Offene Türen – die verändernde Macht des Gebets

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 2. Mai 2002 zu 1. Timotheus 2,1-6

Vorausgegangen war ein Monolog der „Putzfrau Marlene“, die ihren Arbeitstag benutzt, um für ihre Verwandten, Freunde und Arbeitgeber zu beten, und die ihre Gebetsanliegen, um sie nicht zu vergessen, mit Gegenständen in Verbindung bringt: z.B. eine Freundin, die mehr Energie braucht, mit der Steckdose.

1 Das Erste und Wichtigste, wozu ich die Gemeinde aufrufe, ist das Gebet, und zwar für alle Menschen. Bringt Bitten und Fürbitten und Dank für sie alle vor Gott! 2 Betet für die Regierenden und für alle, die Gewalt haben, damit wir in Ruhe und Frieden leben können, in Ehrfurcht vor Gott und in Rechtschaffenheit. 3 So ist es gut und gefällt Gott, unserem Retter. 4 Er will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen und gerettet werden.

5 Denn dies ist ja unser Bekenntnis:
Einer ist Gott,
und einer ist der Vermittler zwischen Gott und den Menschen:
der Mensch Jesus Christus.
6 Er gab sein Leben,
um die ganze Menschheit von ihrer Schuld loszukaufen.

Martin Luther hat einmal gesagt, es müsse doch viele Menschen geben, die im Verborgenen und ganz unauffällig beten, weil die Welt sonst schon längst untergegangen wäre. Das kann keiner überprüfen, aber der Gedanke erläutert gut diese Geschichte von der Putzfrau Marlene, die aus ihrer täglichen Arbeit sozusagen ein geistliches Großreinemachen macht.

Was passiert da? Marlene sorgt dafür, dass die Familie, für die sie arbeitet, ihre Freundin, ihr Mann und viele andere vor Gott erwähnt werden. Sie ist sozusagen das Verbindungsglied dieser Menschen zu Gott. Menschen, die sonst von sich aus nicht an Gott denken würden, kommen mit ihren Anliegen auf diese Weise zu Gott. Und das trägt dann dazu bei, dass diese kleine Welt der Familie Merkel gedeiht und nicht untergeht.

Man kann das auch auf die Christen allgemein beziehen und sagen: wir sind dafür da, dass die Welt vor Gott gebracht wird. Gott wollte sein Volk haben, das hier in der Welt ist und für die Welt eintritt. Gott hatte ja ursprünglich Adam und Eva berufen und ihnen den Auftrag zur Herrschaft über die ganze Erde gegeben, und da war selbstverständlich mit eingeschlossen, dass sie als Oberhäupter der Schöpfung die Schöpfung vor Gott vertraten. Das ging damals ohne Gebet, weil Gott ja sowieso immer mal wieder im Paradies auf Besuch kam. Nachdem wir nun aber nicht mehr im Paradies leben, läuft die Kommunikation mit Gott normalerweise über das Gebet.

Wenn wir also für Menschen und für ein Stück Welt beten, dann erfüllen wir die Aufgabe, die Gott Adam und Eva anvertraut hat: wir reden als Verantwortliche für die Welt mit Gott über unseren Aufgabenbereich. Und damit bekommen wir wieder etwas zurück von der Vollmacht und Autorität, die Gott uns zugedacht hatte.

Das bedeutet, dass Menschen, die beten, einen wichtigen Schritt getan haben, um Ohnmachtserfahrungen und Passivität zu überwinden. Die Marlene in der Szene vorhin hätte ja auch sagen können: ich bin eben nur die Putzfrau, alle schmeißen sie ihren Dreck in die Gegend und ich darf ihn wegmachen. Ich bin ja auch nur der letzte Dreck. Sollen die doch sehen, wie sie fertig werden, ich mache meinen Job, und alles andere ist mir egal.

Wenn sie so gedacht hätte, dann hätte sie sich selbst am meisten geschadet. Aber indem sie ihre Arbeit zu einer geistlichen Aufgabe macht, kommt sie überhaupt nicht auf die Idee, in Selbstmitleid zu verfallen. Mit einem modernen Fachausdruck heißt diese Haltung »Proaktivität«. Gemeint ist der Glaube, dass ich den entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse in meinem Leben habe und mit allem fertig werden kann, was mir über den Weg läuft. Menschen mit ausgeprägter Proaktivität sind viel widerstandsfähiger gegen Misserfolge und Schicksalsschläge. Sie können sich auch mit schwierigen Ereignissen arrangieren. Proaktivität ist sozusagen ein starker Glaube an die eigenen Fähigkeiten, der sich auch durch zeitweilige Misserfolge nicht erschüttern lässt.

