Ein alternativer Tempel

Predigt am 8. August 2010 zu Johannes 2,13-22

13 Und das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 14 Und er fand im Tempel die Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die da saßen.  15 Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um 16 und sprach zu denen, die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus! 17 Seine Jünger aber dachten daran, dass geschrieben steht (Psalm 69,10): »Der Eifer um dein Haus wird mich fressen.« 
18 Da fingen die Juden an und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten. 20 Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? 21 Er aber redete von dem Tempel seines Leibes. 22 Als er nun auferstanden war von den Toten, dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte.

Jesus ist öfter mal heftig geworden, aber nur einmal war er so massiv wie an dem Tag, als er die Händler und Wechsler aus dem Tempel trieb. Man muss auch vermuten, dass er nicht ganz im Alleingang die vielen Menschen und das Vieh mit der Peitsche vom Tempelvorplatz vertrieben hat, einer gegen viele, sondern wahrscheinlich haben sich dann andere angeschlossen – die Geschäftemacher im Tempel waren den Leuten bestimmt schon lange ein Dorn im Auge.

Man muss sich vorstellen, was für ein Chaos Jesus da angerichtet hat: Menschen liefen durcheinander und versuchten, ihre Rinder und Schafe wieder einzufangen; die Tiere liefen aufgeregt herum mit vielen »Muhs« und »Mähs«. Dazwischen flatterten die Tauben aus den zerbrochenen Käfigen, aber vor allem rollte das Geld von den umgestürzten Bänken über das steinerne Pflaster, und die Händler liefen hinterher und versuchten ihr Geld wieder zusammenzubringen, und wahrscheinlich liefen andere mit und versuchten, ein paar Münzen in die eigene Tasche zu stecken.

Und dazwischen Jesus, der immer wieder sagt: das ist kein Kaufhaus, sondern ein Gotteshaus, schafft das alles weg! Kein Wunder, dass er hinterher Ärger bekommt: er hatte die wirtschaftliche Grundlage des Heiligtums angegriffen. Das finanzierte sich nämlich aus dem Handel mit den Opfertieren. Die Menschen kamen von weit her, da nahmen sie nicht die Tiere mit, die sie in Jerusalem opfern wollten, sondern kauften sie erst an Ort und Stelle. Und diese Tiere musste man mit bestimmten alten Münzen bezahlen, einer Art Tempelgeld, das nur am heiligen Ort verwendet wurde. Da verdienten die Händler doppelt: einmal beim Wechseln des normalen Geldes in das Tempelgeld, und dann noch mal beim Verkauf der Tiere. Und das waren bestimmt überhöhte Preise; wir wissen ja bis heute, wie man als Tourist bei den Sehenswürdigkeiten abgezockt wird. Und die Standgelder der Händler waren das wirtschaftliche Fundament des Tempels.

Da kriegt Jesus Ärger: theologische Diskussionen gut und schön, aber wenn es um die ökonomische Grundlage geht, da hört der Spaß auf. Weil er ihre wirtschaftliche Grundlage angegriffen hat, deshalb beschließen die Priester später: der Mann muss sterben. Und am Ende haben sie es dann auch geschafft. Und wenn seinen Jüngern dazu Psalm 69 einfällt, wo es heißt: »der Eifer um dein Haus wird mich fressen«, dann haben sie etwas ganz Richtiges gesehen: diese Aktion wird Jesus am Ende das Leben kosten.

Was ist es, das Jesus zu dieser heftigen Aktion veranlasst? Das ist natürlich die Geschäftemacherei, die den Zweck des Heiligtums überwuchert: unter der Hand geht es dann irgendwann nicht mehr darum, die Finanzen für den Tempel zusammen zu bekommen, sondern der Tempel wird zu einem Mittel, um Geld und Macht anzuhäufen. Im Tempel hatte sich im Laufe der Zeit ein richtiger Schatz angesammelt, das war mehr Geld, als man zum Betrieb des Heiligtums brauchte. Viele Tempel sind in der Antike deshalb irgendwann zu einer Art Frühform der Banken geworden und haben mit dem Geld ihres Schatzes gewirtschaftet.

Aufgespeichertes Geld, das keinen bestimmten Zweck hat, bekommt schnell eine Eigendynamik, es stellt sozusagen pure Macht dar, die sich von ihrem Ursprung ablöst und zunehmend unkontrollierbar wird. Jesus kannte noch nicht die Wirtschaftskrisen, die heute von der Dynamik des Geldes ausgelöst werden, so dass ganze Länder oder sogar die Weltwirtschaft gerettet werden müssen. Aber er hat schon gesehen, wie mit der Ausbreitung des Geldes sich etwas Neues und Unheimliches in die Beziehungen zwischen den Menschen eingeschlichen hat. Und genauso in die Beziehung zu Gott.

