Flucht in die Zukunft?

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 5. September 2004 zu 2. Korinther 6,1-10

6,1 Als Gottes Mitarbeiter rufe ich euch also auf: Verspielt nicht die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt! 2 Gott sagt: »Wenn die Zeit kommt, dass ich mich über euch erbarme, erhöre ich euch; wenn der Tag eurer Rettung da ist, helfe ich euch.« Gebt acht: Jetzt ist die Zeit der Gnade! Jetzt ist der Tag der Rettung!
3 Ich sehe darauf, dass mein Verhalten in jeder Hinsicht einwandfrei ist; denn ich möchte nicht, dass der Dienst, der mir aufgetragen ist, in Verruf kommt. 4 Meine »Empfehlung« ist es, dass ich mich in allem als Diener Gottes erweise: Mit großer Geduld ertrage ich Sorgen, Nöte und Schwierigkeiten. 5 Ich werde geschlagen, ich werde eingesperrt, sie hetzen das Volk gegen mich auf. Ich arbeite mich ab, ich verzichte auf Schlaf und Nahrung. 6 Ich empfehle mich weiter durch ein einwandfreies Leben, durch Erkenntnis, durch Geduld und durch Freundlichkeit, durch Wirkungen des Heiligen Geistes und durch aufrichtige Liebe, 7 durch das Verkünden der Wahrheit und durch die Kraft, die von Gott kommt. Meine Waffe für Angriff und Verteidigung ist, dass ich tue, was vor Gott und vor Menschen recht ist.
8 Es macht mir nichts aus, ob ich geehrt oder beleidigt werde, ob man Gutes über mich redet oder Schlechtes. Ich werde als Betrüger verdächtigt und bin doch ehrlich. 9 Ich werde verkannt und bin doch anerkannt. Ich bin ein Sterbender, und doch lebe ich. Ich werde misshandelt, und doch komme ich nicht um. 10 Ich erlebe Kummer und bin doch immer fröhlich. Ich bin arm wie ein Bettler und mache doch viele reich. Ich besitze nichts und habe doch alles.

»Jetzt ist die Zeit der Gnade« sagt Paulus. »Jetzt ist die Zeit des Heils!«. Während wir so leicht sagen: heute ist der Tag, den wir lieber schnell hinter uns bringen, sagt Paulus: dies ist der Tag des Heils. Denn an welchem Tag soll Gott uns denn begegnen, wenn nicht heute? Die Vergangenheit ist gelaufen, da können wir nicht mehr dran drehen, so gerne wir es manchmal möchten, und die Zukunft, von der wissen wir nicht, wie sie werden wird, aber die Gegenwart, das ist die Zeit, in der wir wirklich leben.

Wenn Gott uns nicht heute mit seiner Gnade begegnet, wann dann? Wann, wenn nicht jetzt? Was wäre das für ein Gott, der genauso abhängig wäre von den Umständen wie wir, der auch sagen würde: ich warte bis zum nächsten Urlaub, bis ich wieder eine Chance habe, dir zu begegnen!

Haben Sie schon einmal darauf geachtet, wie oft Menschen das wahre Leben verschieben auf die Zeit, wenn die Zeiten anders geworden sind? Wenn es wieder ruhiger geworden ist, dann werden wir uns mal treffen. Wenn wir nicht mehr arbeiten müssen, dann werden wir das Leben genießen.

Aber wissen Sie, wie oft ich schon diese Geschichte gehört habe, dass Menschen erzählen: wir hatten uns vorgenommen, wenn wir endlich im Ruhestand sind, dann wollten wir es uns richtig schön machen, all das tun, wozu wir vorher nicht gekommen sind und das vom Leben haben, was vorher nicht geklappt hat. Und was passiert dann? Wenn es soweit ist, dann stirbt einer oder wird krank und es geht nicht mehr. Das ist wie bei dem reichen Bauern, von dem wir vorhin in der Lesung gehört haben: wir können nicht auf lange Sicht unser Leben kalkulieren. Der Mann hatte sich auf ein langes Leben eingerichtet, das er aus seinen gut gefüllten Scheunen bestreiten wollte, aber Gott erinnerte ihn daran, dass wir noch nicht einmal kurzfristig unser Leben als feste Größe in eine Rechnung einsetzen können.

Es ist schon klar, dass man nicht in jedem Augenblick alle Möglichkeiten hat. Das Leben hat seine Zeiten. Es gibt die Zeiten des Säens und des Erntens. Natürlich gibt es die Zeiten, wo wir uns etwas aufbauen oder wo die kleinen Kinder unsere ganze Energie brauchen. Und wir können das nicht willkürlich überspringen und einfach beschließen, dass jeden Tag Ernte ist. Und wir dürfen uns natürlich freuen auf gute Dinge, die wir in der Zukunft erwarten.