Aber für jemanden, der an Gott glaubt, gründet sich die Proaktivität nicht nur auf die eigenen Fähigkeiten. Obwohl es auch schon ein starker Anreiz sein kann, zu sagen: Gott hat mich hierhin gestellt, er traut mir zu, dass ich an dieser Stelle eine Aufgabe erfülle, und wenn er mir das zutraut, dann will ich daraufhin diese Aufgabe anpacken, auch wenn ich im Moment nicht weiß, wie ich das schaffen soll.

Aber darüber hinaus wissen wir ja auch, dass Gott noch viel größere Möglichkeiten hat, Dinge durch mich hindurch zu tun, die eigentlich jenseits meiner Möglichkeiten liegen. »Ich bin allem gewachsen durch den, der mich stark macht« sagt Paulus (Phil. 4,13).

Manche Christen richten an dieser Stelle ein großes »Vorsicht«-Schild auf und sagen: das muss aber auch ganz klar sein, dass das alles nicht aus uns kommt, sondern von Gott, von Jesus. Aber ich glaube, dass man das gar nicht immer fein säuberlich unterscheiden kann, ob jetzt Gott in seiner Kraft durch mich wirkt, oder ob er mich einfach in eine Lage gebracht hat, wo ich herausgefordert bin, meine Gaben und Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Und es ist ja letztlich auch nicht so entscheidend, solange durch mich — hoffentlich! — Gottes Wille geschieht.

Aber es ist schon klar, dass Optimismus und Hoffnung nicht dasselbe sind. Optimismus ist etwas Gutes — z.B. ist die Überlebenschance von optimistischen Menschen nach einem Herzinfarkt deutlich höher, und dieser Faktor ist viel wichtiger als die richtige Ernährung. Es ist viel gesünder, Pommes mit Zuversicht zu essen als Salat voll Verzweiflung. Wobei ich jetzt niemanden zu ungesunder Lebensweise ermutigen möchte, aber wir überschätzen normalerweise den Einfluss der Ernährung und wir unterschätzen den Einfluss unserer geistlichen Grundhaltung.

Also, Optimismus ist etwas Gutes, aber in Gott gegründete Hoffnung schließt all die psychologischen Vorteile des Optimismus ein, wurzelt aber in etwas Tieferem und Verlässlicherem.

Optimismus kann durch eine Reihe von schlechten Erfahrungen gebrochen werden. Hoffnung ist tiefer verwurzelt, weil sie nicht nur in Erfahrungen begründet ist, sondern in einer Überzeugung vom Wesen Gottes. Hoffnung ist davon überzeugt, dass Gott mir auch durch das Schlimmste und Böseste etwas Gutes erweisen kann – »denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.« Zu dieser Haltung finden Menschen manchmal mitten in schlechten Erfahrungen, aber sehr viel besser und leichter geht es, wenn wir diese Überzeugung rechtzeitig in uns befestigen und einüben, vorher. Wir werden dann im Ernstfall immer noch hart genug zu kämpfen haben.

Eine der besten Möglichkeiten, um so eine Haltung einzuüben, ist tatsächlich die Fürbitte und das Gebet. Dadurch kann sich unsere ganze Einstellung zur Welt ändern. Wir haben immer mindestens diesen Spielraum, dass wir für scheinbar unveränderliche Zustände beten. Schon das wird ganz häufig dazu führen, dass die unveränderlichen Zustände in Bewegung kommen. Aber auch wir selber verändern uns und werden herausgeholt aus der Zuschauerhaltung des Bewertens und Kommentierens und werden verantwortlich. Und manchmal ist das auch ein wichtiger Schritt zur Lösung des Problems.

Ich möchte an dieser Stelle auch etwas zu den Morden von Erfurt sagen. Warum tut einer so etwas? fragen die Menschen. Da der Täter offensichtlich nichts hinterlassen hat, um die Tat zu erläutern, keinen Abschiedsbrief oder ähnliches, müssen wir versuchen, die Tat selbst sprechen zu lassen. Was ist da passiert? Ein junger Mann, der in der Schule immer wieder versagt hat und dann betrogen hat, um das zu vertuschen, der kommt an diesen Platz, an diese Schule zurück und tötet gezielt die Verantwortlichen in dieser Schule, nämlich die Lehrer. Was heißt das?

