Gott ist die Liebe

Predigt am 13. Juni 2004 zu 1. Johannes 4,16b-19

16b Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. 17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. 18 Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. 19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.

Wahrscheinlich kennen die allermeisten von uns diesen Satz aus Johannes 4,16: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Es ist, glaube ich, einer der bekanntesten Sätze des Neuen Testaments, er wird auch gern genommen als Tauf- oder Konfirmationsspruch. Und ich möchte ihn auch in den Mittelpunkt der Predigt stellen. Aus diesem Satz ergibt sich auch die Gliederung der Predigt:

  1. Was ist eigentlich Liebe?
  2. Was heißt »in Gott bleiben«?
  3. Was bedeutet es, dass »Gott in uns bleibt«?

Also,
1. Was ist »Liebe«?
Vielleicht denken Sie: das ist doch ganz klar, jedes Kind weiß, was Liebe ist! Aber viele Kinder sind der Meinung, dass es gemein ist, wenn ihre Eltern sie ins Bett schicken, obwohl es noch so etwas Tolles im Fernsehen gibt. Sie können das nicht als Liebe erkennen. Kann es sein, dass so etwas auch bei Erwachsenen vorkommt? Ein Satz z.B. wie »Von mir bekommst du kein Geld mehr, solange du dich nicht selbst um deine Probleme kümmerst.« wird so ein Satz wenigstens unter Erwachsenen als Ausdruck von Liebe verstanden? Ist die normale Antwort darauf: »Danke, jetzt glaube ich endlich, dass du mich wirklich liebhast, weil du gegenüber all meinem Jammern und all meinen Manipulationsversuchen fest geblieben bist. Endlich jemand, der mich so sehr liebt, dass ihm meine langfristige Charakterbildung am Herzen liegt.« Wie oft haben Sie schon solche Antworten gehört? Und wie oft Sätze wie: »In Wirklichkeit liegt dir nichts an mir, dir ist es ganz egal, wie es mir geht.«

Bei dem Wort »Liebe« denken wir spontan eher an die sanften Ausdrucksformen der Liebe: ein Kind, zärtlich an die Mutter gekuschelt; ein Paar, das sich endlich gefunden hat – und im Hintergrund hört man die Geigen wie im Film. Auf jeden Fall ist Liebe etwas unendlich zärtliches, sanftes, verschmelzendes. Und wenn wir dann einen Satz hören wie »Gott ist Liebe«, dann sagen Menschen: ja, wenn das passiert, dass zwischen zwei Personen so eine enge harmonische Vertrautheit entsteht, das ist etwas Göttliches. Das muss eine Himmelsmacht sein. Und wir projizieren unsere weltlich-romantischen Vorstellungen von Liebe auf Gott, und dann wird aus ihm der »liebe Gott«, der für Kinder durchaus eine angemessene Vorstellung sein kann, aber Erwachsene brauchen ein umfassenderes Bild. Denn was passiert, wenn unser Leben ohne erkennbaren Sinn von Katastrophen getroffen wird? Oder was machen wir damit, wenn wir lesen, dass Gott Gericht halten wird, dass er straft, dass er nicht mit sich spotten lässt? Das passt nicht zusammen mit diesem Satz »Gott ist Liebe«, solange wir ihn weltlich-romantisch verstehen.

Wir greifen dann meistens zu der Lösung, dass wir sagen: »Gott ist Liebe, ja, das stimmt, aber er ist auch gerecht.« Oder: »Wir müssen Menschen die Wahrheit sagen, aber in Liebe.« Das Problem in diesen Sätzen sind nicht die Worte Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. Die sind zutreffende Aussagen über Gott. Das Problem ist das Wort »aber«. Es vermittelt den Eindruck, als stünde Liebe in einem gewissen Gegensatz zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit. Als gäbe es da einen großen oder kleinen Konflikt. Während wir vielleicht sagen: »Wir müssen Menschen gegenüber wahrhaftig bleiben, aber in Liebe« (und damit einen wenigstens relativen Konflikt beschreiben), sagt die Bibel: »Die Liebe freut sich an der Wahrheit« (1. Kor. 13,6). Das ist eine positive Beziehung – die Liebe fühlt sich wohl, wenn sie mit der Wahrheit zusammenarbeitet, dann gedeiht sie, während das Verschweigen und Tabuisieren und Andeuten die Liebe verkümmern lässt.

