Transparent werden in der Gegenwart Gottes

Predigt am 2. Juli 2000 zu 1. Korinther 14,1-3.20-25

1 Von den Gaben des Geistes wünscht euch besonders die Fähigkeit, prophetische Weisungen zu verkünden. 2 Wenn du in unbekannten Sprachen redest, sprichst du nicht zu Menschen, sondern zu Gott. Niemand versteht dich. Durch die Wirkung des Geistes redest du geheimnisvolle Worte. 3 Wenn du aber prophetische Weisungen empfängst, kannst du sie an andere weitergeben. Du kannst damit die Gemeinde aufbauen, ermutigen und trösten. 20 Brüder und Schwestern, seid nicht Kinder dem Verstand nach! In der Schlechtigkeit sollt ihr wie kleine Kinder sein, aber im Denken müsst ihr erwachsen sein.

21 Im Buch des Gesetzes heißt es: »Ich werde zu diesem Volk in unbekannten Sprachen reden und in fremden Worten, sagt der Herr. Aber auch dann werden sie nicht auf mich hören.« 22 Das Reden in Sprachen des Geistes ist also gar nicht für die Glaubenden bestimmt, sondern für die Ungläubigen – es ist ein Zeichen des Gerichts über ihren Unglauben. Bei den prophetischen Botschaften ist es umgekehrt: Sie sind nicht für die Ungläubigen bestimmt, sondern für die Glaubenden oder die, die zum Glauben kommen sollen. 23 Stellt euch vor, die ganze Gemeinde versammelt sich, und alle fangen an, in unbekannten Sprachen zu reden. Wenn nun Neulinge oder Ungläubige hereinkommen, werden sie euch bestimmt für verrückt erklären. 24 Nehmt dagegen an, ihr alle verkündet prophetische Weisungen. Wenn dann ein Neuling, der noch nicht glaubt, hereinkommt, wird ihn alles, was er hört, von seiner Schuld überzeugen. Er wird sich von allen zur Rechenschaft gezogen sehen. 25 Seine geheimen Gedanken kommen ans Licht. Er wird sich niederwerfen, wird Gott anbeten und bekennen: »Wahrhaftig, Gott ist mitten unter euch!«

Gott möchte uns da erreichen, wo wir wirklich wir selbst sind, da, wo wir echt sind, da, wo es sich lohnt, mit uns zu reden. Und im Extremfall kann das so aussehen, wie Paulus es hier beschreibt: jemand kommt in die Gemeindeversammlung, und es ist so, als ob alle ihn durchschauen, sie erkennen ihn, wie er wirklich ist, sie sagen ihm, was mit ihm und seinem Leben los ist. Eine Szene, die einen beinahe an das jüngste Gericht erinnert, wenn einmal unser Leben offen zutage liegen wird. Und abwegig ist dieser Vergleich nicht, denn beide Male ist Gott da.

Genau das bestätigt dieser Gast mit seiner Reaktion auf die Worte der Gemeinde: »ja, jetzt ist mir klargeworden, dass Gott hier wirklich gegenwärtig ist!« Anscheinend ist er nicht vergrault oder verprellt, es ist ihm nicht peinlich, dass nun alles ans Licht gekommen ist. Er ist vielleicht erschreckt, aber vor allem ist er tief beeindruckt von der Gegenwart Gottes, in die er so unerwartet gekommen ist. In der Gegenwart Gottes ist es nicht schlimm und nicht peinlich, wenn man so erkannt wird. Es ist vielleicht erschreckend, wenn man sich selbst auf einmal so sieht, wie man wirklich ist, wenn man sich sozusagen mit den Augen Gottes erkennt. Aber man merkt dann gleichzeitig, dass Gottes Augen liebevoll schauen, und dass es gut ist, so erkannt zu werden. Ja, in Wirklichkeit wünscht sich das jeder, so erkannt und verstanden zu werden – wir haben nur Angst davor, dass jemand dieses Wissen missbrauchen und uns an unseren wunden Punkten verletzen könnte. Aber in der Gegenwart Gottes ist das kein Problem.

Ich vermute, dass das selbst in neutestamentlichen Zeiten nicht die Regel war, dass jemand mit seinem ganzen Leben völlig im Licht Gottes steht, kaum dass er in den Gottesdienst gekommen ist. Aber Paulus benutzt dieses Extrembeispiel und sagt: ja, so sollte es aber sein! So wie bei Jesus: der hat auch sofort gewusst, was mit einem Menschen los war, der in seine Gegenwart kam.

Vielleicht kann man sich das auch an Jesus am besten klarmachen, was Paulus hier meint: Jesus gab keine breite Beschreibung der Seelenlandschaft, aber er sprach genau den strategischen Punkt an, um den sich die Persönlichkeit seines Gegenübers bewegte, ob das nun Stolz war, der Besitz oder der tiefe Schmerz einer verwundeten Seele. Und genau zu diesem Zentrum der Person sagte er dann ein hilfreiches Wort.