Es gibt andere Menschen, die töten sich selbst als Reaktion auf erlebtes Versagen. Sie sagen damit: nach so etwas bin ich nicht wert, weiterzuleben. Hier sagt das einer zu anderen: ihr seid nicht wert, weiterzuleben. Ihr seid die Verantwortlichen für das Desaster, was ich erlebt habe. Ob er das als Rache gemeint hat oder ob er geglaubt hat, nun würde er für die verdiente Strafe sorgen, dass weiß ich nicht. Aber der Unterschied dazwischen ist nicht groß. In jedem Fall scheint mir hinter dieser Tat der Grundansatz zu stehen: Verantwortlich sind die anderen. Die hätten dafür sorgen müssen, dass mein Lebensweg sich besser gestaltet.

Wenn man es so sieht, dann sind die Morde von Erfurt nicht die Tat eines kranken Einzelnen, sondern dann hat sich einfach in einem Menschen eine Grundhaltung ausgedrückt, die in unserem Land inzwischen gar nicht selten ist. Normalerweise führt sie vor allem zu Selbstmitleid, aber der Schritt dahin, auch zu sagen: die müssen bestraft werden, weil sie mir nicht geholfen haben, der ist dann nicht mehr so weit. Auch im Alltag laufen ja Menschen mit mürrischen Gesicht herum, um die anderen spüren zu lassen, dass sie sich schlecht behandelt fühlen. Und dann greift eben auch das Gewaltklima, das ja tatsächlich in vielen Medien herrscht, und beeinflusst einen Menschen, der labiler oder eitler oder verschlossener ist als andere oder irgendwie anders besonders gefährdet, und dann reift der Entschluss zu so einer Tat, die vielleicht nicht in ihren Wurzeln einmalig ist, aber zum Glück in ihren Früchten.

Wenn das ungefähr stimmt, dann kamen die Schüsse dort aus der Mitte der Gesellschaft und nicht von einer merkwürdigen Randexistenz. Denn diese Überzeugung: die anderen sind verantwortlich, alle anderen, aber nicht ich, ich bin gar nicht in der Lage, etwas zu erreichen, diese Überzeugung ist nicht nur bequem, sie gehört auch zu den verbreitetsten Überzeugungen in der Gesellschaft, und sie richtet auch im normalen Alltag jede Menge Unheil an. Und man kann sagen: die Haltung, die man einübt, wenn man betet, die ist genau entgegengesetzt diesem Denken, wo man sich selbst als ohnmächtiges Opfer versteht und alle Schuld bei den andern sucht, wenn etwas schief läuft.

Wer betet, der ist verbunden mit dem Geheimnis des Menschen, dass wir nicht Produkte unserer Umwelt sind, sondern dass wir verwurzelt sind in der geistlichen Wirklichkeit Gottes. Deshalb haben wir Spielraum, Freiheit, deshalb haben wir die Fähigkeit, stärker zu sein als die Umstände. Wir sind kein Strandgut, dass von jedem Wind hin und hergetrieben wird, sondern wir sind die von Gott eingesetzten Könige dieser Welt. Das gilt für alle Menschen, aber weil Adam und Eva diese Würde stark beschädigt haben, deshalb müssen Menschen jetzt dieses Amt ohne die Nähe zu Gott führen. Deswegen haben die Könige und Herrscher der Erde es so nötig, dass wir für sie beten. Wir sind ja durch Jesus wieder zurückgelangt in die Nähe Gottes. Wer in der Nähe Gottes lebt, der wird wieder ermächtigt, in seinem Bereich königliche Funktionen auszuüben.

Aber die Gefahr, der wir täglich erliegen, die besteht darin, dass wir das vergessen. Dass wir in unseren täglichen Dingen immer wieder zurückfallen hinter diese Würde und Vollmacht, die wir haben. Deswegen ist das so eine geniale Idee von der Putzfrau Marlene, dass sie die Fürbitte ganz organisch in den Alltag integriert, in Vasen, Steckdosen und dreckige Fensterscheiben. Niemand soll sich verpflichtet fühlen, das ebenso zu machen, aber dass wir Punkte brauchen, die uns immer wieder an unsere geistliche Rolle erinnern, das halte ich für unabweisbar.

Denn Sie kennen vielleicht diesen Spruch: viele Gebetserhörungen können Zufall sein, aber es passieren einfach mehr Zufälle, wenn Menschen beten. Wir wissen, dass unsere Bitten nicht immer eins zu eins erhört werden, und schon gar nicht immer sofort, aber das kann man doch sagen: es gibt wenige Gebete, die ganz reaktionslos bleiben, völlig in den Wind gesprochen auch noch nach Jahren. Wo wir unsere Aufgabe annehmen und ausüben, da bestätigt Gott sie auch durch die äußeren Umstände.