Der erste Brückenkopf auf der Erde

Predigt am 24. Dezember 2001 (Heiliger Abend) zu 1. Timotheus 3,16

Zu Weihnachten begegnen sich Himmel und Erde. Am deutlichsten wird das sichtbar in der Szene auf dem Feld vor Bethlehem, wo sich der Himmel öffnet und die Hirten ohne Vorwarnung tief hineinsehen können in die Herrlichkeit der Welt Gottes mit all den Engeln und der Freude, die dort herrscht. Der Vorhang geht auf, und für einen Moment dürfen Menschen einen Blick in die verborgene Welt Gottes tun und sehen, was Gott dort alles in Bewegung setzt, um der Erde willen.

Die Weihnachtsgeschichte stellt die Verbindung her zwischen dem, was für alle sichtbar im Vordergrund geschieht, und dem Hintergrund davon in der himmlischen Welt. Es ist so, als ob an dieser einen Stelle Gott schon einmal die Trennung aufheben will zwischen den beiden Sphären, die sonst nicht so einfach miteinander kommunizieren können. Aber genau dazu, dass Himmel und Erde wieder in ein Verhältnis zueinander kommen, dazu ist Jesus ja gekommen.

In der Weihnachtsgeschichte begegnet uns ein Wissen um die unsichtbare Welt Gottes. Normalerweise ist sie uns verschlossen, aber hin und wieder können wir da hineinblicken und etwas davon erkennen, was dort geschieht. Da bewegen sich die Engel Gottes und führen ihre Aufträge aus. Und in dieser unsichtbaren Welt fallen Entscheidungen über die sichtbare Welt. Da bereiten sich die Dinge vor, lange, bevor sie dann bei uns Gestalt annehmen.

Und in der Weihnachtsgeschichte, da ist der Clou gerade das Hin und Her zwischen den beiden Welten. Da sehen wir im Vordergrund die Krippe und den Stall, aber immer wieder mischt sich die unsichtbare Welt ein. Z.B. durch die Hirten, die von den Engeln in Bewegung gebracht werden und dann mitten in die Familienszene hineinplatzen und sie wahrscheinlich mit lauten Rufen stören: da ist es! tatsächlich! Ein neugeborenes Kind in einer Futterkrippe! Wie die Engel es angekündigt haben – und da sind auch die Windeln!

Die Menschen wussten damals noch mehr davon, dass es eine verborgene Seite der Welt gibt, die unsichtbare Welt, den Himmel, wo die Entscheidungen fallen, lange bevor sie dann hier bei uns sichtbar werden. Ein Beobachter auf der Erde hätte damals nur sagen können: da gibt es ein neugeborenes Kind, und mit dem ist irgendwas Besonderes los! – da war für die Engel schon der erwachsene Jesus im Blick mit all dem, was er tun und bewirken würde. Und deshalb freuten sie sich so und sagten: das ist der Durchbruch! Das war die Wende!

Auf vielen Bildern sind heute die Engel nur noch putzige Begleiter von Weihnachtsmann und Christkind. Aber überall, wo sie auftauchen, da sind sie immer noch der Hinweis darauf, dass es beim Weihnachtsfest um diese besondere Kombination geht: um die himmlische Sicht auf ein irdisches Ereignis. Sie stehen für den himmlischen Hintergrund dieser Geschichte und für den Glanz, der vom Himmel aus auf diese Geburt fällt.

Denn ohne diesen Hintergrund ist die Geschichte nun doch nicht so etwas Besonderes. Das kommt bis heute tausendfach vor, dass eine Geburt sich zur Unzeit meldet und dann unter ganz schwierigen Umständen passiert. Trotzdem ist es eine anrührende Geschichte, weil sie uns daran erinnert, wie stark und robust das Leben ist, und wieviel Kraft in Menschen steckt, Kraft dazu, so ein neugeborenes Kind zu beschützen und dieses Leben zu verteidigen, Kraft zur Fürsorge und zur Liebe, Kraft dazu, auch in ganz erbärmlichen Umständen durchzuhalten. Und es ist kein Zufall, dass die Geburt Jesu gerade diese menschliche Kraft zeigt, diese starke Liebe zum Leben.

Aber das ist doch nur der Vordergrund der Geschichte, ein Bild, das auch ein flüchtiger Beobachter wahrnehmen kann. Ein paar Kilometer weiter erfahren ein paar Hirten die himmlische Sicht auf diese Geschichte. Die Engel sind an diesem Abend außer sich vor Begeisterung, weil Gott ihnen sein endgültiges Projekt für die Erde zeigte – dass er selbst Mensch werden wollte, um die Erde menschlich zu machen. Im Hintergrund ist schon die entscheidende Weiche gestellt, aber erst als die Hirten dann gehen und sich die junge Familie ansehen, da kommt wirklich zusammen, was zusammengehört.

Diese Parallelität von Himmel und Erde finden wir auch in einigen Sätzen des Neuen Testaments, im 1. Timotheusbrief. Dort wird diese doppelte Sicht auf Jesus Christus so beschrieben:

Niemand kann es bestreiten: Groß und einzigartig ist die geheimnisvolle Wahrheit unseres Glaubens:
In der Welt erschienen als schwacher Mensch,
im Himmel in seiner göttlichen Würde bestätigt –
so wurde Christus den Engeln gezeigt
und den Völkern der Erde verkündet.
Überall in der Welt fand er Glauben,
und im Himmel erhielt er die höchste Ehre.

