Das Unsichtbare ist verläßlicher als das Sichtbare

Predigt am 14. Mai 2000 zu 1. Korinther 4, 16-18

16 Ich verliere nicht den Mut. Die Lebenskräfte, die ich von Natur aus habe, werden aufgerieben; aber das Leben, das Gott mir schenkt, erneuert sich jeden Tag. 17 Die Leiden, die ich jetzt ertragen muß, wiegen nicht schwer und gehen vorüber. Sie werden mir eine Herrlichkeit bringen, die alle Vorstellungen übersteigt und kein Ende hat. 18 Ich baue nicht auf das Sichtbare, sondern auf das, was jetzt noch niemand sehen kann. Denn was wir jetzt sehen, besteht nur eine gewisse Zeit. Das Unsichtbare aber bleibt ewig bestehen.

Was Paulus hier schreibt, das ist nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß er aus dem Glauben an Jesus und in der Kraft des Heiligen Geistes lebt. Wenn man sich das nicht klar macht, dann kommt irgendwas Komisches raus, daß Paulus sich nach Leiden sehnt, oder daß er schrecklich demütig ist, oder daß es Christen immer möglichst schlecht gehen sollte. All diese Mißverständnisse hat es leider schon oft gegeben, aber davon werden sie nicht richtiger.

Paulus sagt: Ich lebe vom Unsichtbaren. Das ist fast das Gegenteil von dem Spruch, den man manchmal heute noch hört: »Ich glaube nur, was ich sehe«. Dieser Spruch, der liefert uns aus an all das, was sich aufdrängt und unübersehbar breitmacht. Zum Beispiel ein Film, der kann noch so mäßig sein, wenn da nur genügend Geld investiert wird in Werbung und Promotion, dann wird er ein Ereignis, und alle berichten darüber, und dann muß man ihn auch gesehen haben. Weil er sich so schrecklich breitgemacht hat. Und wir leben im Glauben, daß alle diese Sachen, die so viel Platz in der Welt einnehmen, so wichtig sind, daß wir da nicht drum herumkommen.

Dagegen sagt Paulus: ich baue nicht auf das Sichtbare. Das bleibt für eine gewisse Zeit bestehen, und dann ist es wieder passé Wenn etwas verläßlich sein soll, dann muß es gerade unsichtbar sein. Nur die Dinge, die tiefer verankert sind als diese oberflächlichen Sachen, nur das ist verläßlich. Also: mißtraue gerade den Dingen, die du siehst, weil sich sich so sehr in den Vordergrund schieben. Aber schau nach den Dingen, die tiefer verankert sind, die nicht offensichtlich auf der Hand liegen.

Wenn uns nämlich das, was wir sehen, wichtig und beeindruckend erscheint, dann verlieren wir irgendwann den Mut, weil das alles ja irgendwann vergeht. So wichtig war uns das, und jetzt ist es nur noch Vergangenheit! Es war eine aufgepustete Fassade, und jetzt ist die Zeit darüber hingegangen. Dagegen sagt Paulus gerade in diesem Zusammenhang: Ich verliere nicht den Mut! Ich bin zwar alt geworden, aber ich bin längst nicht resigniert oder enttäuscht oder müde.

Es gibt so viele Menschen, die sich von den Träumen, die sie irgendwann mal geträumt haben, längst verabschiedet haben und jetzt nur noch vom Zählbaren und Sichtbaren leben. Oder sie haben vielleicht noch nie geträumt. Und dann sind Menschen schon früh unglaublich alt und können sich kaum noch irgendetwas anderes und neues vorstellen.

Das ist die Folge davon, wenn Menschen nur an das glauben, was sie sehen. Das unterfordert uns, das läßt unsere Seele gerade am entscheidenden Punkt unterernährt. Und es entmutigt uns, weil das, was sichtbar ist, auch immer vergänglich ist, vorläufig, und irgendwann zu Ende.

Und das betrifft auch uns selbst. All die Sachen, die wir können, das, was wir hinkriegen, wo wir gut sind, das wird vergehen. Ganz praktisch: je älter wir werden, desto mehr Dinge gibt es, die wir nicht mehr hinkriegen. Und Paulus sagt: so geht es mir auch. Der ist kaputt von den Strapazen seiner langen Reisen. Zu oft ist er geschlagen und gesteinigt worden. Das hinterläßt Spuren. Aber Paulus sagt: Während du mich siehst, einen alten Mann, der die Kennzeichen des beginnenden Alters trägt, da hat in mir schon längst etwas neues begonnen, was du nicht so einfach sehen kannst. Und das ist das entscheidende. Das ist mein Geheimnis und meine Lebensquelle.