Wenn Johannes hier schreibt: Gott ist Liebe, dann ist das eine grundlegende Aussage über das Wesen Gottes. Es ist nicht denkbar, dass Gott vielleicht zu 90 % Liebe ist, aber zu 10 % eben auch gerecht, und manchmal machen wir leider auch Kontakt mit diesen restlichen 10 %. Nein, das ganze Wesen Gottes ist Liebe, nichts anderes, und seine Gerechtigkeit ist ein Aspekt dieser Liebe. Was Liebe ist, dass dürfen wir uns nicht von Hollywoodfilmen und Vorabendserien sagen lassen, sondern wir müssen es ablesen am Handeln Gottes, wie es in der Bibel beschrieben ist, vor allem am Handeln Jesu.

Die Liebe Gottes hat mindestens drei Seiten: Gerechtigkeit, Wahrheit und Gnade. Diese drei Seiten der Liebe sind aus Gottes Perspektive keine Widersprüche, sondern eine notwendige Einheit. Für unser besseres Verständnis werden die verschiedenen Seiten der Liebe auch noch extra benannt. Und was passiert? Wir fangen sofort an, eine Seite gegen die andere auszuspielen und gegeneinander zu stellen, was bei Gott zusammengehört.

In manchen Kulturen und Religionen steht die Gerechtigkeit im Vordergrund, und dann gibt es Wertsysteme, die sehr streng sind, hart und gnadenlos, wo Rache und Vergeltung das Denken der Menschen prägen und Menschen sich fürchten vor der Strafe Gottes und der Gesellschaft. Das gesellschaftliche Klima bei uns kippt eher in die andere Richtung, dass die »sanften« Seiten der Liebe betont werden und Menschen glauben, es gäbe eine Art Recht auf Gnade und es wäre unfair, wenn jemand die Folgen seines Handelns auch ausbaden müsste. Vielleicht haben Sie neulich diesen Artikel in der Zeitung (Peiner Allgemeine Zeitung) gelesen über Eltern, die ihre Kinder verwöhnen und ihnen nie irgendetwas verbieten, und wenn die Kinder dann 10 oder 11 Jahre sind, kommen die Eltern zum Jugendamt, weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder bändigen sollen, die im Extremfall anfangen, die Eltern zu schlagen.

Die Lösung dafür ist aber nicht, zu sagen: Schluss mit dieser Verzärtelung, jetzt muss wieder mehr Härte rein in die Erziehung! Sondern wenn man versteht, wie bei Gott Gerechtigkeit eine Seite der Liebe ist, dann ist die Antwort ganz klar: diese Kinder brauchen mehr Liebe und nicht mehr Strenge. Kinder ohne Regeln aufwachsen zu lassen, ist keine Liebe, es ist in Wirklichkeit Bequemlichkeit und Selbstsucht. In diesem Artikel beschreibt dann ja auch ein Heimleiter aus einem Heim für schwer erziehbare Kinder, dass es passieren kann, dass plötzlich ein Elternteil einen neuen Partner findet und mit ihm wieder Kinder hat, und die bis dahin verwöhnten und unerzogenen kleinen Prinzen sind auf einmal über und keiner will sie mehr haben. Was wie Liebe aussah, war in Wirklichkeit gar keine Liebe. Kein Wunder, dass die Kinder dann niemandem mehr trauen und an nichts mehr glauben. Kinder und Erwachsene und wir alle brauchen Liebe, wir brauchen sie nötig wie die Luft zum Atmen, – aber die wirkliche, volle Liebe, und nicht eine einseitig auf Gnade oder auch auf Gerechtigkeit reduzierte Liebe.

Gerechtigkeit und Liebe sind genausowenig Gegensätze wie Wahrheit und Liebe. Von wem sollen die Menschen das wissen, wenn nicht von uns? Wir müssen das weltlich-romantische Verständnis von Liebe aufgeben und bei Jesus lernen, was Liebe wirklich ist. Dieselben Hände, mit denen Jesus die Kranken segnend anrührte, um sie heilen, warfen im Tempel die Tische der Geldwechsler um. Aus demselben Mund, mit dem Jesus sagte: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken«, aus demselben Mund kamen Worte wie: »Wehe euch, ihr verblendeten Führer, ihr Narren und Blinden, ihr Heuchler!« (Matth. 23,16-23). Bei Jesus gehörte das zusammen, es war kein Widerspruch, und alles zusammen ist – Liebe. Es ist eine Liebe, die bestehen kann in einer Welt voller Krieg, Terror, Ausbeutung und Hass, eine Liebe die realitätstauglich ist im Gegensatz zu der Pseudo-Liebe, die freundlich, nett und sentimental ist, solange es nichts kostet, und in der das Wesen christlicher Liebe kaum mehr zum Ausdruck kommt.

Warum so lange Ausführungen über das Wort Liebe? Weil alles daran hängt, dass wir die wirklichen Liebe des wirklichen Gottes kennen und nicht eine Pseudo-Liebe. Denn in Gott bleibt man dann, wenn man in der echten Liebe bleibt.