Nach Paulus soll die Gemeinde die gleiche Kompetenz haben wie Jesus: Menschen anzusprechen auf den Kern ihrer Person und ihres Lebens, und diesen Kern mit Gott in Verbindung zu bringen. Das muss nicht jeder einzelne Christ können, aber gemeinsam haben sie die Kompetenz.

Ich glaube, dass nicht selten Menschen sich das insgeheim erhoffen, wenn sie Kontakt zur Kirche haben. Sie könnten es nicht deutlich sagen, aber dieser Wunsch, in die Gegenwart Gottes zu kommen und von ihm erkannt zu werden, der ist bei den Menschen wirklich da, auch wenn sie gleichzeitig Angst davor haben. Und ich glaube, dass viel Enttäuschung über die Kirche damit zusammenhängt, dass das so wenig geschieht. Menschen erleben das nur noch selten, dass sie sich erkannt, überführt und gleichzeitig verstanden und angenommen fühlen.

Das gilt für Christen wie für Nichtchristen. Und dann bleiben Menschen weg aus dem Gottesdienst oder aus Gruppen, sie sagen: »es ist nicht mehr so wie früher« oder »es bringt mir nichts«, weil dieser prophetische Dienst einfach viel zu selten Realität wird, und wir reden stattdessen über Dinge, die uns nicht wirklich berühren, und nur die ganz Hartgesottenen merken nicht, dass da etwas fehlt, wonach wir uns alle sehr verschämt und intensiv sehnen, auch wenn wir oft nicht richtig beschreiben können, was das eigentlich ist.

Und umgekehrt, wenn es passiert, ist doch gerade das das wirklich Attraktive an der christlichen Gemeinde, dass man da sein Leben mit den Augen Gottes sieht und mit seiner erschreckenden und heilsamen Gegenwart konfrontiert ist. Das ist das Eigentliche, wozu es Gemeinde geben soll, das kann so kein anderer, und wenn sich das ereignet, dann gibt es keine Langeweile, dann ist jeder gespannt, was denn nun wieder passieren wird.

Deswegen sind auch Routine und das einfache Wiederholen der alten Worte genauso schädlich wie falsche Betriebsamkeit: weil dann kein Raum ist für die lebendige Begegnung mit Gott.

Paulus redet davon, dass diese Begegnung durch den prophetischen Dienst ganz besonders gefördert wird, und wir uns deswegen ganz besonders um diese Gabe bemühen sollen. Prophetie ist also anscheinend nicht etwas, was es gibt oder nicht gibt, und man kann nichts machen, weil es Gott in seiner undurchschaubaren Weisheit so beschlossen hat, sondern man kann sich darum bemühen – genauso, wie man Prophetie auch ersticken kann.

Wie macht man das? Das schreibt Paulus hier nicht, aber wir können ja überlegen, wie man sich um Prophetie bemüht, in unserem Fall muss man wohl sagen: um die Neugewinnung von Prophetie unter uns. Wir müssen sie uns

  1. wünschen, das ist das Wichtigste!
  2. Dazu müssen wir überhaupt erst von ihr wissen, dafür sind Bibeltexte wie dieser heutige da.
  3. Wir müssen darum beten, denn die Gabe der Prophetie wird wie alle anderen von Gott geschenkt – aber sie wird dann geschenkt, wenn man darum bittet.
  4. Die Gabe muss Raum haben, um sich zu entfalten. Das klingt vielleicht selbstverständlich, aber da liegt meiner Meinung nach der eigentliche Haken: wenn wir um die Wiedergewinnung der Prophetie beten, und Gott schenkt auch Menschen unter uns diese Gabe – dann brauchen sie andere, die ihnen zuhören und sie ermutigen, und sie brauchen Raum, wo sie diese Gabe ausbilden und entwickeln können. Ich bin überzeugt, dass es unter uns diese Gabe keimhaft jetzt schon gibt – die eigentliche Frage ist, wie wir sie entdecken und entwickeln können. Das ist wie mit der musikalischen Begabung: es nützt nichts, sie zu haben, wenn man sie nicht gebraucht und trainiert, und auch dann ist sie nur nützlich, wenn Menschen da sind, die die Musik hören wollen und sich dafür Zeit nehmen.
  5. Schließlich: Wir müssen auch die mittleren Formen der Prophetie wahrnehmen. Wir stellen uns unter einem Propheten oft so eine religiöse Supergestalt vor, der sich mitten in den Tempel stellt und mit gewaltiger Stimme den Menschen »kehrt um!« oder ähnliches zuruft. Es gibt aber auch das mehr Alltägliche, wenn einer den anderen anspricht auf ein Problem in seinem Leben oder ihn ermutigt, und man kann nicht genau sagen: war das jetzt einfach Intuition, oder war es ein echter prophetischer Beitrag? Aber gerade diese mittleren Formen von Prophetie scheinen im Augenblick wichtig zu sein, und wir sollten auf sie achten.

