Die Mutter (Eltern und Kinder 2)

Predigt am 20. August 2000 mit Psalm 1. Thessalonicher 2,7-8 und Psalm 131,2

Im ersten Thessalonicherbrief schreibt Paulus im Rückblick auf seinen früheren Aufenthalt dort:

7 Ich war sanft und freundlich zu euch, wie eine stillende Mutter zu ihren Kindern. 8 Ich hatte eine solche Zuneigung zu euch, dass ich bereit war, nicht nur Gottes Gute Nachricht mit euch zu teilen, sondern auch mein eigenes Leben. So lieb hatte ich euch gewonnen.

Da hat er so ganz nebenbei wichtiges gesagt über die Beziehung zwischen Mutter und Baby.

Wenn ein Kind geboren wird, ist es hilflos. Es kann sich noch nicht einmal fortbewegen oder auch nur von einer Seite auf die andere drehen, es kann nichts tun gegen Hunger und Kälte, es ist völlig abhängig von dem, was andere tun, es ist eine einzige Aufforderung an seine Umwelt: kümmere dich um mich. Und das einzige, was es tun kann, ist: dieser Aufforderung mit Schreien Nachdruck verleihen – davon haben wir letzten Sonntag gehört.

Wenn man daran denkt, wie ein Baby die Welt erlebt: das muss ja ein Chaos von allen möglichen Eindrücken sein, und dem Kind fehlt noch jede Möglichkeit, sie zu ordnen. Ein Neugeborenes wird ja überflutet von unverständlichen Sinneseindrücken. Hören und Fühlen, das kennt es ja schon, aber außerhalb des Mutterleibes ist es doch ganz anders. Riechen kommt dazu. Sehen ist ganz neu. Bis Babies die Welt richtig sehen und wahrnehmen können, dauert es Jahre. Und am Anfang dieses Lernprozesses steht die erste Bezugsperson, das Gegenüber, mit dem sie kommunizieren, in der Regel die Mutter.

Natürlich können auch Pflegerinnen oder Männer diese Funktion haben, und das ist ja manchmal auch so, aber meistens ist tatsächlich die Mutter die erste Bezugsperson. Wenn ich also heute von der Mutter spreche, dann meine ich die Person, die diese Funktion beim Kind erfüllt, egal, wer es ist.

Die Mutter bedeutet Nahrung und Wärme, sie bedeutet Zuwendung und Schutz. Ihre Stimme kennt das Baby schon, so lange es hören kann. In dem Chaos von unverstandenen Wahrnehmungen nach der Geburt kristallisiert sich für das Kind sozusagen ein Knotenpunkt heraus, ein Zusammenhang von Tönen, Gefühl, Geschmack, Geruch, von Erfahrungen, und langsam kommt auch ein Gesicht dazu, ein optischer Eindruck. Wenn sich das Tag für Tag wiederholt, dann ergibt das ein Muster, das das Baby wiedererkennt. Mitten im Chaos entsteht ein vertrauenswürdiger Bezugspunkt, und es ist ein sehr positiver Bezugspunkt: er hat was damit zu tun, dass Schmerzen weniger werden, er ist mit dem Gefühl der Sättigung verbunden, mit Wärme und Vertrautem, dieser Bezugspunkt erinnert auch am stärksten an das, was das Kind vor der Geburt erlebt hat. Im 131 Psalm wird das so beschrieben (Ps 131,2):

Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.

Das sagt etwas über den Zusammenhang von Innen und außen. Diese immer wiederkehrende äußere Struktur sorgt dafür, dass auch im Innern des kleinen Menschen nach und nach eine Ordnung entsteht. Stück für Stück entsteht in dem ursprünglichen Chaos der Eindrücke sozusagen festes Land. Und auch ein Erwachsener hat später noch Zugang zu diesem Grundgefühl.

So sorgt die Mutter elementar dafür, dass das Kind sich in der Welt zurechtfindet. Bald schaut das Baby nicht mehr verwirrt in die Welt, sondern es kann Dinge angucken, und es wird angeguckt guckt zurück. Es reagiert auf diesen Bezugspunkt in der Welt, und es erlebt, wie dieser Bezugspunkt Mutter auf das Baby reagiert. Und so wächst in diesem Hin und Her im Gegenüber zur Mutter die Person des Kindes. Schon bald merkt man: da ist ja jemand! Da schält sich jemand heraus aus der Fülle der Eindrücke und Reaktionen, und diese Person versteht von Tag zu Tag mehr.

