigentlich über eine finanzielle Unterstützung für die allererste Gemeinde in Jerusalem. Aber zwischendrin steht dann dieser Satz:

Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet.

Da geht es um das, was den Kern des Weihnachtsfestes bildet. Ich benutze jetzt ausnahmsweise mal ein Fachwort: Es geht um die »Inkarnation« Jesu, zu deutsch um seine Fleischwerdung. Aber das Wort Fleischwerdung klingt irgendwie komisch, deswegen sage ich lieber »Inkarnation«.

Worum geht es dabei? Jesus hat ursprünglich in der Gemeinschaft Gottes im Himmel gelebt. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an die Dreifaltigkeitsikone, die ich vor einiger Zeit hier im Gottesdienst gezeigt habe – auch im Gemeindebrief war sie ja zu sehen. Gott ist die Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist, und diese Gemeinschaft ist ein Ort voller Liebe, voller Bewegung und Freude. Er fließt über vor Glück und er erschafft die Welt aus diesem Überfluss von Freude und Glück heraus.

Aber dann verlässt Jesus diesen Ort voller Glück und Freude und wird in einem dreckigen Stall geboren, er lebt unter Verhältnissen, die schon aus unserer heutigen Sicht unglaublich primitiv sind, er wird angefeindet und missverstanden und am Ende grausam gekreuzigt. Für ihn war sein Leben auf der Erde ungefähr das Gegenteil von dem, was er bisher in der Gemeinschaft Gottes erlebt hatte.

Warum tut er sich das an? Niemand hat ihn gezwungen, das auf sich zu nehmen. Er war auch nicht verpflichtet dazu. Aber er hat es getan, um die Liebe und die Freude, die er kennt, hier zu uns auf die Erde zu bringen. Und dazu hat er all diese Negativerfahrungen auf sich genommen.

Dieses Grundmuster fasst Paulus hier prägnant zusammen, indem er sagt: Jesus ist arm geworden, damit ihr reich werdet. Jesus hat ein Leben in ungetrübtem Glück aufgegeben, damit dieses Glück auch zu uns kommen kann. Das heißt nicht, dass Jesus von jetzt ab immer nur noch unglücklich ist. Durch das, was er getan hat, wird am Ende eine noch viel reichere Freude entstehen als vorher, eine ganze gerettete Schöpfung wird Gottes Herrlichkeit priesen. Aber der Weg dahin kann sich deshalb öffnen, weil Jesus zuerst seine Freude und sein Glück losgelassen hat und sich das angetan hat, ein Mensch unter Menschen zu werden.

Der Clou dabei ist, dass Paulus das schreibt, damit sie auch in Korinth nach diesem Muster handeln: etwas Tolles und Gutes loslassen, damit bei anderen Reichtum entstehen kann. Dieses Grundmuster der Inkarnation ist auch der Motor hinter der Ausbreitung des Evangeliums. Durch dieses Muster verbreitet sich die Herrschaft Gottes auf der Erde. Sich einlassen auf die viel schlechteren Bedingungen, unter denen andere leben. Schon Jesus hat seine Jünger losgeschickt, damit sie in anderen Städten das Evangelium predigen, obwohl viele wahrscheinlich lieber bei ihm geblieben wären, als sich allein auf eine neue Umgebung und viel Ungewissheit einzulassen.

Dann die erste Gemeinde in Jerusalem, die in einer wunderbaren Freundschaft und Begeisterung zusammenlebte und so viele tolle Erfahrungen mit Gott machte. Aber Gott schickte eine Verfolgung und zwang sie, Jerusalem zu verlassen, und sie werden wahrscheinlich zuerst untröstlich gewesen sein, weil diese tolle christliche Gemeinschaft in alle Winde verstreut war. Aber so kam das Evangelium in die größere Welt.

Oder ein Beispiel aus dem 19 Jahrhundert: ein Engländer namens Hudson Taylor wollte, dass die Chinesen Jesus kennenlernen. Damals saßen die Missionare in den europäischen Kolonien an der chinesischen Küste, und sie konnten den Graben zwischen Chinesen und Europäern nicht überwinden. Taylor gründete deshalb die China-Inlands-Mission. Er zog chinesische Kleidung an und ließ sich das Haar auf chinesische Weise wachsen, er aß chinesisch, aber echt, nicht dieses harmlose europäisierte Essen aus dem China-Restaurant, das wir kennen. Und vor allem gingen er und seine Mitarbeiter weg von den europäischen Kolonien und lebten im Binnenland. Sie versuchten den kulturellen Abstand so klein wie möglich zu halten. Soweit es irgend möglich war, wurden sie zu Chinesen.

