Die dunklen Jahre und die Mission der Iren

Predigt am 9. Januar 2005 mit 1. Samuel 14,6 (Wie die Deutschen Christen wurden I)

Die Gestalt, in der wir das Christentum kennengelernt haben, ist entscheidend durch die Geschichte der Christianisierung Europas geformt worden. Selbst in Deutschland sind bis heute Unterschiede spürbar, die aus dieser weit zurückliegenden Zeit stammen. Vor allem aber ist die Zeit der Christianisierung eine Epoche, in der man gut beobachten kann, was das Evangelium vorantreibt und wodurch es behindert oder gebremst wird. Ich habe deshalb 2005 dazu eine Reihe von 3 Gottesdiensten gehalten:

Es ist dem Herrn nicht schwer, durch viel oder wenig zu helfen.

Imperium RomanumEs waren dunkle Zeiten damals vor und nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches. Dieses Reich war eine harte und grausame Macht gewesen, die aus den Unterworfenen mit Gewalt und ohne Rücksicht herauspresste, was sie brauchte. Aber im Laufe der Jahrhunderte war sie milder geworden, und dazu hatte die Christianisierung nicht wenig beigetragen. Die römische Zivilisation und das römische Recht hatten zusammen mit der christlichen Liebe das römischen Reich zu einer Zone gemacht, in der man besser leben konnte als in den umliegenden Teilen der Welt. Es gab eine ausgezeichnete Infrastruktur, es gab Kultur und Wissenschaft, es gab Medizin und Technik. Die römischen Straßen durchzogen das gesamte Reich – sie waren so stabil, dass man sie viele Jahrhunderte später immer noch benutzte, wenn man Fernreisen unternehmen wollte, auch wenn sie da doch schon ziemlich abgenutzt waren.

Kurz vor dem Ende des weströmischen Reiches hatte es einen kurzen Augenblick gegeben, in dem Gallien, der südliche Teil Englands und der römische Teil Germaniens christlich waren. In Gallien hat großen Anteil daran Martin von Tours – das ist der, der dem Bettler seinen halben Mantel abgab und dessen Tag der 11. November ist.

Deutschlands Kernbereich hatte nie zum römischen Imperium gehört – das hatten die Germanen zu verhindern gewusst, die im Jahre 9 n. Chr. unter Führung des Arminius in der Nähe von Osnabrück drei römische Legionen vernichteten, etwa 25.000 Mann. Die Römer haben sich danach nicht mehr dauerhaft nach Germanien getraut, sondern haben zwischen Rhein und Donau einen Grenzwall gebaut, den Limes, den man heute noch besichtigen kann.

Deswegen haben die deutschen Gebiete westlich des Rheins eine andere Geschichte als die Mitte Deutschlands. Die Gegend um Köln und Trier beispielsweise ist altes römisches Gebiet, das schon früh christlich geworden ist und es dann ununterbrochen geblieben ist. Auch im Alpen- und Voralpenraum hat es immer mindestens Reste der urprünglich römisch-christlichen Bevölkerung gegeben. Die Mitte, der Norden und der Osten Deutschlands wurden dagegen erst sehr viel später christlich, im Norden und im Osten sogar oft nur durch militärisch-politische Machtentfaltung.

Ab 375 drängten die germanischen Völker mit Macht in die Gebiete des Römischen Reiches. Sie standen ihrerseits unter dem Druck der Hunnen. Ein Beispiel für die teilweise erstaunlichen Wege dieser Stämme, die kreuz und quer durch die Welt führten: 406 fror der Rhein zu, die Vandalen überschritten ihn und überfluteten Gallien. Über die Pyrenäen erreichten sie Spanien, 429 zogen sie weiter nach Afrika. Überall hausten sie wirklich »wie die Vandalen«.