Paulus redet auch noch von einer anderen Gabe: vom Reden in unbekannten Sprachen oder in der Sprache des Geistes, auch bekannt als Zungenreden, Glossolalie oder Sprachengebet. Das gab es damals in der Gemeinde von Korinth noch viel mehr als Prophetie. Da geht es auch um die echten zentralen Regungen des Herzens. Sie werden aber nicht so angesprochen wie in der Prophetie, sondern sie drücken sich aus in einem Gebet, das unseren Begriffs- und Wortbildungsapparat einschließlich der Gram­matik umgeht. Lob Gottes, Freude, Schmerz, Trauer, Begeisterung – es sucht sich alles seinen Weg nach außen, ohne dass man erst groß formulieren müsste.

Und das ist gut und heilsam. Es gehört zum Menschsein, dass wir auch äußerlich darstellen wollen, was uns innen bewegt, wir wollen ja von Gott und den Menschen wahrgenommen werden. Auch hier also: das, was den Kern der Person und die Mitte des Herzens ausmacht, wird vor Gott gebracht. Auch hier wieder: es geht in der Gemeinde um das, was uns zentral bewegt. Da kann keine Langeweile aufkommen – wenn es gelingt, dass wir in der Gemeinde dieses Zentrum erreichen und nicht an der Oberfläche bleiben. Und dann kommen Menschen jedenfalls in Afrika oder Asien zu Fuß kilometerweit zum Gottesdienst, weil sie das erleben möchten. Prophetie oder Zungenreden: es geht jedes Mal darum, dass die verborgene Mitte unseres Herzens mit Gott in Berührung kommt.

Paulus sagt allerdings: mir ist die Prophetie wichtiger als das Reden in Sprachen. Weil das auch Menschen erreicht, die neu sind und sonst gar nicht verstehen würden, worum es geht. Paulus war immer besonders daran interessiert, dass auch Außenstehende Zugang bekommen können zu der geistlichen Wirklichkeit der Gemeinde, dass sie die Gegenwart Gottes, die sie vielleicht gesucht haben, ohne es richtig zu verstehen, auch finden. Und er sagt: dazu eignet sich die Prophetie einfach besser. Ich bete oft und gern in Sprachen, aber wenn in der Gemeinde lauter Leute unverständliche Laute von sich geben und jemand ist dabei, der das alles nicht kennt, vielleicht hat ihn einer zum ersten Mal mitgebracht, der denkt doch: die spinnen. Nehmt ihm nicht die Chance, Gott so zu begegnen, dass er von Anfang an merkt: das ist echt, unter diesen Menschen ist wirklich Gott präsent.

Und Paulus erinnert daran, dass Gott im Alten Testament einmal durch einen Propheten angekündigt hat, er werde durch die unverständliche Sprache feindlicher Soldaten zu Israel reden, als ein Zeichen des Gerichts, das trotzdem nicht verstanden werden wird. Und er sagt damit den Korinthern: jetzt ist nicht die Zeit des Gerichts, wo Gott unverständlich redet, sondern jetzt ist gerade die Zeit der Gnade, wo Gott den Menschen nahekommen will und von ihnen verstanden werden will. Also, stellt euch nicht Gott in den Weg durch unverständliche Worte, und man könnte es für uns ergänzen: behindert nicht Gott durch einen Gottesdienststil, zu dem Menschen keinen Zugang finden, behindert ihn nicht durch Musik oder Lieder, die anderen unverständlich bleiben, benutzt nicht eine Insidersprache, die andere nur merkwürdig finden, blockiert Gott nicht durch Predigten, bei denen Menschen sich langweilen usw.!

Gott möchte heran an die Herzen von Menschen. Er möchte, dass es Raum gibt für die Dinge, die sonst immer verborgen sind, die aber danach schreien, endlich vor ihn zu kommen und erlöst zu werden. Wir wissen ja gar nicht, was die Gemeinde damals diesem Fremden prophetisch gesagt hat, als er zum ersten Mal bei ihnen war. Ob sie mit ihm über seine Frauengeschichten geredet haben oder über seinen mürrischen Gesichtsausdruck, über die Trauer um den Tod eines Kindes oder über eine Entscheidung, die er zu treffen hatte, und die ihn ratlos machte. Aber ich glaube, er ist wiedergekommen.

Wenn Menschen mit mir über das Innerste meines Herzens reden, ohne mich zu verletzen, wenn sie mir sagen, was falsch ist in meinem Leben, ohne auf mich herabzusehen, und wenn ich dann noch verstehe: das geht nur, weil hier Gott ist – sollte ich da nicht gerne wiederkommen? Das ist der wirkliche Grund, weshalb Menschen zur Gemeinde kommen. Und lasst uns danach streben, dass das unter uns passiert, immer häufiger, immer zuverlässiger, mit immer mehr Sicherheit, damit die Menschen merken, dass Gott wirklich hier ist.