Was in der sichtbaren Welt, unter uns, passiert, das kann in der unsichtbaren Welt eine Bedeutung haben, die weit über das hinausgeht, was Menschen an Ort und Stelle beobachten. Aber über kurz oder lang zeigt sich das auch in der sichtbaren Welt. Vor nicht allzu langer Zeit gab es einen Film mit dem Titel »Der Soldat James Ryan«. Es war ein Kriegsfilm über ein entscheidendes Ereignis des Zweiten Weltkriegs, eine Darstellung der Landung der alliierten Truppen in der Normandie im Sommer 1941. Und es heißt, noch nie zuvor hätte jemand so realistisch gezeigt, unter welchen Ängsten, Schrecken und Schmerzen die Soldaten damals diese wenigen Meter Strand in der äußersten Ecke Frankreichs erobert haben. Was hat das mit Weihnachten zu tun?

Am Ende dieses schrecklichen und blutigen Tages herrschte Hitler immer noch über Europa. Die Konzentrationslager bestanden immer noch. Immer noch wurden Menschen willkürlich verfolgt, verhaftet und terrorisiert. Das einzige, was sich verändert hatte, waren die wenigen hundert Meter Strand, die an diesem Tag mit einem unglaublichen Preis freigekämpft worden waren. Aber in Wirklichkeit war die entscheidende Wende geschehen. Es war eine Bresche geschlagen, und bald darauf war Paris befreit, und 11 Monate später war die Macht Hitlers zu Ende. Die Tore der Gefängnisse und Lager öffneten sich, und nicht lange danach wurde auch der Grundstein gelegt zu dem freien Staat, in dem wir heute leben.

Dies alles aber begann mit diesen winzigen Strandstücken in der Normandie. Da war eine Entscheidung gefallen, von der noch nicht viele Menschen wussten, und keiner konnte schon ganz übersehen, welche Folgen das im Lauf der Jahre noch haben würde. Aber überall in Europa gab es Menschen, die heimlich Radio hörten und die Freiheit begrüßten, die sich da ankündigte. Und sie wurden davon mutiger. Und genau so ist die Geschichte von der Geburt Jesu die Geschichte von dem ersten winzigen Stück Welt, das Gott sich hier auf der Erde wieder freigekämpft hat. Eine Futterkrippe und ein Stall — viel größer ist es noch nicht. Und die Zahl derer, die überhaupt ahnen, was hier geschehen ist, ist genauso winzig. Und es wird noch Jahre dauern, bis man wieder von diesem Kind hören wird. Und trotzdem: der entscheidende Anfang ist gemacht. Der Brückenkopf ist da, und Gott verteidigt diesen winzigen Brückenkopf auch gegen die Versuche des Königs Herodes, das neugeborene Kind schnell wieder zu beseitigen.

Und eines Tages ist es schließlich soweit: der erwachsene Jesus bringt die Menschen massenhaft in Bewegung. Er befreit sie von Krankheit und kümmerlichem Leben, und er zeigt ihnen, wie man in dieser gewalttätigen Welt trotz allem ein Leben nach Gottes Herzen führen kann. Und diese befreite Zone um ihn herum, diese Zelle des neuen Lebens, die wächst und lebt trotz aller Versuche, sie wieder auszulöschen. Und selbst als sie Jesus hinrichten, da besiegt er den Tod, er lebt neu, er beschenkt seine Jünger mit dem Heiligen Geist, und die Zellen des neuen Lebens breiten sich aus im ganzen römischen Weltreich.

Verstehen Sie, das alles hat damals angefangen, und die Engel haben es schon damals gewusst. Aber sie haben noch mehr gewusst. Diese Bewegung, die Jesus angeschoben hat, die wird eines Tages damit enden, dass die Welt erneuert ist, dass sie Gottes Welt ist, dass der Himmel endgültig und unwiderruflich auf die Erde kommt. Die Entscheidung, die damals in Bethlehem gefallen ist, die reicht auch noch weit über das hinaus, was wir erleben. Diese Entscheidung umfasst die ganze Welt, wir können nur ahnen, was das am Ende alles bedeuten wird. Aber wir können zuversichtlich sein, dass diese Entscheidung sich auf unserer Erde verwirklichen wird.

All die Entscheidungen in der unsichtbaren Welt, die haben ein Ziel: sie wollen die Erde gestalten. Gott wollte seine Ziele in der materiellen Welt verwirklichen, ihm reicht es nicht, im Himmel zu bleiben, in der Sphäre des reinen Geistes. Ganz freiwillig hat er sich entschlossen, ein Gegenüber zu schaffen, unsere Welt, und er wird nicht aufgeben, bis wieder Freundschaft herrscht zwischen Himmel und Erde.

Und so sucht er Menschen, die in ihrem Innern aus dieser Entscheidung leben, die in Bethlehem sichtbar wurde. Wir alle haben auch so eine verborgene Welt, wo für uns und unser Leben die Entscheidungen fallen. Was ein Mensch in seinem Herzen beschließt, das verwirklicht sich in seinem Leben. Und deshalb soll Jesus in unserem Herzen noch einmal geboren werden. In dieser kleinen verborgenen Welt soll er seinen Platz haben, von da aus soll er unser Leben durchdringen und gestalten. Was mit Jesus in die Welt gekommen ist, das soll Ihr Leben und mein Leben vom Zentrum aus verwandeln: Friede auf Erden bei den Menschen der Gnade.