Zum Greifen nahe

Predigt am 27. Dezember 2009 zu 1. Johannes 1,1-4

1 Von allem Anfang an war es da; wir haben es gehört und mit eigenen Augen gesehen, wir haben es angeschaut und mit unseren Händen berührt – das Wort des Lebens. 2 Ja, das Leben ist erschienen; das können wir bezeugen. Wir haben es gesehen, und wir verkünden es euch – das ewige Leben, das beim Vater war und unter uns erschienen ist. 3 Und warum verkünden wir euch das, was wir gesehen und gehört haben? Wir möchten, dass ihr mit uns verbunden seid – mehr noch: dass ihr zusammen mit uns erlebt, was es heißt, mit dem Vater und mit seinem Sohn, Jesus Christus, verbunden zu sein. 4 Wir schreiben euch diesen Brief, damit wir alle, ihr und wir, die Freude, die Gott uns schenkt, in ihrer ganzen Fülle erleben.

Diese Verse sind geschrieben worden, damit die Zuhörer wissen, was christliche Gemeinschaft ist. Es ist die Gemeinschaft des Lebens, die Gemeinschaft, die entsteht, wo Menschen sich im Zeichen des Lebens verbinden. Und Johannes sagt: das ist eine andere Gemeinschaft als die, die wir sonst erleben. Das ist auch eine andere Gemeinschaft als eine Familie, die sich um den Weihnachtsbaum versammelt. Und es ist ganz schwer, sie jemandem zu erklären, der das noch nie erlebt hat.

Dietrich Bonhoeffer z.B. war jemand, der überall, wo er war, solche Gemeinschaften aufgebaut hat: mit den jungen Theologen, die er ausbildete, im Widerstand gegen Hitler, schließlich sogar im Gefängnis. Aber das war auch für ihn etwas, was er nach und nach entdeckt hat, und wo er selbst immer wieder von überrascht war. Er hat zwischendurch seine Gedanken dazu aufgeschrieben und hat den Zusammenhalt beschrieben, der dort im Widerstand entstanden ist, und er sagt: wir sind in dieser Gruppe des Widerstandes so zusammengewachsen, dass wir einem anderen bedenkenlos unser Leben anvertrauen. Was wir hier tun, das gibt so eine tiefe Verbundenheit, das ist mitten in dieser bedrückenden und gefährlichen Zeit eine wunderbare Erfahrung. Während man sonst in diesem verseuchten Klima der Diktatur, wo man nicht weiß, wer ein Spitzel ist und wer nicht, auf jedes Wort achten muss, erleben wir eine Gemeinschaft, in der man völlig vertrauensvoll miteinander reden reden kann, und das ist ein großes und beglückendes Geschenk.

Das ist die Freude, von der auch Johannes in seinem Brief schreibt. Auch er hat diese Gemeinschaft von Menschen gekannt, die sich für das Leben verschwören und möchte anderen den Weg dahin zeigen. Er nennt die verbindende Mitte das ewige Leben: es ist das Leben, das von Anfang an da war, das in Gott wohnt, durch das die Welt entstanden ist und das jetzt das Zentrum der Gemeinschaft ist, in der Johannes lebt.

An diesem Punkt müssen wir aufpassen, weil wir durch jahrhundertelange Gewöhnung diesen Begriff nicht mehr verstehen. Wenn wir »ewiges Leben« hören, dann schaltet es in unseren Köpfen fast automatisch, dass wir denken: ewiges Leben – aha: Leben nach dem Tode! Und die einen sagen: das gibt’s nicht und die anderen sagen: doch, das ist sogar das Allerwichtigste! Aber in Wirklichkeit geht es bei »ewigem Leben« gar nicht um das Jenseits, sondern es geht um Gottes Einmischung ins Diesseits. Es geht um Gemeinschaften von dieser Qualität, wie man sie erlebt, wenn man sich an Gottes Verschwörung für das Leben beteiligt, wie Dietrich Bonhoeffer sich damals an der Verschwörung gegen todbringende Regime Hitlers beteiligte.

Das ist gerade die Zielrichtung dieser Verse, das Johannes sagt: das ewige Leben ist nichts Jenseitiges und Fernes geworden, sondern wir haben es gehört und gesehen und angeschaut und sogar mit den Händen betastet. Wir würden heute sagen: wir haben es erlebt! Das ist Johannes ganz wichtig: diese Art von Gemeinschaft haben wir wirklich erlebt, die gibt es tatsächlich. Das ist keine schöne Utopie, sondern das ist die Erfahrung, die wir bei Jesus gemacht haben, und die geht weiter in den Gemeinschaften, in denen wir jetzt leben.

Die Bibel redet über solche Gemeinschaften, und sie redet zuerst zu Leuten aus solchen Gemeinschaften, und wenn Leute sagen: die Bibel ist so kompliziert, ich verstehe das alles nicht!, dann liegt das daran, dass sie diese Wirklichkeit nicht kennen, die die Bibel voraussetzt. Das ist wie wenn jemand nie kocht und dann ein Kochbuch liest, und er sagt: das ist ja kompliziert, was ist denn mit »blanchieren« gemeint, und an was man da alles denken muss! Dagegen jemand, der Tag für Tag in der Küche arbeitet, der liest das, versteht es gleich, freut sich an den Details und kann sich schon vorstellen, wie es schmecken wird. So kannst du die Bibel eigentlich nur richtig schätzen, wenn du solche Gemeinschaften erlebt hast.