So wie in der Schöpfungsgeschichte davon erzählt wird, dass Gott im ursprünglichen Tohuwabohu als erstes Strukturen schuf, Tag und Nacht, Land und Meer. So bekommt nun für das Baby seine Umwelt Struktur, erst grob, dann immer genauer. Sie kennen das vielleicht: zuerst ist für ein Baby jedes Gesicht wie das andere, aber dann merkt es, dass einige Gesichter einen Bart haben. Schließlich kann es Gesichter auch an anderen Merkmalen unterscheiden, und das Ergebnis? Es schreit, wenn es vom falschen Gesicht angeguckt wird.

Denn noch ganz lange braucht es das Kind, dass die Reize eindeutig sind, dass die äußeren Strukturen verlässlich sind, dass sich ein Ablauf wie das Schlafengehen mit allem, was dazugehört, immer wiederholt. Vielleicht kennen sie das, dass man einem Kind ein Bilderbuch immer wieder vorlesen muss, und wehe, man verändert ein Wort. Warum muss man überhaupt den Kindern ein Bilderbuch immer wieder vorlesen, wenn sie es sowieso auswendig können? Gerade deswegen, damit sie merken: es steht immer noch das gleiche drin, die Welt ist wirklich so, wie ich sie kenne.

Der Geist und die Seele des Kindes sind ja noch lange zu schwach, um selbst Ordnung in der Umwelt zu schaffen. Die brauchen diese ganzen äußeren Stützen, und sie geraten in Panik, wenn sich überraschen und unerklärlich etwas verändert. Auch als Erwachsene brauchen wir das, mehr als wir denken. Wir bleiben ein Leben lang darauf angewiesen, dass es eine verlässliche äußere Ordnung gibt, und wenn die aus irgendeinem Grund zusammenbricht – durch eine Katastrophe, durch Krieg oder auch nur durch einen Umzug, dann fühlen sich auch Erwachsene je nachdem bedroht oder wenigstens verunsichert.

Wir Erwachsenen können die meisten Schwierigkeiten und unvorhergesehene Ereignisse meistern, weil in uns ein Grundvertrauen gewachsen ist, dass man in dieser Welt leben kann und dass es eine vertrauenswürdige Welt ist. In Kindern wächst dieses Grundvertrauen erst Stück für Stück, durch immer neue Erfahrungen von Verlässlichkeit. Das Grundgefühl, mit dem man in den ersten Wochen, Monaten und Jahren aufwächst, das entwickelt sich natürlich weiter, es drückt sich später in Worten aus und kann durchaus verändert werden – aber es ist doch die entscheidende Basis für die Lebenssicht, für das ganze Lebensgefühl, mit dem man an die Welt herangeht.

Wer in dieser frühen Zeit immer wieder Unbeständigkeit erfahren muss, wer immer wieder die Erfahrung macht, dass das Gegenüber unzuverlässig ist, oder wer kaum ein Gegenüber hat, wessen Gegenüber sich entzieht oder ablehnend ist, der wird das entweder nicht überleben, oder er wird in seiner Entwicklung mindestens schwer geschädigt werden.

Aber wenn es gut geht – und wenn man bedenkt, wie gefährdet diese ganzen Entwicklungen sind, dann muss man sagen: es geht erstaunlich oft gut, das ist doch auch ein sehr strapazierfähiger Zusammenhang – also, wenn es gut geht, dann lernt ein Mensch in dieser frühen Phase seines Lebens: es ist richtig, der Welt zu vertrauen. Man kann hier leben. Hier wartet nicht gleich an jeder Ecke eine Katastrophe. Es gibt Hilfe bei Problemen. Es gibt andere Menschen, die mich mögen. Es gibt immer wieder schöne Momente. Es ist gut hier.