Nachdem die Abwehr an den Grenzen zusammengebrochen war, bewegten sich barbarische Völker ungehindert im Reichsgebiet. Der Zusammenbruch der römischen Verwaltung ging rasch vor sich. Oft war die einzige Organisation, die noch funktionierte, die Kirche mit ihren Gemeinden und Bischöfen, und ihre Aufgabe war es, nun das Zusammenleben von Einheimischen und barbarischen Eroberern auszuhandeln. Trotzdem waren das Zeiten, in denen das Christentum in manchen Gegenden wieder ausgelöscht wurde. An anderen Orten blieb eine christliche Bevölkerung zurück, die aber ohne Kontakt zur Zentrale in Rom war und auch von neuem heidnische Elemente in ihren Glauben aufnahm. Im Ganzen gab es ein großes Durcheinander, viele verschiedene Arten zu leben und zu glauben existierten nebeneinander und oft auch in den merkwürdigsten Mischungen.

Zu allem Überfluss griffen 451 die Hunnen unter Attila Europa an, kamen bis Frankreich, konnten jedoch durch ein Bündnis von Römern und Germanen gerade eben noch abgewehrt werden.

In diesen Jahren voll Kriegslärm, voll Plünderung, Tod und Not haben Bischöfe und Priester, Heilige und Mönche zäh und geduldig das Christentum festgehalten und, wo es möglich war, unter den Menschen verbreitet. Mit ihm wurden das Wissen um die Errungenschaften der römischen Zivilisation und die Literatur der Antike in den Klöstern durch diese dunklen Zeiten gerettet.

Ganz besonders ein Land am Rande Europas hat sich dabei hervorgetan, nämlich Irland. Die irischen Klöster am Rande Europas bewahrten die Gelehrsamkeit der antiken Wissenschaft, Irland brachte aber auch Missionare hervor, Mönche, die in kleinen Gruppen Europa durchzogen und den Menschen von neuem das Evangelium verkündeten, das sie beinahe schon wieder vergessen hatten.

Die Geschichte Irlands in diesen Jahren wäre auch wert, erzählt zu werden: wie der irische Nationalheilige Patrick als Junge aus seiner Heimat in England geraubt wird und jahrelang als Sklave bei den Iren Schafe hütet. In der Kälte, dem Hunger und der Einsamkeit begegnete ihm Gott, und der Glaube des zivilisierten britisch-römischen Traditionschristen Patricius wurde plötzlich lebendig. Auf ein sehr konkretes Reden Gottes hin verlässt er unter Lebensgefahr seine Herde, kann fliehen, aber empfängt schließlich einen Ruf, in das Land seiner Gefangenschaft zurückzukehren und ihm das Evangelium zu bringen. Als Patrick 461 stirbt, war Irland nicht nur oberflächlich christlich geworden. Er hatte die Abschaffung von Menschenopfern und Sklavenhandel erreicht und in der Kraft Gottes gewalttätige Barbaren zu sanftmütigen Nachfolgern Christi gemacht. Und das gehört auch zur direkten Vorgeschichte der Christianisierung Deutschlands.

Denn der irische Mönch Columban war es, der 589 mit 12 Gefährten aus dem Kloster Bangor in Irland aufbrach, um unter den Heiden des wilden, verwüsteten Europa das Evangelium zu verkünden. Damals war er schon etwa 50 Jahre alt. In der Normandie gingen sie an Land und zogen weiter nach Burgund, wo sie König Guntram willkommen hieß und ihnen einen Platz gab, wo sie ein Kloster bauen konnten.

In Europa hatten sich nach den langen Jahren der Ungewissheit nun wieder etwas stabilere Verhältnisse herausgebildet. In Italien herrschten die Langobarden, in Spanien die Westgoten. Im Gebiet des heutigen Frankreich und in Süddeutschland hatte sich ein neues Machtzentrum herausgebildet, das Reich der Franken. Dieses Reich war noch einmal unterteilt in Austrasien und Neustrien; zeitweise war auch Burgund in der Mitte ein selbständiges Reich. Der Reichsgründer Chlodwig I. hatte 496 das Christentum angenommen, und mit ihm die fränkische Oberschicht.

Das Dumme war nur, dass sich ausgerechnet diese fränkische Oberschicht ganz besonders auszeichnete durch Mord, Verrat, Ehebruch und Intrigen. Streitigkeiten endeten normalerweise mit der Ermordung des Rivalen, und vorsichtshalber brachte man dann auch gleich seine ganze Familie mit um. Einer der fränkischen Könige hatte im Alter von 14 Jahren schon 4 uneheliche Kinder. Und die fränkische Kirche war ebenso heruntergekommen und unwirksam.

