„Ich konnte es nicht glauben“

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 11. September 2005 mit 2. Korinther 6,4-10

Der Gottesdienst begann mit einer Szene, in der Banker auf einer Schulung vom Anschlag auf das World Trade Center erfahren.

Später wurden Tagebuchnotizen eines Notfallseelsorgers (Gordon MacDonald in AufAtmen 2002/4, gekürzt) von den ersten Tagen der Aufräumungsarbeiten am Ground Zero vorgelesen.

In allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.

Diese Tagebuchnotizen aus der Grube voller Tod und Zerstörung gehören für mich zu den ermutigendsten Texten, die ich kenne. Denn sie erzählen davon, dass auch mitten im Grauen so einer Stätte Gott präsent ist und sich denen mitteilt, die ihn kennen und auf ihn hören, und sogar auch denen, die bis dahin nicht auf ihn geachtet haben.

Da gibt es eine Kraft, eine Wirklichkeit, einen Geist, eine Gegenwart, etwas Tragfähiges, das sich auch von den äußeren Umständen nicht behindern lässt, und nur von uns selbst abgeblockt werden könnte, wenn wir uns ihm verschließen. Da gibt es das Auge im Sturm, wo inmitten der Zerstörung doch Frieden herrschen kann. Es gibt ein ewiges Reich des Friedens, in unserer Mitte lebt es schon.

Diese Kontrasterfahrung begleitet den christlichen Glauben von Anfang an. Jesus starb am Kreuz in einer persönlichen Katastrophe aus Schmerz und Zerstörung und Scheitern, aber das Leben Gottes war stärker und ließ ihn auferstehen. Dieses Erlebnis, dass Gott größer und stärker ist als die katastrophale Wirklichkeit, das ist die christliche Urerfahrung, und im Großen und im Kleinen haben das die Nachfolger Jesu auch immer wieder am eigenen Leib erlebt. Mitten in Schmerzen und Bedrängnis, wie Paulus es beschreibt:

»Als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.«

Man braucht fast immer Mut und Geduld, um das zu erleben, man bleibt selbst nicht ungeschoren, man geht da nicht unberührt und unversehrt durch – aber die Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes wiegt am Ende schwerer als die Stunden des Zweifels und der Geduld, die auch dazugehören und die oft vorangehen.

Das ist der Grund, warum die frühen Christen nicht vor den Katastrophen wegliefen, wie MacDonald es beschreibt: weil sie wussten, dass Gott mit ihnen war und dass er stärker war – sogar, wenn sie wirklich ihr Leben verlieren würden. Aber sie wussten, dass im Leben und im Sterben sie nichts von der Liebe Gottes trennen kann.

Es ist überhaupt nicht egal, was einer denkt, auch wenn er von einer Jahrhundertkatastrophe überrollt wird. Viele Menschen meinen, bei so einer Naturkatastrophe, die mit überwältigender Macht hereinbricht, da könne unser Denken doch keinen Unterschied machen. Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob Menschen im Angesicht des Schreckens ihr letztes Brot, ihr letztes Wasser miteinander teilen, oder ob sie übereinander herfallen und sich in ihrer Verzweiflung auch noch das bisschen rauben, was übriggeblieben ist. Es ist ein Unterschied, ob ich mich einer Naturgewalt ausgeliefert fühle, oder ob ich weiß, dass mein Herr immer bei mir ist. Es ist ein Unterschied, ob Menschen wissen, dass die Welt sehr gefährlich, ja tödlich sein kann, oder ob sie bis dahin die Augen verschlossen haben vor diesen Abgründen.

Es ist ein Unterschied, ob Menschen all ihre Energie mobilisieren, um so schnell wie möglich zu helfen, oder ob sie sich auch noch im Angesicht der Katastrophe an bürokratischen Prozeduren festhalten. Es ist ein Unterschied, ob eine Gesellschaft das Lebensrisiko möglichst privatisieren möchte, oder ob sie solidarisch zu den Opfern hält, auch wenn es die Armen und Farbigen sind. Es ist ein Unterschied, wenn sich Menschen an den Händen fassen und dann gemeinsam in den Tod gehen, wenn er eben kommt. Es ist ein Unterschied, zu wissen, dass wir auch im schlimmsten Fall nicht auf das bodenlose Nichts zugehen, sondern dass wir nach diesem Leben endlich Jesus begegnen, dieser Augenblick, auf den wir schon so lange gewartet haben.