Viele andere Christen fanden das unmöglich. Hudson Taylor wurde kritisiert und angegriffen. Wie konnte er nur diese verrückte Lebensweise annehmen! Aber durch seine Mission kam Jesus wirklich zu den Chinesen. Es war keine Sache der Ausländer mehr, sondern ein chinesisches Christentum entstand. Und dieses Christentum hat all die schrecklichen Zeiten überlebt, die im 20. Jahrhundert über China hereingebrochen sind: die Kolonialkriege der Europäer, den Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten, den Angriff der Japaner im zweiten Weltkrieg, Maos Kulturrevolution. Wäre das Christentum Sache von Ausländern gewesen, dann hätte es das nicht überlebt. Aber heute gibt es mehr Christen in China als je zuvor. Die Gemeinden mussten sich im Untergrund ausbreiten, deshalb kann heute keiner genau sagen, wie viele es sind, aber das Christentum ist heute die größte nicht vom Staat kontrollierte Bewegung in China.

Wir erleben heute einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung Chinas. Dieses riesige Land mit über einer Milliarde Menschen, das war bisher gelähmt durch Armut. Wenn sich China aber weiter so entwickelt, dann verschieben sich die Gewichte in der Weltpolitik. Da entsteht eine neue Großmacht, gegen die können wir ganz schön alt aussehen. Es könnte einem angst und bange werden, gerade wenn man daran denkt, was für einen fremde Kultur das ist, mit einem Denken, das so ganz anders ist als unsere abendländische Art, die Welt zu sehen.

Aber wenn mir da unheimlich wird, dann denke ich daran, dass es in diesem riesigen Reich viele christliche Brüder und Schwestern gibt, von außen wenig wahrzunehmen, aber mit einem ganz großen Potential, um die geistliche Lücke auszufüllen, die geblieben ist, seit der Kommunismus entzaubert ist und die alten Götter im modernen Wirtschaftswachstum ihre Kraft verlieren. Wir haben da Freunde, deren Einfluss enorm wachsen wird. Und alles deshalb, weil vor 150 Jahren Menschen das auf sich genommen haben, ihre Heimat, ihre Kultur und ihren Stil des Christseins zu verlassen und so weit es ging Chinesen zu werden. So sieht es aus, wenn Menschen in ihrem Leben die Inkarnation Jesu nachahmen. Daraus kommt die Kraft, mit der Jesus die Welt durchdringt.

Ein ganz klein wenig davon habe ich einmal erlebt, als ich auf einem Kurs war, wo wir lernen sollten, wie man Menschen im Gespräch das Evangelium sagt. Es war eine Woche, in der ich ganz viel gelernt habe. Wir haben trainiert, wie man Menschen so von Jesus erzählt, dass sie am Ende gar nicht mehr anders können, als Ja zu sagen zum Glauben. Sie haben dann nur noch die Wahl zwischen der Hölle und der Entscheidung für Jesus. Und nachdem wir gelernt hatten, wie man ihnen jede Ausrede widerlegt, fuhren wir dann mit drei Leuten zu einer Familie zum Praxistest, um das alles auszuprobieren. Und es wurde ein so guter Abend, ich habe den auch nach über 20 Jahren nicht vergessen. Aber wir haben fast nichts von unseren trainierten Methoden angewandt. Es hat sich ganz anders ergeben. Wir haben über die Erfahrungen dieses Ehepaares mit verschiedenen Konfessionen gesprochen, über ihre Ehe, auch über unsere persönlichen Gedanken. Wir waren auf gleicher Augenhöhe, und all unsere vorbereiteten Argumente haben wir zum Glück weggelassen, weil wir spürten, dass hier etwas ganz anderes angesagt war. Und deshalb war das ein Gespräch, in dem Jesus ganz präsent war, aber auf eine Art, die wir nie vorhergesehen hätten. Wir sind als Missionare gekommen und als Freunde gegangen.

Nun, das war weit weg von hier, und ich weiß nicht, wie es mit diesem Ehepaar weitergegangen ist. Wären sie hier aus Ilsede, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie heute ihren Platz hier in unserer Gemeinde hätten. Ich habe in dieser Woche damals viel gelernt, aber das Wichtigste davon ist, dass man die Menschen nur erreicht, wenn man sich wirklich auf sie einlässt, sie nicht in ein Schema presst und mit ihnen einen Weg geht, auf dem wir uns beide verändern.