In dieser nur mit einem christlichen Anstrich versehenen Welt gründete Columban mit seinen Gefährten das Kloster Annegray. Die Grundmauern sind heute noch zu besichtigen. Mitten in der Wildnis lebten sie zuerst von Beeren und Baumrinde, sie erlegten Wölfe, um Leder für ihre Schuhe zu haben und waren froh, als sie Gewässer mit Fischen entdeckten. Trotzdem – sie waren nicht die ersten Menschen in dieser Einöde. Die Gegend war vor dem Einfall der Hunnen bewohnt gewesen. Sie bauten auf den Trümmern alter römischer Siedlungen und holten sich aus den Ruinen die Steine für ihr Kloster. Aber nur die strenge Disziplin der irischen Mönche, in der sie erzogen waren, ließ sie in der Wildnis durchhalten.

Irische Mönche suchten die Vollkommenheit. Sie suchten die Ruhe abseits des Geschehens, verbanden dies aber mit einer ungeheuren Tatkraft. In die Einöde bauten sie ihre Klöster und Mönchszellen. Die Iren waren radikal in ihrer Auffassung. Intensiv beschäftigen sie sich mit Tugend und Laster und stellten ein Bußverzeichnis auf, Bußbücher zum Gebrauch in der Seelsorge – als Hilfen auf dem Weg zur Vollkommenheit. Zugegeben strenge Hilfen. Extremes Fasten, unaufhörliches Nachtwachen, zahllose Kniebeugen, kalte Bäder, unsägliche Armut und andere Härten waren für das Bußsystem der Iren grundlegend. Es war verrückt und maßlos übertrieben, was sich die Mönche antaten. Viele starben an den überzogenen Forderungen, die das Mönchtum an die menschliche Natur stellte.

Aber die Wirkkraft war groß. Diese radikale Lebensform zog mit ihrer Radikalität die barbarischen Menschen auf dem Kontinent mehr an als die römisch-lateinischen Mönche und Missionare es konnten. Die Iren setzten sich dem Tod aus, weil sie Gott vertrauten. Dazu gehört der eiserne Wille durchzuhalten, der eiserne Wille zur Vollkommenheit. Das klingt hart, und es war hart – aber diese Lebensform brachte Menschen hervor, die kraft ihres Glaubens und kraft ihrer Persönlichkeit eine fremde, feindselig wirkende Kultur mit dem Evangelium durchdringen konnten. Einer kleinen Gruppe von Mönchen gelang es, ganze Volksstämme und Landschaften nachhaltig zu verändern, so dass die Wirkung auch nach über tausend Jahren immer noch erkennbar ist.

Ruinen von Kloster Annegray
Ruinen des Klosters Annegray

So sprach es sich sehr schnell herum, dass dort in der Wildnis der Vogesen eine erstaunliche Gruppe von Menschen am Werk war. Ihre Fähigkeiten, gemeinsam zu überleben wurden genauso bewundert wie ihre geistliche Stärke. So kamen die Menschen zu ihnen, und binnen weniger Jahre musste Columban zwei weitere Klöster in der Nachbarschaft gründen, um all die vielen neuen Mönche unterzubringen. Arme genauso wie Adlige kamen, um zu schauen, manchmal auch um zu spotten, aber viele bleiben und schlossen sich als Mönche der Gemeinschaft an. König und Adel kamen zu Columban, weil sie seinen Rat hören wollten.

Von dieser Gemeinschaft in der Einöde muss damals eine enorme Kraft ausgegangen sein – sie hatten offensichtlich etwas, was das verwüstete Europa nicht hatte, aber dringend suchte. Was in Irland entdeckt worden war, das war genau das, was die Menschen hier brauchten. Columban und seine Mönche begründeten eine neue Tradition: in späteren Jahren war Frankreich berühmt für seine Klosterschulen. Insgesamt gehen zwischen 60 und 100 Klöster auf Columban zurück.