Aber haben Sie sich schon mal dabei ertappt bei dieser chronischen Flucht aus der Gegenwart, wie Sie das wahre Leben immer wieder auf die Zukunft verschoben haben? Aufs nächste Wochenende, auf den Urlaub? Auf die Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Eben gerade haben wir die ganzen Zeitmarken angehört, die Menschen sich vielleicht setzen, auf die sie warten, damit das wahre Leben beginnen kann: wenn ich endlich mit der Schule fertig bin. Wenn wir Kinder haben. Wenn unsere Kinder groß sind. Und so weiter. Das wahre Leben, das ist die Zeit, wenn die äußeren Bedingungen endlich stimmen. Aber gibt es eine Garantie dafür, dass die Bedingungen jemals stimmen werden? In der ersten Szene haben die beiden gesagt: im Urlaub, da können wir so richtig Mensch sein. Aber was ist mit den ganzen Wochen dazwischen? Das kann doch nicht sein, dass das verlorene Zeit ist?

Paulus sagt: heute ist die Zeit des Heils. Heute ist der Tag, wo Gott das wahre Leben gibt. Wann, wenn nicht heute? Und Paulus sagt: es wäre schrecklich, wenn Gott das umsonst tun würde, vergeblich, ohne, dass wir es bemerken. Auf Gottes Seite steht alles bereit: Gnade, Freude, Leben in Fülle, die Kraft der Erneuerung, aber auf unserer Seite kommt nichts zustande, weil wir gar nicht in der Gegenwart leben, sondern irgendwo anders sind. Und die Gnade Gottes geht einfach an uns vorbei …

Und damit keiner auf den Gedanken kommt, dass Paulus einfach nur Glück gehabt hat und deshalb so optimistisch davon reden kann, dass Gott jeden Tag das wahre Leben gibt, dazu beschreibt Paulus seine Gegenwart. Er schreibt von Sorgen, Nöten und Problemen. Er wird eingesperrt, er schuftet Tag und Nacht und bekommt noch nicht mal ausreichend Schlaf. Finanziell sieht es meistens auch nicht gut aus, er wird beschuldigt angegriffen und geschlagen. Sieht so ein Tag des Heils aus? Wenn ein Tag nach dem andern im Gefängnis vergeht und man sich danach sehnt, die Gefängnismauern hinter sich lassen zu können, ist das ein Tag der Gnade? Und Paulus sagt: ja.

Er sagt: ja, jeder Tag ist ein Tag, an dem wir Gott die richtige Antwort geben können. Jeder Tag kann ein Tag sein, an dem Gott sich über uns freut. Stell dir vor: Gott schaut auf dich und auf das, was du tust, und er freut sich. Er schaut auf dich und lächelt und sagt: ja, er macht es richtig. Ja, sie hat verstanden, worauf es ankommt. Jeder Tag kann ein Tag sein, an dem Gott auf dich schaut und sich freut.

Paulus sagt: durch ein einwandfreies Leben, durch Erkenntnis, durch Geduld und durch Freundlichkeit, durch Wirkungen des Heiligen Geistes und durch aufrichtige Liebe, 7 durch das Verkünden der Wahrheit und durch die Kraft, die von Gott kommt – durch all kann ich jeden Tag als Tag der Gnade annehmen, und dafür gibt es auch im Gefängnis Raum, und all das ist auch nicht vom Geldbeutel abhängig. Jeder Tag ist ein Tag des Heils, wir dürfen ihn nur nicht verpassen.

Verstehen Sie, diese Sicht ist deshalb möglich, weil Paulus das wahre Leben anders definiert hat. Er sagt nicht: das wahre Leben hängt daran, dass die richtigen Umstände zusammentreffen. Sondern er sagt: wahres Leben ist dann, wenn wir auf Gottes Gnade antworten. Gott gibt uns eine Steilvorlage, und wenn wir sie annehmen und im Tor versenken, das ist wahres Leben. Und Gott gibt uns jeden Tag so eine Steilvorlage und wir sollen sie an keinem Tag verpassen. Seine Gnade besteht darin, dass er uns jeden Tag eine Chance zuspielt, die Gelegenheit zu einem erneuerten Leben. Nein, nicht nur irgendeine Gelegenheit, sondern er bereitet alles vor, damit wir diesen Tag mit ihm leben können. Das ist Gnade. Und das ist nicht abhängig davon, unter welchen Verhältnissen wir diesen Tag leben müssen. Gott kann uns auch durch schwierige Herausforderungen so eine Vorlage geben.

Mir ist das neulich ganz deutlich geworden, als ich etwas las, wo jemand beschrieb, wie Gott die Früchte des Heiligen Geistes in unserem Leben hervorbringt, also Liebe, Freude, Frieden, Geduld und all die anderen guten Dinge in unserem Charakter. Er sagte: Gott lässt uns in Situationen geraten, wo wir in die Gefahr kommen, genau das Gegenteil der gewünschten Eigenschaft zu praktizieren. Zum Beispiel entwickelt sich unsere Geduld in Situationen, in denen wir gezwungen sind zu warten und dabei in Versuchung geraten, wütend zu werden und womöglich auszurasten. Warum das? Weil Charakterentwicklung über Wahlmöglichkeiten läuft. Deshalb stellt Gott uns in Situationen, wo wir entweder aus der Haut fahren oder eben Geduld entwicklen. Und dann lernen wir entweder Geduld, oder wir merken jedenfalls die Folgen, die die Entscheidung zum Ausrasten hat und sind dann das nächste Mal klüger.