Was ist das genau? Es geht um die Seite im Menschen, die mit einem offenen Fenster zu Gott lebt. Paulus nennt das auch den »inneren Menschen«, aber das bedeutet nicht, daß es nur um die seelischen Bereiche geht. Es geht um den Anschluß zur jenseitigen Welt Gottes, es geht um die Herrlichkeit, die das bedeutet. Wer das nicht in sich ausgerottet hat, sondern wer davon etwas weiß, der weiß auch, wie begeisternd und schön schon so ein kleiner Blick hinüber in die Welt Gottes ist. Paulus deutet einmal so ganz vorsichtig an, daß er einen Blick in den Himmel werfen durfte, in einer Vision wohl, und jetzt weiß er, was da an Herrlichkeit und Glanz auf uns wartet. Und es wartet ja nicht nur, sondern etwas davon kommt auch immer wieder einmal hinüber in unser Leben, und dafür lohnt es sich, alles zu geben, das ist jeden Preis wert.

Vielleicht wissen ja manche unter uns, was Paulus alles aushalten mußte: er ist gesteinigt worden, er hat Schiffbrüche mitgemacht, wo er erst nach zwei Tagen auf See, an eine Planke geklammert, gerettet worden ist. Er ist beschimpft und ausgepeitscht worden, er hat wirklich mehr abgekriegt als wir das so erleben, aber dieser Mann sagt: ach, im Vergleich zu dem, was ich da im Himmel gesehen habe, ist doch dies bißchen Leiden nicht der Rede wert. Das ist so gering im Vergleich zu dem, was noch kommt, das wird einfach vergessen sein, wenn Gottes neue Welt beginnt.

Und jetzt kann man auch verstehen, warum er seine ganzen Schwierigkeiten sogar begrüßt. Er ist nicht etwa ein geheimer Masochist, sondern er kennt einen verborgenen positiven Zusammenhang zwischen seinen ganzen Schwierigkeiten und der kommenden Herrlichkeit Gottes. Dieses große, tolle Leben aus Gott, die Herrlichkeit, die noch kommt, und von der wir hier immer schon mal ein Zipfelchen erleben können, das kriegt man nicht ohne Leiden, man kommt da nicht hin, ohne auch die Schattenseiten zu erleben. Nicht in dem Sinn, daß Gott da einen Preis für will oder daß man ihn bestechen könnte, indem man sich kasteit, sondern da gibt es einfach einen notwendigen Zusammenhang. Das ist einfach so. Gerade das Schwierige und Harte bereitet uns vor und bringt uns näher hin zum Erleben von Gottes Herrlichkeit. Nicht automatisch, aber wenn wir richtig darauf reagieren.

Man kann das schon an Jesus sehen: Gott erweckte ihn von den Toten, er ließ ihn auferstehen. Aber vorher mußte er elend sterben und davor immer wieder Anfeindungen ertragen. Aber gerade weil dabei seine Liebe zu Gott immer tiefer und fester wurde, konnte Gott ihn auferwecken.

Auch wir erleben das nicht selten, daß es gerade die schwierigen Lebensphasen sind, in denen etwas entscheidendes passiert. Da müssen wir alle noch einmal neu auf den Prüfstand stellen, da entwickeln wir ungeahnte Energien, da geht es über unsere Kräfte, das Sichtbare zerbricht – und wir leben trotzdem weiter. Gerade die mühsamen Zeiten sind die prägenden Zeiten, und überhaupt nicht nur im negativen Sinn.

Warum ist das so?

Man kann das nicht völlig erklären, aber man kann durchaus verständliche Gründe dafür finden.