Gemeinden und Pastoren sind dafür da, dass Menschen rechtzeitig dieser Wirklichkeit Gottes auf die Spur kommen, damit sie dann in den großen und kleinen Katastrophen Zugang dazu haben. Natürlich kann man auch hoffen, dass man diesen Zugang nötigenfalls auch dann noch findet, wenn man der Ernstfall da ist und man den Zugang tatsächlich braucht. Geht das? Ja, das kommt vor. Ja, es gibt Leute, die erst nachdem sie ins Wasser gefallen sind, schwimmen gelernt haben, wer wollte das bestreiten? Aber leider gibt es noch viel mehr, die es dann nicht mehr gelernt haben.

Aber diese Kraft Gottes, zu der uns der Glaube an Jesus Zugang finden lässt, die ist falsch eingeordnet, wenn man sie nur im Blick auf die Extremsituationen bedenkt. In solchen Momenten zeigt sich natürlich deutlich, was für ein Potential in Wirklichkeit dort verborgen ist. Aber dieses Potential soll sich jeden Tag in unserem Leben auswirken und dort Reichweite hineinbringen, Bedeutung und Souveränität. Vielleicht müssen wir ja erst noch viel mehr darüber lernen, wie das aussieht. Aber was am World Trade Center geholfen hat, dass müsste doch auch unser normales Leben und Denken revolutionieren können.

Die Alternative, die sich in solchen Spitzenmomenten deutlich zeigt, durchzieht jedes Menschenleben: ob wir das Wissen ertragen können, dass wir sehr verletzlich und gefährdet sind, und ob unser Herz darauf seine ganz persönliche Antwort gibt, getragen von der Wirklichkeit Gottes – oder ob wir uns durch alle möglichen Abschirmungen und Sicherheiten diese Begegnung mit unserer Verletzlichkeit möglichst lange ersparen wollen und dann am Ende um so sicherer von ihr eingeholt werden.

Vielleicht hilft uns ein Blick in die Geschichte, diese Alternative besser zu verstehen: die Briten haben es ihrer kürzlich verstorbenen Königinmutter nie vergessen, dass die im Zweiten Weltkrieg im Bombenhagel der deutschen Luftangriffe nicht aus London geflohen ist, sondern ausgehalten hat und hingegangen ist zu den zerstörten Häusern, zu den Toten und den Überlebenden. Noch nach 60 Jahren war sie das beliebteste Mitglied der Königsfamilie. Weil sie anscheinend gewusst hat, dass es sich nicht gehört, wenn die da oben sich in Sicherheit bringen und es noch nicht mal wahrnehmen, wie die Menschen kämpfen und leiden müssen. Sie hätte sich dem entziehen können, aber sie hat es nicht getan. Sie hat die menschliche Kraft gehabt, da hinzugehen.

Und egal, ob wir Königin sind oder Präsident oder irgendeiner, der nie den Geschichtsbüchern stehen wird: die wirkliche Kraft kommt aus unserem Menschsein, aus unserem Herzen, aus dem Boden, in dem wir verwurzelt sind – oder eben auch nicht. Es geht darum, ob wir uns ängstlich hinter dicken Mauern, hinter Geld oder Ansehen oder anderen »Sicherheiten« verstecken, oder ob wir uns im Vertrauen auf Gottes Kraft der Realität aussetzen. Wo findet man die wirkliche Kraft eines Landes: bei den Feuerwehrleuten, die sagen: »Andere laufen weg – wir laufen hin« oder bei denen, die vom grünen Tisch aus Vergeltungskriege planen samt der Lügen, die sie brauchen, um den Krieg zu rechtfertigen? Was ist das wahre Kapital eines Landes: die glitzernden Fassaden milliardenteurer Hochhäuser – oder die Bereitschaft der Menschen, mit großem Einsatz denen zur Seite zu stehen, die auf Solidarität dringend angewiesen sind?

Für Nachfolger Jesu ist das keine Frage. Jesus ist »in unsere Grube« hineingegangen, in unsere Welt, und er ist darin umgekommen. Das ist der Weg des Kreuzes, der Weg der Solidarität, der Weg des persönlichen Risikos, wo sich keiner vertreten lassen kann, aber wo wir mit dem, was wir wirklich sind, dem lebendigen Gott begegnen und von ihm die Kraft bekommen, die wir nie kaufen können.