Raubbau hautnah

Predigt am 24. Oktober 2004 zu 1. Thessalonicher 4,1-8

Im Übrigen, Brüder, wir bitten euch und ermutigen euch im Herrn Jesus: Ihr habt von uns gehört, wie ihr leben müsst, um Gott zu gefallen – und ihr tut es ja auch. Lasst das noch mehr zum Zuge kommen! Ihr wisst ja, welche Regeln wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus.
Das ist es, was Gott will: eure Heiligung. Das bedeutet, dass ihr die Finger von allen Arten kaputter Sexualität lasst; dass jeder von euch lernt, mit seiner Frau in heiliger und achtungsvoller Weise umzugehen, nicht in rücksichtsloser Gier wie die Heiden, die Gott nicht kennen; dass keiner die Grenze überschreitet und in dieser Sache (möglich ist auch: in Geschäften oder Rechtsstreitigkeiten) seinen Bruder betrügt; denn all das rächt der Herr, wie wir es euch auch schon gesagt und beteuert haben. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. Wer das zur Seite schiebt, schiebt nicht Menschen zur Seite, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt.

Nun sind wir also genau bei dem Thema, von dem einige den Eindruck haben, das ist das Leib- und Magenthema der Kirche, und manche finden das gut und meinen: ja genau, da müsste noch viel mehr Klartext geredet werden, und andere können es nicht mehr hören. Das Verrückte dabei ist, dass das im Originaltext gar nicht so klar ist, wie in der Übersetzung, und einige Ausleger bestreiten mit gar nicht so schlechten Gründen, dass es hier um Fragen der Sexualität gehe.

Trotzdem, ich habe es dabei gelassen. Als ich über den Text nachdachte, fiel mir ein Ehepaar ein, das ich einmal besucht habe. Sie waren beide in dem Alter, wo man dann schon mal Besuch vom Pastor bekommt. Nebenbei, ich warte immer darauf, dass ich mal mit den Worten empfangen werde: »jetzt kommt er Pastor schon zum Geburtstag – so schlecht geht’s uns aber noch gar nicht«. Bis jetzt haben das die Leute aber taktvoller Weise immer nur gedacht.

Ich war da also auf einem dieser Besuche, und die beiden hatten es nicht leicht gehabt im Leben, das war schnell klar. Und irgendwann ergab es sich, dass ich eine Zeit lang mit dem Mann allein war, und ganz unvermittelt und unbeholfen und auch nur andeutungsweise fing er an, mir von seiner sexuellen Sehnsucht zu erzählen, und man merkte, wie sehr er darunter litt, dass die von seiner Frau nicht erwidert wurde, ja, vielleicht hatte er sich darin noch nie angenommen gefühlt. Und es war anrührend und traurig zugleich, wie er sich da auf ein Feld begab, auf dem er sich nicht wohl fühlte, aber man spürte den großen Schmerz, der ihn auch in seinem Alter noch nicht zur Ruhe kommen ließ.

Aber was sagen Sie, wenn Ihnen das ein alter Mann erzählt, wo es eigentlich keine Hoffnung mehr gibt, dass sich da noch irgend etwas ändert? Vielleicht hat er gedacht, ich könnte mit der Autorität des Pastors da etwas bewegen, aber ich weiß am besten: egal, ob das früher vielleicht mal funktioniert hat (vielleicht hat das auch noch nie funktioniert), heute läuft das auf jeden Fall nicht mehr so. Es war einfach traurig, und ich habe nicht gewusst, wie ich ihm hätte helfen können. In Wahrheit bin ich dann im Grunde vor diesem Thema geflohen, weil ich nicht wusste, wie dieser Knoten aus Schmerz und natürlich auch Unbeweglichkeit nach so vielen Jahren aufzulösen gewesen wäre.

Dieser ganzen Bereich der Sexualität ist so nah dran am Zentrum des Menschen, er trägt so stark zum Glück oder zum Unglück von Menschen bei, es zeigt sich da so stark, wer ein Mensch eigentlich ist, und vor allem entfaltet sich in diesem Bereich eine ganz enorme Energie. Nur Geld setzt noch ähnlich starke Energie frei. Deswegen spricht die Bibel auch von »erkennen«, wenn es zum Geschlechtsverkehr zwischen einem Mann und einer Frau kommt. Da teilen sich eben zwei Menschen auf einer ganz tiefen Ebene ganz viel übereinander mit. Vielleicht haben sie nicht die Fähigkeit, einander zu verstehen, aber sie enthüllen sich da gegenseitig, sie lassen einen anderen so nahe an sich heran wie sonst nirgends. Und man kann daran verstehen, dass es zum größten Glück von Menschen gehört, wenn sie sich vor einander öffnen können, wenn sie sich gegenseitig erkennen und sich selbst erkannt und angenommen fühlen. Gott hat uns so geschaffen, dass wir nicht allein unsere Sternstunden haben, sondern in der Beziehung zu anderen Menschen und natürlich zu ihm.

