Aufbrechen – die schöpferische Kraft des Neubeginns (Abraham I)

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 19. August 2001 zu 1. Mose 12,1-9

Kurz vor der Predigt war eine Szene zu sehen gewesen, in der eine Frau versucht, mit Hilfe einer gründlichen Lebensbeichte einen neuen Anfang zu machen. Am Ende landet sie aber doch wieder bei Selbstmitleid und Anklagen.

1 Da sagte der HERR zu Abram: »Verlass deine Heimat, deine Sippe und die Familie deines Vaters, und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde! 2 Ich will dich segnen und dich zum Stammvater eines mächtigen Volkes machen. Dein Name soll in aller Welt berühmt sein. An dir soll sichtbar werden, was es bedeutet, wenn ich jemand segne. 3 Alle, die dir und deinen Nachkommen Gutes wünschen, haben auch von mir Gutes zu erwarten. Aber wenn jemand euch Böses wünscht, bringe ich Unglück über ihn. Alle Völker der Erde werden Glück und Segen erlangen, wenn sie dir und deinen Nachkommen wohlgesonnen sind.«

4 Abram folgte dem Befehl des HERRN und brach auf, und Lot ging mit ihm. Abram war 75 Jahre alt, als er seine Heimatstadt Haran verließ. 5 Seine Frau Sarai und Lot, der Sohn seines Bruders, begleiteten ihn. Sie nahmen ihren ganzen Besitz mit, auch die Menschen, die sie in Haran in Dienst genommen hatten. So zogen sie in das Land Kanaan, 6 in dem damals noch das Volk der Kanaaniter wohnte. Sie durchquerten das Land bis zu dem heiligen Baum bei Sichem.

7 Dort erschien dem Abram der HERR und sagte zu ihm: »Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben!« Da baute Abram dem HERRN einen Altar an der Stelle, wo er ihm erschienen war. 8 Von dort aus zog er in das Bergland östlich von Bet-El. Seine Zelte standen zwischen Bet-El im Westen und Ai im Osten. Auch dort baute er einen Altar und rief im Gebet den Namen des HERRN an. 9 Dann zog er von Lagerplatz zu Lagerplatz immer weiter nach Süden.

Es gehört zu den traurigsten Dingen, wenn ein Aufbruch stecken bleibt. Wenn jemand mit frohem Mut und Hoffnung aufgebrochen ist, und am Ende ist er doch nur im Kreis gegangen. Eben gerade haben wir so etwas gesehen. Da wollte eine eigentlich losgehen, neu anfangen, und dann endet sie doch wieder in den alten Strategien von Selbstmitleid und Schuldzuweisung. Vielleicht könnte man sagen: sie möchte gerne das alte Leben verlassen, aber das alte Leben verlässt sie nicht. Sie hat die alten Denkgewohnheiten nicht losgelassen, und so begleitet das Alte sie auf Schritt und Tritt und macht ihr das Neue gleich wieder kaputt.

Dabei ist es Gottes Spezialität, uns zum Aufbruch zu rufen. Das ist seine Botschaft an Menschen aller Zeiten. Das positive Ziel dabei ist, dass wir ein Leben führen, das in großer Freiheit und Zuversicht von der Kommunikation mit Gott geprägt ist und dies auch in der Art zu leben widerspiegelt. Weil Gott ein segnender Gott ist, deshalb soll auch von solch einem Leben Segen ausgehen und der Eindruck soll nicht sein, da wäre jemand vor allem »nervös, leicht reizbar, unbeherrscht und frustriert«. Man kann es auch so beschreiben, dass ein Mensch Gottes von lebensbejahendem Optimismus geprägt sein soll, und zwar auch dann, wenn er die Zeit der Jugend schon längst hinter sich gelassen hat. Im Leben eines Menschen, der auf die Stimme Gottes hört, soll Gottes unerschöpfliche Lebendigkeit zu spüren sein. Das ist das Ziel des Aufbruchs, zu dem Gott uns ruft.

Dieser Aufbruch ist aber nicht nur von diesem positiven Ziel her bestimmt, sondern es geht genauso um einen Abbruch, es geht darum, etwas hinter sich zu lassen, die Brücken nach hinten abzubrechen und sich nach vorn zu orientieren. Was Menschen müde, resigniert und mutlos macht, das sind ja die Denkwege in unseren Köpfen und Herzen, Denkwege wie Selbstmitleid, Ärger, Vorwürfe und Empfindlichkeiten, die immer wieder die göttliche Lebendigkeit unterhöhlen und ausbremsen, weil sie mit Todesmotiven durchsetzt sind. Es ist unsere Verstrickung in falsche Lebensziele und die Bindung an falsche Ideale – früher hat man die mal »Götter« genannt. Diese Denkwege haben große Macht über uns und werden normalerweise auch von unserer Umwelt immer wieder bestätigt.