Damit kommt Punkt 2, der wird aber kürzer:

2. Was heißt »in Gott bleiben«?

Das ist ja eine merkwürdige Formulierung. Wir können uns vielleicht etwas darunter vorstellen, dass Gott in uns bleibt, dass sein Geist in uns lebt, aber es ist nicht vorstellbar, dass das umgekehrt auch so ist, dass unser Geist in Gott ist und ihn erfüllt. Nein, in Gott zu bleiben, bedeutet etwas anderes: dass wir an den Ort gehen, wo Jesus handelt. Und dass wir uns dort seinem Einfluss aussetzen. Das Bild dafür sind die Jünger Jesu, die ihm nachgefolgt sind und immer da waren, wo er war und auf seine Worte gehört haben. Sie sind damit »in ihm geblieben«. Und wenn es heißt: wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, dann ist damit gemeint: wenn wir uns dieser Liebe öffnen und nach ihr handeln, dann sind wir an dem Ort, an dem Jesus ist und handelt. Wir fallen nicht raus aus der Verbindung zu Gott, sondern wir bleiben ihm auf der Spur.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir die biblische Liebe kennen und nicht die Liebe gegen Gerechtigkeit oder Wahrheit in Stellung bringen. Wenn wir in einer Pseudo-Liebe leben, dann bleiben wir nicht in Gott, dann bleibt vielleicht noch eine christliche Hülle zurück, aber sie ist bedeutungslos. Aber jedes Mal, wenn Trauernde getröstet Zerbrochene durch Wahrheit und Gemeinschaft geheilt werden, wenn Vergessene, Desillusionierte und Unterdrückte eine Heimat finden, wenn Gefangene befreit und Ketten der Abhängigkeit gebrochen werden, und wenn wir an dem Ort sind, wo das geschieht, dann sind wir in Gott. Und dann kommt Gott zu uns, um uns die Weisheit und den Rückhalt zu geben, den wir brauchen. Deswegen:

3. Was bedeutet es, dass »Gott in uns bleibt«?

Um die Liebe zu leben, brauchen wir normalerweise den Beistand Gottes. Weil in unserer Welt die Wahrheit Gottes durch Lüge und Irrtum verzerrt ist, deswegen müssen wir das Original kennen. Wir müssen rein verstandesmäßig verstehen, was Liebe ist, wir werden aber auch ein Gefühl dafür bekommen, und beides arbeitet zusammen. Und so arbeitet auch der Heilige Geist mit dem Wort der Bibel zusammen, um uns sicher zu machen für das, was wir tun sollen. Und das Ganze ist so überzeugend, dass es für uns klar ist, dass wir es tun sollen. Nicht wie Menschen in einer Vorschriftenreligion, die aus Angst vor Gott widerwillig Gebote erfüllen, sondern einfach, weil es uns überzeugt und weil wir wissen, dass es gut ist. Weil wir Gott und seine Art kennen und lieben. Wahrscheinlich bleiben dann immer noch manche Unsicherheiten und Irrtümer, aber wir können lernen. Wenn Gott in uns ist, dann können wir auf der Grundlage eines inneren Orientierungssystems leben.

Und das von außen gesehen Unlogische dabei ist, dass wir das Orientierungssystem brauchen, um in der Liebe zu bleiben, aber wir kriegen es dann, wenn wir in der Liebe sind. Man könnte hier lange streiten, was zuerst da sein muss, aber das ist nicht das Problem von Johannes. Er sagt: Gott hat uns zuerst geliebt, er hat die ganze Sache in Bewegung gebracht, und es reicht völlig aus, wenn wir darauf achten, dass wir in diesem Prozess bleiben, der bei uns begonnen hat. Wir sollen immer wieder in der Liebe bleiben, damit wir dann an die Orte gehen, an die uns Jesus vorangegangen ist und dort die Orientierung und Nähe Gottes empfangen, die wir brauchen. Das ist ein Weg, auf dem sich Inneres und Äußeres gegenseitig verstärken.

Durch beides kommt Gottes Liebe zu uns: durch seinen Geist, wenn er un uns wohnt; und genauso durch alles, was von außen auf uns zukommt. Ja, wirklich, durch alles. Auch die schlimmen Dinge, die wir nicht verstehen, kommen aus seiner Liebe. Manchmal ist das für uns genauso schwer zu begreifen, wie es für ein Kind schwierig ist, zu verstehen, dass es ein Zeichen von Liebe ist, wenn es rechtzeitig ins Bett muss. Wir werden es einmal erkennen; und bis dahin sollen wir Gottes Wort vertrauen, dass er tatsächlich Liebe ist und nichts sonst.