Weil dieser ganze Bereich aber so eng mit unserem Personkern verbunden ist, deswegen ist auch die Verletzungsgefahr so hoch. Wenn Menschen ihre Schutzschilde hochklappen und einen anderen Menschen ganz nah an sich heranlassen, dann gehen sie damit immer ein Risiko ein, weil dieses Vertrauen natürlich missbraucht werden kann. Es ist ein Risiko, sich zu öffnen, aber wer dieses Risiko vermeidet, ist meistens auch nicht froh damit.

Deswegen ist es auch keine Lösung, einfach einen hohen Zaun mit Verboten zu ziehen und zu sagen: lasst doch die Finger davon, dann habt ihr keine Probleme. Da ist einfach so viel Energie, die kann man nicht einsperren oder ignorieren, sie muss einem richtigen und guten Zweck dienen, sonst wird irgend etwas Schlechtes daraus. Im Gegenteil: Erst dann, wenn Sexualität zu etwas Gutem dient, dann werden die ausbeuterischen Formen von Sexualität unattraktiv. Die haben nur da Chancen, wo das Verhältnis von Männern und Frauen schon gestört ist und Menschen das nicht schön und erfüllend erleben.

Alle Vorschriften, Verbote, Gebote usw. sind nicht dazu da, dass Leute sagen: jetzt haben wir endlich ein Mittel, um unsere Mitmenschen auch in ihrem innersten Bereich zu kontrollieren, da, wo es ihnen am nächsten geht, da können wir jetzt endlich auch mitreden. Sondern all diese Regeln der Bibel sollen Raum dafür freihalten, dass Sexualität ihre gute und segensreiche Kraft auch wirklich entfalten kann.

Das ist das Gelände, in dem Paulus sich bewegt, wenn er den Christen von Thessalonich schreibt. Es geht ihm um »Heiligung« – auch das ist ein Wort, das viele Missverständnisse möglich macht. »Heiligung« bedeutet, dass die äußere Gestalt des Lebens zu der Gegenwart des Heiligen Geistes in einem Menschen passt. Wenn ein Mensch sich für Gott öffnet, dann fasst in ihm der Heilige Geist Fuß, zu ihm kommt etwas von der Liebe Gottes, und wenn es gut geht, dann nimmt er es auch wahr, und es ist eine Quelle und Gegenwart von Freude und Kraft. Ganz ähnlich, wie wenn uns in manchen Zeiten Sorgen begleiten: wir nehmen sie nicht immer bewusst wahr, aber sie sind da und bedrücken uns und machen unser Leben dunkler. Und oft genug denken wir auch an sie.

Genau entgegengesetzt ist die Funktion des Heiligen Geistes: er bringt Leichtigkeit und Zuversicht ins Leben, und wenn es gut geht, dann spüren wir das auch und verstehen, woher es kommt. Je besser dafür die Wege gebahnt sind, umso leichter erleben wir es. Das ist das »süße Gefühl«, von dem die Mystiker reden, aber es gibt eigentlich kaum einen Menschen, der nicht irgendwann einmal unvermutet davon überrascht worden ist. Aber oft verstehen Menschen nicht, was das ist, und auch wenn sie es verstehen, dann heißt das nicht, dass sie in Zukunft selbst danach streben und es suchen.

Und dieses Erleben des Heiligen Geistes ist gar nicht so weit entfernt von dem, was Menschen in ihrer Sexualität erleben. Es würde mich nicht wundern, wenn die Gehirnerforscher irgendwann herausfinden, dass in unserem Kopf die zuständigen Nervenbereiche ganz eng beieinander liegen. Das bedeutet aber auch, dass alle Verletzungen und alle Fehlentwicklungen im Bereich der Sexualität ganz schnell auch auf das Verhältnis zu Gott durchschlagen.

»Heiligung« bedeutet also, dass die äußere Gestalt des Lebens diese Gegenwart des Heiligen Geistes in einem Menschen nicht kaputtmachen soll, sondern im Gegenteil, der Heilige Geist soll durch unsere äußere Lebenspraxis gefördert und bestätigt werden. Es ist ja so, dass auf die Dauer innerlich nur das stark bleibt, was wir auch in der Außenwelt umsetzen.

Weil nun die Sexualität (und das Geld) in unserm Herzen ähnlich zentral sind wie Gottes Zugang zu uns, deswegen beschädigt jede Form von kaputter Sexualität so stark das Verhältnis zu Gott. Ich habe mit diesem Ausdruck »kaputte Sexualität« versucht wiederzugeben, was Paulus meint, wenn er von Porneia spricht. Sie hören, da steckt Porno drin, aber es hat damals noch nicht die Spezialbedeutung von Filmen oder Bildern, sondern bezieht sich auf diesen ganzen Rotlichtbereich, wo für Sexualität bezahlt wird oder wo sie jedenfalls nicht eingebettet ist in eine ganzheitliche Lebensbeziehung.