Deshalb gehört es auch zu einem Aufbruch, dass man sich in Bewegung setzt und dabei etwas zurücklässt. Wir sehen das an Abraham. Abraham wird der Vater aller Glaubenden genannt. Er war der erste Mensch, mit dem dieses Wort »Glauben« verbunden wird. Wir andern buchstabieren nach, was er als erster lernte. Deshalb wird er »unser Vater Abraham« genannt. Sein Name »Abraham« bedeutet »Vater von vielen«.

Und was erfahren wir über diesen Vater aller Glaubenden? Er hörte eine Stimme, er brach auf, um diesem Ruf zu folgen, und nach vielen Irrwegen und nach langer Zeit, in der er diesen Ruf Gottes immer besser zu verstehen lernt, kommt er ans Ziel. Aber alles fängt damit an, dass er aufbricht und das, was er kennt, hinter sich lässt.

Vielleicht ist das heute für uns auf den ersten Blick nichts Besonderes. Wir leben in einer mobilen Gesellschaft. Ich habe mal nachgezählt, in wie vielen Wohnungen ich gelebt habe, bevor ich hier nach Ilsede kam – ich glaube es waren so 12 oder 15, und acht verschiedene Städte, in denen ich kurz oder lange gelebt habe. Und es gibt viele Menschen, die noch mehr Stationen aufführen könnten.

Aber damals in Abrahams Welt verließ kein Mensch jemals aus freien Stücken seine Heimat. Vielleicht wurde manchmal ein Verbrecher verbannt (und das kam schon fast einer Hinrichtung gleich). Aber wegziehen aus der Heimat, und dann auch noch ohne zu wissen wohin, das machte damals niemand. Die meisten Menschen in der Antike kamen im Lauf ihres Lebens kaum aus ihrem Geburtsort heraus. Man übernahm die Traditionen und Erfahrungen seiner Sippe. Es war unüblich, eine individuelle Entscheidung zu treffen. Man tat das, was die anderen taten, und man dachte das, was auch die anderen dachten. Es kann ja sein, dass sich daran bis heute weniger geändert hat, als wir glauben. Trotzdem ist unser Spielraum für eine eigenständige Entscheidung heute wesentlich größer als bei Abraham.

Der Ruf: »zieh weg aus deiner Heimat« – der musste sich durchsetzen gegen unzählige andere Stimmen, die im Chor riefen: »bleib hier! Bleib hier!«. Auf den Spuren Abrahams werden in der biblischen Geschichte immer wieder Menschen heraustreten aus ihrem normalen Leben und aus ihrem gewohnten Denksystem. Bis hin zu den Jüngern Jesu, denen er gleich am Anfang sagt: komm mit mir! Lass alles zurück! Glaube bedeutet seit Abraham Loslassen, Weggehen und Aufbrechen. Das heißt nicht immer, dass Menschen geografisch weggehen, aber ziemlich oft auch das. Und auf jeden Fall geht es um einen Aufbruch in neue Denkhorizonte, um das Wagnis, das Selbstverständliche in Frage zu stellen, weil da eine Stimme ist, deren Ruf das Herz erreicht hat. Und das ändert alles.

Haben Sie sich das schon mal klar gemacht, was das bedeutet, dass da über Jahrtausende hinweg ganz kontinuierlich Menschen immer wieder dieselbe Stimme gehört haben? Sie sprach zu Abraham, sie sprach zu Mose, zu König David, zu den Propheten, den bekannten und den weniger bekannten, sie nahm Gestalt an in Jesus Christus, sie spricht seit damals zu ungezählten Christen, und wenn wir sie hören, dann hören wir genau dieselbe Stimme, die damals Abraham rief. In diesen viertausend Jahren die nun seit Abraham verstrichen sind, haben sich die Zeiten und die äußeren Umstände dramatisch geändert. Aber die Stimme Gottes, die Menschen zum Aufbruch ruft, die ist in jedem Jahrhundert zu hören gewesen. Das zieht sich durch, seit damals.