  1. In harten Zeiten merkt man, daß das Unsichtbare trägt. Man ist einfach gezwungen, davon zu leben, weil sonst nichts anderes da ist. Und dann kann man merken, wie Gott einen versorgt, wie er einen tröstet, wie er einem Mut macht. In den Zeiten, wo es gut läuft, braucht man das ja nicht. Mir hat z.B. neulich eine Frau erzählt, deren Partner arbeitslos ist, wie sie sich wieder mal Sorgen gemacht hat, wie denn das Geld bis zum Monatsende reichen sollte. Und dann hat sie gedacht, sie wollte es doch mal mit Gott versuchen und hat ihn gebeten zu helfen. Am Nachmittag ruft ein Bekannter an und fragt, ob der Partner ihm nicht beim Renovieren helfen und sich da was verdienen will. Und sie war ganz fröhlich und ermutigt deswegen. Aber unter besseren Lebensumständen hätte sie das gar nicht probieren müssen und hätte dann aber auch nicht diese Überraschung und Ermutigung erlebt.
  2. In schwierigen Zeiten wird dieser innere Mensch geformt, die Gott zugewandte Seite unseres Wesens. Weil wir da nicht so sehr vom Sichtbaren beeindruckt werden – das ist dann ja meistens gerade zerbrochen – , deswegen nehmen wir dann mehr von Gott wahr, wir merken das intensiver und klarer, und das färbt auf uns ab. So wie wir Geschmack und Geruch schlecht wahrnehmen, wenn wir satt sind, aber wenn wir Hunger haben, dann sind unsere Sinne geschärft.
  3. Damit hängt zusammen, daß in harten Zeiten unser Schutzpanzer sehr dünn geworden oder ganz zerbrochen ist. Wir sind sehr verletzlich, aber gleichzeitig auch nicht so sehr gegen Gott abgeschirmt wie zu anderen Zeiten. Wenn es uns wieder gut geht, dann kommt Gott meistens nicht so an uns heran.
  4. In schwierigen Zeiten können wir uns keine Wehleidigkeit leisten. Solange es uns gut geht, da kommen wir auch schnell an den Punkt, wo wir sagen: das ist jetzt zu viel für mich, ich muß mich schonen, ich bin nicht so belastbar. Ich muß schließlich auch an mich denken. Wenn es aber nicht anders geht, dann entwickeln wir ungeahnte Kräfte. Wir setzen uns vielen neuen Erfahrungen aus, die wir sonst einfach vermeiden könnten. Aber jetzt muß es sein – uns siehe da, wir profitieren davon. Wir lernen Neues kennen, dem wir sonst aus dem Weg gegangen wären.
  5. Schließlich sind wir in solchen Zeiten oft auch allein, isoliert von den anderen, denen es z.Z. viel besser geht. So schmerzlich das sein kann, bedeutet es doch oft auch, daß wir weniger oberflächlich sind, daß wir die Stimme unserer Seele nicht so schnell zur Seite schieben können, und daß wir uns nicht so sehr mit Geschäftigkeit betäuben können.

Das sind ein paar Gründe, weshalb Gottes Herrlichkeit oft in Belastungen, unter Schmerzen und durch Leiden zu uns kommt, in Situationen, die wir uns überhaupt nicht wünschen.

Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen: die Not selber führt uns nicht automatisch näher an Gott heran. Not kann beten lehren, sie kann aber auch fluchen lehren. Not ist eine Chance, mehr nicht. Ob wir sie nutzen, ober ob sie uns nur noch mehr verhärtet, das hängt davon ab, ob wir auf Gott schauen und für ihn offen sind. Also welche Einstellungen bei uns vorhanden sind, bevor es so weit ist, oder ob uns jemand das alles erklären kann, wenn es so weit ist, davon hängt es ab, wie wir wieder herauskommen aus den Zeiten der Belastung.

Deswegen erklärt Paulus das auch extra, damit wir es besser aufnehmen und besser vorbereitet sind auf das, was Gott an uns tun will, und damit wir uns nicht so sehr dagegen auflehnen, wenn es kommt. Alles, was wir an Schwierigkeiten, schmerzlichen Erfahrungen und Demütigungen erleben, läßt, wenn es gut geht, das Wirken der Herrlichkeit Gottes in die Tiefe unseres Wesens eindringen. Und Paulus ist mit vielen anderen, die das auch an sich erlebt haben, der Meinung: unterm Strich lohnt es sich. Es lohnt sich auf jeden Fall. Der Preis ist lächerlich gering im Vergleich zu der Herrlichkeit, die auf uns wartet.