Und alle Formen von kaputter Sexualität bestehen im Kern darin, dass in diese Zone der innersten Vertrautheit zwischen zwei Menschen Macht und Gewalt eindringen. Dass sich dann nicht mehr zwei Menschen füreinander öffnen im Vertrauen auf einander, sondern da dringt jemand gewaltsam ein. Dass dann nicht mehr zwei Menschen einander erkennen, sondern es wird einer gewaltsam enthüllt. Aber was er eigentlich auch noch auf diese entstellte Weise gesucht hat, nämlich das Innerste und das Herz des andern Menschen, das findet er so nicht, sondern er kann es höchstens zerstören.

Es gibt ja diese ausbeuterischen Formen der Sexualität, wo einer sich die Lebenskraft von anderen, schwächeren aneignet, und er hat wieder für eine Zeitlang Kraft und die anderen bleiben ausgesaugt zurück. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, woher Menschen Kraft und Energie bekommen: entweder durch Begegnung oder durch Raub. Wenn Menschen sich freiwillig in Gemeinschaft zusammenfinden, dann entsteht neue Energie für alle. Das ist das Prinzip, auf dem Gott diese Welt errichtet hat: das durch Austausch und Schenken mehr entsteht, als vorher jeder allein gehabt hat. Der Raub dagegen ist das Prinzip des Bösen: dadurch hat einer mehr, aber alle zusammen haben weniger. Aber über aller Kraft, die einer sich durch Raub angeeignet hat, liegt ein Fluch. Daraus wird nichts Gutes.

Paulus spricht von der rücksichtslosen Gier, die Menschen entwickeln, die Gott nicht kennen. Gier bedeutet, dass Menschen raffen und zugreifen und festhalten, was sie kriegen können. Dieses Prinzip zerstört Menschenherzen, es führt zu extremer Armut und extremem Reichtum, es treibt Raubbau mit den Reserven dieses Planeten und es hinterlässt nachfolgenden Generationen Dreck und Gift. Wer nicht versteht, dass Gott die Welt nach einem anderen Prinzip geschaffen hat, der wird seine Umwelt und auch die Menschen, denen er begegnet, immer als Beute ansehen und behandeln.

Aber der Heilige Geist Gottes kann nicht in friedlicher Koexistenz mit diesem Raubprinzip in einem Menschen wohnen. Gott kann ihn nur zurückziehen, wenn wir so ausbeuterisch leben. Dass Paulus möglicherweise hier parallel von ausbeuterischer Sexualität und materieller Bereicherung gesprochen hat, zeigt, dass das Prinzip der hinter das Gleiche ist. An anderen Stellen parallelisiert er das ganz deutlich.

Wir haben gerade in letzter Zeit mehr davon verstanden, was mit solch einem ausbeuterischen Verhalten bei Menschen angerichtet wird, wieviel missbrauchte Menschen es gibt, und wieviel regelrecht gemordete Menschenseelen besonders dadurch entstehen, dass Kinder, die sich nicht wehren können, ausgenutzt werden.

Und gegenüber der Zeit von Paulus ist ja bei uns heute neu, dass es jetzt auch die Möglichkeit von Bildern und Filmen und Internet gibt, also das, was uns heute zuerst bei Porno einfällt. Das ist Gewalt, die nicht so sehr einer bestimmten Person angetan wird, sondern die sich einschleicht in das Verhältnis von Männern und Frauen überhaupt. Da wird die Sicht verzerrt, und immer mehr Menschen verstehen gar nicht mehr, dass Sexualität anders funktionieren könnte als nach dem Raubprinzip.

Wir leben heute in einem stark sexualisierten Klima, das natürlich von den Medien her in die Gesellschaft hineingetragen wird. Manchen Kindern merkt man es aber auch an, dass sie zu Hause in so einem sexualisierten Klima großgeworden sind, mit entsprechenden Assoziationen und Worten, die sie von sich aus nicht entwickeln würden, sondern sie müssen diesem Klima doch schon intensiv ausgesetzt gewesen sein, bis sie das so in ihr Weltbild eindringt.

Dagegen setzt Paulus Heiligung. Unser Leben soll eine Gestalt gewinnen, die nicht mehr zerstörerisch und kaputt ist, auch nicht in Spurenelementen. Es bedeutet, 1. dass wir uns Gott öffnen, damit er unser Leben heilen kann und 2. dass wir auf ihn hören, damit wir uns nicht selbst von neuem unglücklich machen. Dann ist Gemeinschaft von Männern und Frauen möglich, die Freude und Leidenschaft und Lebenskraft schenkt.