Aber bisher war das Gebiet des späteren Deutschland von seinem Wirken nur am Rande erreicht. Das änderte sich, als Columban Probleme mit dem fränkischen König Theuderich und seiner Mutter Brunhildis bekam. Columban hatte ihn unverblümt aufgefordert, zu heiraten, anstatt mit vielen verschiedenen Frauen zusammenzuleben. Das ärgerte vor allem die Mutter des Königs, denn sie wollte nicht, dass eine Königin an den Hof kam, die für sie eine Konkurrenz bedeutet hätte. Es kam zu einer Zuspitzung, als sie von Columban verlangte, zwei uneheliche Kinder ihres Sohnes zu segnen. Der unbeugsame Columban weigerte sich. Als ihr Sohn schließlich auch die Herrschaft über Burgund erlangte (dort lagen Columbans Klöster), wurde er schließlich 610 nach Irland zurückgeschickt. Aber ein Sturm trieb das Schiff zurück an die Küste der Normandie, und der Kapitän nahm das als Wink Gottes und ließ Columban und seine Gefährten laufen.

Der wandte sich nun nach Austrasien, also in den östlichen Teil des Frankenreiches. Über Mainz erreichten sie den Rhein, wanderten predigend und evangelisierend nach Süden und ließen sich schließlich am Bodensee nieder. Dort stießen sie auf einheimische Christen, Reste der urprünglich christlich-römischen Bevölkerung, die vermischt mit den Heiden lebten. Aber es gab auch hier Konflikte, weil die Mönche Götzenaltäre zerstörten und Götzenbilder in den Bodensee warfen. Es war offensichtlich die Entdeckung, dass hier ursprünglich das Christentum heimisch gewesen war, die Columban so energisch vorgehen ließ. Als aber die Feindschaft der Einheimischen wuchs und einzelne Mönche in den Wäldern ermordet wurden, zog Columban weiter nach Italien und gründete zum letzten Mal ein Kloster, nämlich Bobbio. Bis heute ist es erstaunlich, wie international die Christen dieser Zeit dachten und lebten, und welche Entfernungen sie zu Fuß zurücklegten.

In den Klöstern dieser frühen Jahre entstand eine Gegenwelt, die sich auch vor Konflikten mit den Herrschern nicht fürchtete. Die Klöster leisteten aber auch einen großen Teil der praktischen Aufbauarbeit, zu der die Herrschenden sich nur ausnahmsweise herabließen. Im zerstörten Europa gab es unendlich viel zu tun. Grenzenlose Unwissenheit und die allgemeine Unsicherheit der Verhältnisse hielten die Wirtschaftskraft weit unterhalb der Leistungen in römischen Zeiten. Die Klöster haben dazu beigetragen, dass die Verhältnisse sich allmählich besserten.

Am Bodensee ließ Columban seinen Schüler Gallus zurück. Auch Gallus sammelte eine Gruppe von Mönchen um sich, er gründete eine Einsiedelei, aus der später das Kloster St. Gallen wurde. Von dort und von der Bodensee-Insel Reichenau aus wurde der deutsche Südwesten neu für das Christentum gewonnen, später auch Bayern und der Alpenraum. Es waren die Gegenden, die früher zum weströmischen Reich gehört hatten. Der Norden Deutschlands blieb dem Christentum noch längere Zeit verschlossen.

Es bleibt die Erinnerung daran, wie wenig das Christentum auf gute und gesicherte Zeiten angewiesen ist. Viel wichtiger ist zu allen Zeiten, dass Zellen da sind, von denen geistliche Kraft ausgeht. Ein Columban mit zwölf Gefährten konnte die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es zu einer wirklichen Verbindung zwischen Christentum und fränkischem Reich kam; er schuf damit die Voraussetzungen für Karl den Großen und im Grunde für das, was wir bis heute »Europa« nennen. In Zeiten der Unsicherheit haben die Menschen ein Gespür dafür, wo geistliche Kraft zu finden ist, und sie kommen, um daran Anteil zu haben. Diese Vollmacht ist die kostbare Substanz, von der die Christenheit lebt.