Und neben Abraham ist nun von Anfang an Lot, sein Neffe. Lot macht sich auf denselben Weg wie Abraham, aber wenn man sich ansieht, wie es mit ihm weitergeht, dann hat man den Eindruck, dass er ein anderes Motiv dabei hatte. Er scheint mehr von den materiellen Verheißungen Gottes beeindruckt gewesen zu sein. Er lässt sich später aus materiellen Gründen in der fruchtbaren Ebene bei Sodom nieder, und er entkommt mit knapper Not, als Gott diese böse Stadt zerstört. Lot geht äußerlich mit, aber innerlich lernt er nichts. Äußerlich hat er das alte Leben verlassen, aber das alte Leben verlässt ihn nicht. Er hält es fest. Er bleibt den alten Denkmustern verhaftet.

Nun muss man allerdings sagen, dass die auch bei Abraham ziemlich hartnäckig sind. Wenn er unter Druck kommt, dann vergisst er, dass er sich doch eigentlich auf Gott verlassen wollte. Und er kommt häufig unter Druck. Bei einer Hungersnot zieht er nach Ägypten — da passiert dann diese Geschichte, dass der König von Ägypten auf Abrahams Frau Sara aufmerksam wird und sie in seinen Harem holen lässt — und aus Angst verleugnet Abraham seine Frau und sagt: »sie ist meine Schwester«. Oder die bekanntere Geschichte, wie sie nicht abwarten können, bis der von Gott versprochene Sohn kommt und stattdessen eine Leihmutter zu Hilfe nehmen, mit verheerenden menschlichen Konsequenzen.

Auch wenn Abraham sich auf den Weg gemacht hat — die alte Art zu denken holt ihn immer wieder ein. Immer wieder macht er große und ermutigende Erfahrungen mit Gott, er bekommt Erfolg, Reichtum und am Ende tatsächlich den ersehnten Sohn. Aber er wird auch immer wieder rückfällig. Stück für Stück findet er erst zum Vertrauen auf Gott. Aber am Ende heißt es von ihm, dass er alt und lebenssatt starb, offensichtlich im Frieden mit Gott. Er hatte seine Berufung erreicht.

Ob wir eines Tages so zurückblicken können, ob wir am Ende wohl sagen werden: ich habe zwar denselben Fehler fünfmal gemacht, und ich komme jetzt nur auf Krücken und mit vielen Narben ans Ziel, aber ich habe meine Berufung erreicht und bin durch Gottes Gnade am Ende da gelandet, wo er mich hin haben wollte! – das hängt von zwei Dingen ab, und ich weiß gar nicht, was davon wichtiger ist:

  • einmal: Den Ruf Gottes zu hören und ihn zu beantworten. Ohne das geht es nicht. Damit beginnt es.
  • Aber dann kommt das andere: das Alte nicht festhalten. Es wirklich hinter sich lassen.

Jesus hat immer wieder gesagt, dass wir nicht zwei grundverschiedene Dinge nebeneinander tun können, dem Reich Gottes folgen und im alten Leben weitermachen. Damit hat er etwas gesagt, was sich auch schon im Alten Testament findet. Ohne das eine, das Aufbrechen, kommt es zu keinem Neubeginn. Ohne das andere, das Loslassen, stirbt der Neubeginn.

Aber jedesmal dann, wenn wir es wieder geschafft haben, etwas loszulassen, wenn wir von neuem befreit worden sind von den gottlosen Bindungen dieser Welt, die uns mit Haut und Haar und all unseren Gedanken absorbieren möchte, jedesmal, wenn da eine Fessel gesprengt worden ist, dann erleben wir wieder so einen kleinen Neubeginn. Man könnte geradezu sagen, dass das ein Trick Gottes ist, dass er uns immer wieder solche Gelegenheiten zu einem kleinen Neubeginn, zu einem kleinen Aufbruch gibt, weil so unser Verhältnis zu ihm jung und frisch bleibt und wir seine Kraft von neuem erfahren können.

Und ganz oft sind solche Neuanfänge dann auch wirklich mit Segen verbunden. Es ist, als ob Gott solche Gelegenheiten manchmal benutzt, um uns zu zeigen: ich freue mich über dich, ich schenke dir etwas Gutes zum Zeichen, dass du auf dem richtigen Weg bist. Liebe Freunde, es gibt alte Menschen, die in Wirklichkeit und in ihrem Herzen sehr jung geblieben sind, und es gibt Menschen, die schon in jungen Jahren innerlich alt und erstarrt geworden sind.

Die Entscheidung darüber, wie wir werden, die fällt an der Frage, ob wir bereit sind, uns immer wieder von Gott zum Neubeginn rufen zu lassen. Ob wir bereit sind, uns von Dingen zu trennen und neues zu lernen. Glauben soll offensiv gelebt werden, nicht defensiv und depressiv. Jesus geht voran, und wir sollen mit ihm Schritt halten.