Diese Art von Gemeinschaft haben wir aber nicht erfunden, sondern die stammt aus Gott selbst. Sie ist so eng wie die Gemeinschaft, in der Jesus und sein Vater schon immer gelebt haben. Aber das war keine Gemeinschaft von Leuten die sich angucken und sagen: wir haben es gut hier, wir sind alles so nett, wenn jetzt noch einer dazukommt, dann stört der nur! Nein, Gott wollte diese Gemeinschaft erweitern, das ist wahre Grund, weshalb er die Welt geschaffen hat. Zu dieser Gemeinschaft der Freude sollten noch viele andere dazugehören.

Aber wie das so ist, wenn man eine Gruppe erweitert: zuerst einmal wird das Klima dann ungemütlicher. Da kommen Neue dazu, die noch nicht so richtig wissen, welche Regeln hier gelten; und die Neuen sind anders und verändern den Stil, in dem eine Gruppe lebt. Und genau so ist es Gott gegangen, als er seine Gemeinschaft durch die Welt erweiterte. Das Leben von uns Menschen hat sich immer weiter vom göttlichen Leben entfernt, immer mehr hat sich unser Leben der Dunkelheit und dem Tod angenähert, bis schließlich Menschen mit ihrer Gier und ihren Machtgelüsten den Fortbestand des Lebens auf der Erde gefährden.

Die Menschheit ist unter den Einfluss von Todesmächten geraten, die genau das Gegenteil von dem wollen, was Gott mit seiner Welt vorhat. Als vor einem Jahr die Bankenkrise offenbar wurde, da haben viele Menschen wieder verstanden, was das heißt, dass die Welt in die Hände von unkontrollierbaren Mächten geraten ist, die zerstörerisch für alles Leben sind. Und deswegen mischt sich Gott als Gegenkraft in seine mörderisch gewordenen Welt ein. Gott baut Gemeinschaften des ewigen Lebens auf, Zellen, durch die man überhaupt erst begreift, wie Gott sich das Leben der Menschen eigentlich vorgestellt hat. Dieses beglückende Vertrauen, von dem Bonhoeffer erzählt, zu dem sie in dieser Situation des Widerstandes unter den Verschwörern gefunden haben, weil sie gar keine andere Wahl hatten, als einander zu vertrauen, das ist die eigentliche Art, wie Menschen normalerweise zusammengehören sollten. Das ist die Art, die in Gott ist, das ist der Geist, den Jesus und sein Vater im Himmel miteinander teilen.

Dieses Vertrauen erwächst aber eigentlich nicht aus dieser Situation des Widerstandes, obwohl Bonhoeffer und viele andere es dort gefunden haben. Eigentlich ist es eher anders herum: wo man die Erfahrung des erneuerten, ewigen Lebens macht, wo einem die Augen aufgegangen sind für die Erfahrung des göttlichen Lebens unter uns, da gerät man in den Widerstand gegen die Todesmächte hinein, einfach weil die sich überall ausbreiten. Aber das sieht man erst wenn man die Alternative erlebt hat. Wenn man erst einmal Gottes ewiges Leben kennt, dann gehen einem die Augen dafür auf, wie sich die Zerstörung vorgearbeitet hat in alle menschlichen Beziehungen im Großen wie im Kleinen.

Deswegen legt Johannes so viel Nachdruck darauf, zu beteuern: diese Zellen alternativen Lebens, die gibt es wirklich, wir haben sie erlebt! Das Leben ist tatsächlich unter uns erschienen. Und er meint damit natürlich Jesus, wie er um sich herum eine Gemeinschaft schuf, in der die Menschen heil und gesund wurden, und mit diesem ewigen Leben hautnah in Berührung kamen. Aber er meint auch den auferstandenen Jesus, der in den nachfolgenden Gemeinschaften der Christen lebt, und auch da sagt er: das ist kein Ideal, sondern wir leben Tag für Tag in dieser Gemeinschaft von Gott und den Menschen, wir erfahren sie hautnah, sie ist die Realität, die wir nie wieder missen möchten.

Die ganze Kirchenorganisation hat ihre Berechtigung nur darin, dass da solche Erfahrungen gemacht werden können: wie sich Gemeinschaften voller ewigen Lebens anfühlen. Gemeinschaft entsteht aber nicht so, dass da dauernd drüber geredet wird, oder das sie gar eingefordert wird, oder das jemand sagt: ich brauche die so! Auf diese Weise entstehen bloß Zonen, in denen man nett miteinander umgeht, wo die raue Wirklichkeit nur abgemildert ankommt. Das ist aber nicht die Gemeinschaft, die Johannes meint.