Anderes Beispiel: Gott lehrt uns Liebe, indem er bestimmte wenig liebenswerte Menschen in unsere Umgebung stellt. Man braucht keinen Charakter, um Menschen zu lieben, die freundlich mit uns umgehen und liebenswert sind, aber was ist mit den anderen? Die sind sozusagen Gottes Trainingspartner für uns, an denen wir Liebe lernen sollen. Wobei man immer dazu sagen muss, dass es auch zur Liebe gehört, Menschen nötigenfalls in aller Deutlichkeit Grenzen zu setzen. Und mancher muss vor allem das lernen. Und wir brauchen das Evangelium und die Gemeinde und die Menschen dort, damit wir in all diesen Situationen leichter die richtige Entscheidung fällen, denn wenn man mitten drin steht, ist das sehr unübersichtlich.

Gott geht Wege, auf die wir nicht kommen. Natürlich kannte ich schon immer diese Stelle im Römerbrief, wo es heißt, dass uns alles zum Besten dienen muss, wenn wir Gott lieben. Aber das noch einmal so in der Nahansicht zu studieren, das fand ich besonders beeindruckend.

Wollen Sie noch ein paar Beispiele? Gott schenkt uns den wahren Frieden nicht dadurch, dass er die Dinge so laufen lässt, wie wir sie uns wünschen, sondern indem er Zeiten der Verwirrung und des Chaos zulässt. Jeder kann Frieden empfinden, wenn er im Urlaub einen wunderschönen Sonnenuntergang betrachtet. Aber den Frieden, der alle Vernunft übersteigt, den finden wir in Situationen, die uns Sorgen machen, uns ängstigen oder uns in Versuchung führen. Wenn wir uns da mit Furcht und Zittern dazu durchringen, Gott zu vertrauen und auf ihn zu hören, dann wächst in uns ein Friede, den uns keine äußeren Umstände mehr nehmen können.

Und ebenso lehrt Gott wahre Freude mitten in der Verzweiflung, wenn Menschen sich an ihn wenden und mitten in der Dunkelheit sein Licht zu leuchten beginnt. Vielleicht hätten wir es unter anderen Umständen übersehen und nicht beachtet, aber wenn unser Herz nach ein bisschen Wärme und Zuwendung lechzt und uns aller Ersatz aus der Hand geschlagen ist, dann entdecken wir dass Gott uns die Freude schenkt, die wir in allen Ablenkungen gesucht haben.

Schließlich glaube ich, dass es auch einen Sinn in der ganzen Hektik gibt, die in der ersten Szene unser Urlauberehepaar zu Hause gleich wieder fertig machte. Ich habe die Vermutung, dass Gott vielen von uns immer neue Anforderungen ins Leben stellt, damit wir lernen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Er bringt uns in Situationen, in denen wir gar nicht mehr alle Erwartungen erfüllen können und fordert uns so heraus, uns klar zu werden, was wir denn wirklich mit unserm Leben anfangen wollen. Er bringt uns in eine Lage, wo wir kaum noch anders können, als unserem Leben eine Richtung zu geben.

Und wenn wir ernsthaft darüber nachdenken, dann stoßen wir irgendwann auf diesen Appell von Paulus: Achtet vor allem darauf, dass ihr die Gnade Gottes nicht versäumt, diese Chance, die Gott euch zuspielt. Darauf zu antworten, das ist das wahre Leben. In allem Stress, den Paulus erlebte, hat er mittendrin das Glück und die Freude gefunden, mit denen Jesus unser Herz immer wieder erfüllt, und er hätte mit keinem tauschen wollen.

Aber auch der andere, strengere Gedanke ist es wert, dass wir uns das klarmachen: Ihr kennt die Zukunft nicht und ihr wisst nicht, was vielleicht schon in kurzer Zeit auf euch wartet, und wo ihr jedes bisschen Glauben, Hoffnung und Liebe brauchen werdet. So viele Menschen können davon erzählen, wie sie ganz unerwartet in Zeiten der Enttäuschung und der Bedrängnis hineingekommen sind und froh waren über alles, was sie vorher von Gott gelernt hatten, weil das ihnen dann wirklich geholfen hat. Gott schenkt uns jeden Tag einen Tag der Gnade, seine Barmherzigkeit und Güte ist jeden Morgen neu, aber wir sollen unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, dass wir diesen heutigen Tag nicht versäumen. Auf welchem Rang in eurer Prioritätenliste steht das Training dafür? Das kommt nicht von selbst, das braucht unsere Aufmerksamkeit und Vorbereitung, wie alles, was Hand und Fuß haben soll.

Seit Jesus macht Gott aus unseren Tagen Tage des Heils und der Gnade. Er macht sie auch aus dunklen und verwirrenden Tagen. Deshalb sollen wir keinen Tag abschrieben, sondern jeden Tag neu im Heute leben, weil Gottes Güte jeden Morgen neu ist und wir sie an keinem Tag versäumen sollen.