Das lernt ein Kind zuerst von der Mutter. Aber wer von uns könnte seinem Kind auf eigene Rechnung garantieren, dass die Welt wirklich vertrauenswürdig ist? Wer könnte auch nur garantieren, dass er selbst vertrauenswürdig ist? Sondern, wer dem Kind mit seinem ganzen Verhalten signalisiert, dass die Welt vertrauenswürdig ist, der tut das in Stellvertretung für Gott. Er schafft Grunderfahrungen, die es dem Kind leichter machen, sich auf die Welt und die Menschen einzulassen und an Gott zu glauben. Gott ist schließlich derjenige, der die Welt eingerichtet hat. In seinem Namen und in seinem Auftrag heißen wir ein Neugeborenes in dieser Welt willkommen. Die Eltern werden ihm helfen, die ersten Erfahrungen mit bestätigtem Vertrauen zu machen, aber wir können nicht die Bürgschaft dafür übernehmen, dass die Welt wirklich vertrauenswürdig ist. Es gibt im Lauf des Lebens viel zu viele Erfahrungen von sinnlosem Unglück und von Enttäuschung. Das können auch Eltern ihren Kindern nicht ersparen. Das müssen Kinder und Erwachsene selbst mit Gott besprechen. Und deshalb ist es wichtig, dass Kinder anfangen, Gott kennenzulernen und ein eigenes Verhältnis zu ihm zu entwickeln.

Die Mutter schafft die entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass das Kind vertrauen kann. Aber es muss dann lernen, dass man sein tiefstes Vertrauen nicht auf Menschen setzen soll, sondern auf Gott. Dass Gott uns gewollt hat und uns ins Leben gerufen hat, dass er uns so sehr liebt, dass er seinen Sohn in die Welt schickt, dass Jesus unser Leben teilt und doch auf seine eigene unverwechselbar Art gelebt hat, dass auch der Tod ihn nicht auslöschen konnte, dass die Kraft Gottes in der Welt ist und Menschen befreit – dass ist der eigentliche Grund dafür, weshalb die Welt vertrauenswürdig ist.

Auch das lernen Kinder erst Stück für Stück – zum Beispiel wenn Eltern abends mit ihnen beten und sie damit Tag für Tag auf diesen wirklichen Grund des Vertrauens hinweisen. Da lernen Kinder, dass Gott nicht ein unberechenbarer Zauberer ist, sondern jemand, zu dem man eine Beziehung aufbaut. Und es hilft den Kindern, ganz vorsichtig ihre eigenen Wege zu gehen und nicht mehr nur auf die Eltern angewiesen zu sein.

Denn die Kinder müssen ja eines Tages diese ganz enge Bindung an die Mutter hinter sich lassen. Am Anfang konzentriert sich alles Gute und Vertrauenswürdige für ein Baby in der Person der Mutter. Um diese Person kreisen seine Gedanken, von dieser Person erwartet das Baby alles. Aber Stück für Stück erweitert sich die Welt und das Kind muss lernen, diese ganz enge Bindung hinter sich zu lassen, um ein eigener Mensch zu werden. Diese Ablösung von der Mutter, die ja für das Kind mal alles bedeutet hat, ist nicht einfach und mit vielen Ängsten verbunden, und zwar auf beiden Seiten!. Aber wenn es ein eigener Mensch werden will, muss das Kind diesen Schritt tun.

Und er ist leichter, wenn deutlich ist, dass die Mutter in Vertretung für Gott das Kind auf der Welt begrüßt hat. Dann darf sie auch Fehler haben und sie muss nicht allmächtig sein. Sie muss nicht selbst Göttin sein, sie kann Mensch sein mit den Grenzen und Fehlern, die Menschen eben haben. Von einer Göttin kann man kaum trennen, eine menschliche Mutter kann man verlassen, wenn es soweit ist, und sie trotzdem noch lieben.

Das ist ja für alle Beteiligten eine schwere Zeit, wenn Kinder entdecken, dass die Eltern ihre Grenzen haben. Wenn sie selbständig werden und ihre eigene Kraft entdecken und trotzdem immer noch ganz stark auf die Eltern angewiesen sind. Bis da das richtige Maß an Nähe und Abstand gefunden ist, gibt es viele schmerzliche Erfahrung und Enttäuschungen. Wenn Kinder dann schon Gott kennen, dann wird die Ablösung leichter. Dann können sie all die guten Erfahrung behalten und an Gott festmachen. Dann müssen Enttäuschungen mit den Eltern nicht gleich das Vertrauen in die Welt in Frage stellen.

Dann können Menschen die Mutter entdecken als das, was sie wirklich ist: diejenige, die einen Menschen auf dieser Welt begrüßt, die dafür sorgt, dass das Kind sich hier zurechtfinden kann, an deren Hand ein Kind die ersten Schritte geht, und die in dem allen, wenn es gut geht, dem Kind hilft, Gott, den Grund des Vertrauens zu entdecken.