Gemeinschaft wächst aus gemeinsamen Zielsetzungen, aus gemeinsamen Kämpfen und Leiden. Gemeinschaft wächst, wo man sich gemeinsam mit Gott als Gegenkraft einmischt in diese mörderisch gewordene Welt. Vielleicht ist das für uns eine ungewohnte Vorstellung: ein Gott, der Gegenkraft und Opposition ist. Eigentlich stellen wir ihn uns eher als den Lenker der Geschichte vor, als den obersten Chef der Welt, der alles unter Kontrolle hat.

Dann kriegen wir aber sofort Probleme, weil dann Gott ja auch verantwortlich ist für alles, was schiefgeht. Und jedes Mal, wenn es dann wieder eine Katastrophe oder einen Krieg oder ein grausam getötetes Kind oder so etwas gibt, dann denken die Menschen nicht darüber nach, wie man dagegen Widerstand leisten kann, sondern sie fragen: wie konnte Gott das nur zulassen? Und dann muss man sich als Theologe irgendwelche gewagten Konstruktionen ausdenken, um den allmächtigen Gott und solche Horrorerfahrungen zusammenzubringen. Und natürlich klemmt das vorn und hinten.

Das ganze Modell wird erst dann einigermaßen einsichtig, wenn man sagt: ja, es gibt immer wieder solche schrecklichen Erfahrungen, im Großen und im Kleinen, weil sich in dieser Welt Todesmächte ausgebreitet haben, denen alle Freude und alles Glück ein Dorn im Auge ist, und die vom Schmerz und der Ausbeutung unglücklicher Menschen leben. Diese Kräfte stecken in den gesellschaftlichen Großinstitutionen, sie stecken aber auch in dir und in mir. Und die gute Nachricht ist: weil sie überall sind, kannst du sie auch überall bekämpfen. Sie werden bekämpft, wenn du liebevoller und geduldiger wirst, sie werden bekämpft, wenn eine Marke boykottiert wird, die Kinder in Indien oder China für sich arbeiten lässt, sie werden bekämpft, wenn Vertrauen wächst, sie werden bekämpft, wenn Menschen sich im Gebet an das ewige Leben Gottes anschließen, sie werden bekämpft, wenn an deinem Küchentisch Menschen im Namen Jesu beieinander sitzen und ihre Verschwörung des Lebens bereden. Irgendetwas davon kannst auch du tun, wahrscheinlich sogar mehreres davon, und das wächst zusammen zu einem Geflecht, das die Mächte des Todes und der Zerstörung in der Welt bekämpft.

Und Gott kontrolliert die Welt nicht wie von einem Zentralcomputer aus, sondern indem er dieses Netzwerk aufbaut, und das geht sogar weit über die christlichen Gemeinschaften hinaus und bezieht viele Menschen guten Willens ein und auch die ganze Kreatur mit all den Segenskräften, die in der Schöpfung verborgen sind. Und wenn das klar ist, dann geht es nicht mehr darum, dass ich mich auf irgendeine geschützte Insel wünsche oder dass Gott bitteschön ein Sonderkommando Engel zu meinem Schutz abstellt, damit wenigstens ich und meine Familie nicht zu Schaden kommen, sondern dann ist es am wichtigsten, dass ich zu den Gemeinschaften des ewigen Lebens gehöre, weil ich da viel mehr Schutz und Trost habe, als wenn ich irgendwie in der Welt umher irre und dauernd zwischen die Fronten gerate und dann ratlos grübele, weshalb es so gefährlich ist.

In diesen Gemeinschaften Jesu, da erlebt man mitten in der Auseinandersetzung die Freude, von der Johannes spricht. Und diese Freude am Herrn und am Leben, das ist die Stärke, die am Ende alle Finsternis aus der Welt vertreiben wird. Das ist die Stärke, die Menschen auch unter schwersten Bedingungen am ewigen Leben Gottes festhalten lässt. Wer auch nur ein bisschen die Erfahrung gemacht hat, die Johannes meint, der weiß, das das eine unbesiegbare Kraft ist. Aber das ist eine andere Gewissheit als die Vorstellung, das Gott von seinem Zentralcomputer aus alles unter Kontrolle hat.

Viele hätten gerne einen Gott, der diese ganzen Probleme für sie aus der Welt schafft, damit sie Ruhe haben und ungestört sind. Es ist aber gerade Gottes Größe und Freundlichkeit, dass er das alles nicht ohne uns machen will. Er benutzt gerade die Dunkelheit der Welt, um den Bund zwischen uns und ihm zu stärken und einen neuen, unzerstörbaren Bund zu schmieden: im gemeinsamen Kämpfen und auch im Leiden. Erst in dieser gemeinsamen Praxis werden wir sein Wort des Lebens richtig verstehen. Wenn du nicht bereit bist, in diese Auseinandersetzung einzutreten, wirst du das ewige Leben nicht finden. Johannes betont: das ist kein Ideal, sondern etwas, was es wirklich gibt, etwas, was wir erleben. Und diese Gemeinschaften des ewigen Lebens zwischen Gott und den Menschen sind seine Botschaft an die Welt.