Denken Sie mal daran, wie das bei Jesus war: bevor er anfing zu predigen, hat er dreißig Jahre als einfacher Mensch in einem durchschnittlichen Ort gelebt. Und in dieser Zeit hat er nicht nur die Bibel gründlich kennengelernt, sondern genauso das Leben. Man merkt das an seinen Gleichnissen, wie gut er sich in allen Bereichen der Gesellschaft auskannte: im Ackerbau genauso wie im Fischfang, in der Verwaltung, in der großen und kleinen Politik. Er wusste ganz genau, wie die Menschen dachten, er hatte sie von innen kennengelernt. Er ist eben nicht im Alter von 30 Jahren vom Himmel gefallen, sondern als Baby geboren worden. Wie jedes Baby war er völlig abhängig von der Fürsorge anderer. Was ist das? Inkarnation. Drei Jahre hat er gepredigt, fast dreißig Jahre hat er vorher zugehört und gelernt. Du erreichst die Menschen nur, wenn du dich auf sie einlässt, und zwar nicht als Trick, sondern echt. Das gibt es nicht zum Nulltarif.

Ich habe zu Weihnachten einen Film auf DVD bekommen, der in diesem Jahr auch einen Preis bei den Berliner Filmfestspielen bekommen hat, vielleicht haben Sie davon gehört: Goodbye, Bafana. Ein Film über Nelson Mandela und seinen Gefängniswärter, der mehr als 20 Jahre auf ihn aufgepasst hat. Nelson Mandela, der erste demokratisch gewählte Präsident Südafrikas, der ist ja 27 Jahre inhaftiert gewesen, weil er gegen die Unterdrückung der Schwarzen im Apartheidstaat Südafrika gekämpft hat. Man hat ihm einen weißen Gefängniswärter zugeteilt, der seine Muttersprache Xhosa sprach, weil man ihn so besser überwachen konnte. Es ist also ein Film nach einer echten Geschichte, aber ich weiß natürlich nicht, ob das alles wirklich so gewesen ist. Der Film schildert, wie dieser Kontakt über die Jahre den weißen Rassisten verändert. Er entwickelt immer mehr Sympathien für Mandela und seine Sache, er sieht die Unterdrückung der Schwarzen immer kritischer, und am Ende trägt er auch seinen kleinen Teil dazu bei, dass Südafrika eine demokratische Zukunft bekommt.

Und in dieser sehr persönlichen Geschichte zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Menschen, da spiegelt sich die Geschichte des ganzen Landes, und es wird klar, wieviel die persönliche Stärke und Integrität Mandelas dazu beigetragen hat, dass Südafrika nicht in einem blutigen Bürgerkrieg zu Grunde gegangen ist, so wie Jugoslawien vielleicht. Sondern diese Veränderung ist mit relativ wenig Blutvergießen gekommen – klar, es war immer noch viel zu viel, aber angesichts dieser Lage ist es ein Wunder, wie friedlich dann das Ende der Apartheid gekommen ist.

Und man sieht in dem Film, wie Mandela dann, als es alles auf der Kippe steht, vom verachteten Häftling zum Verhandlungspartner der Regierung wird, und wie er mit einer ganz großen menschlichen Klarheit diese Situationen meistert.

Aber vorher ist er fast drei Jahrzehnte im Gefängnis darauf vorbereitet worden. Unter unglaublich brutalen Bedingungen, die alle dazu da waren, die Gefangenen zu zerstören, ist ein Mann herangereift, der im entscheidenden Moment das Richtige tun konnte. Mandela ist auf christliche Schulen gegangen und davon geprägt, aber ausgereift ist das dann im Gefängnis. Und man sieht, wie dieser Mann trotz seiner äußeren Unfreiheit eine Souveränität entwickelt, die alle beeindruckt, die mit ihm zu tun haben. Die auch seinen Gefängniswärter verändert. Was ist das Geheimnis dahinter? Inkarnation. Sich einlassen auf die Welt in ihrer ganzen Hässlichkeit, und wenn das Jahre im Gefängnis bedeutet. So wie Paulus, der auch oft im Gefängnis war und regelmäßig seine Bewacher für Jesus gewonnen hat. In ihm lebte etwas, das stärker war als das System, das ihn kaputtmachen wollte. Aber dieser Einfluss kann nur zu den Menschen kommen, wenn wir uns auf sie einlassen.

Jesus hat es vorgemacht. Wer Menschen verändern will, muss ihr Leben teilen, muss in engem Kontakt mit ihnen kommen. Das bedeutet immer, dass wir unsere Wohlfühlzone verlassen. Manchmal ist es nur ein bisschen ungewohnt wie bei meiner Erfahrung. Oft gehört aber auch Mühe dazu, manchmal auch Leid, in manchen Fällen Schlimmeres. Jesus gewinnt die Welt durch Menschen, die sich so wie er auf die volle Wirklichkeit einlassen, die nicht in den christianisierten Oasen bleiben, wo es leichter zu leben ist, sondern sich aufmachen ins Unbekannte, Ungewohnte, Unerlöste, in der Nähe oder in der Ferne. Und genau da werden wir Jesus finden. Inkarnation. Jesus wurde arm, damit wir reich werden. Und damit wir ihm auf diesem Weg folgen.