Ursprünglich war es ja so, dass die Menschen für einige Tage nach Jerusalem wanderten; sie brachten die Opfertiere von ihrer Herde mit und schlachteten sie dort im Heiligtum; dort wurden sie auch gebraten und gekocht und gegessen, und das Personal des Heiligtums lebte davon, dass sie etwas davon ab bekamen. Im Alten Testament finden wir schöne Beschreibungen davon. Ab und zu gab es Streit, wenn sich der Priester immer die besten Stücke reservierte. Aber es war ein Gesamterlebnis: du pilgertest gemeinsam mit anderen den ganzen Weg zu Fuß. Allein das verbindet schon sehr, es ist eine Ausnahmesituation, wo man viel ofener für Neues ist. Du hattest auch die Schafe oder Rinder dabei, die dann der Festbraten werden sollten; alle freuten sich schon auf das große Fest, sie erlebten, wie die Tiere, die sie mitgebracht hatten, als Opfer geschlachtet wurden, und das war dann tatsächlich nicht nur ein materielles, sondern ein echtes Opfer, weil du ja auf dieser Reise irgendwie auch mit den Tieren vertraut geworden bist. Aber dann gab es einen Festschmaus, und alle gingen fröhlich nach Hause. Es war echt. Und man brauchte so gut wie kein Geld dafür.

In der Zeit Jesu war das aber ganz anders geworden. Da kamen Leute aus aller Welt nach Jerusalem, oft mit dem Schiff, und die konnten natürlich nicht noch Opfertiere mitbringen. Sie kamen oft auch allein, sie kannten niemand in Jerusalem, sie waren ein Teil des antiken Massentourismus, und dann kauften sie zu überhöhten Preisen ein Opfertier, das sie vielleicht gerade mal noch ein paar Meter zum Tempel führten, wo es ein Priester übernahm, und dann wurde es im Tempel mit vielen anderen geschlachtet – die Pilger konnten wahrscheinlich gar nicht sehen, welches davon nun ihres war.

Das heißt, inzwischen war da aus einem echten Erlebnis, das einen bewegte und veränderte, eine Massenveranstaltung geworden, die von einem komplizierten Apparat routiniert abgewickelt wurde. Klar, man kann sagen: das ging doch gar nicht anders, und sollten die denn ihre Opferlämmer auf der weiten Reise im Koffer mitnehmen oder wie? Wie sollte man denn sonst diese Massen bewältigen?

Aber trotzdem hat sich da etwas verschoben: durch die Kommerzialisierung ist aus einem sehr ursprünglichen echten Erlebnis etwas anderes geworden. Und vor allem ist es für den Einzelnen nun unkontrollierbar, was aus seinem Geld wird. Vorher waren es direkte Beziehungen von Mensch zu Mensch, du erlebtest etwas miteinander, es bildete sich eine Gemeinschaft von Menschen, die unterwegs zu Gott waren, und es ging nur nebenbei um den Wert der Opfer. Jetzt bekamst du den Priester, der dein Tier schlachtete, wahrscheinlich gar nicht mehr wirklich zu Gesicht, du kanntest den Viehzüchter nicht, von dessen Herde das Schaf kam, erst recht nicht die Zwischenhändler, das Einzige, was dich mit ihnen verband war eben – das Geld.

Das war natürlich noch längst nicht so weit wie heute, wo wir keine Ahnung mehr haben, wo unser Frühstücksei zur Welt gekommen ist, und ob unsere Jeans in Bangla Desh oder in China zusammen genäht worden sind. Aber die ersten Schritte auf diesem Weg waren dort im Tempel zu beobachten, mindestens für jemanden, der so scharfsichtig war wie Jesus. Es verschiebt sich etwas zwischen den Menschen, wenn die Beziehungen nur noch über das Geld vermittelt werden. Wir bekommen dann nicht mehr mit, unter welchen Bedingungen die Näherinnen in China arbeiten oder ob die Hennen, deren Eier wir essen, überhaupt noch das Licht sehen. Die echten Menschen und Tiere verschwinden und wir sehen nur noch den Preis.

Und auch im Verhältnis zu Gott ändert sich etwas, wenn du dich nicht mehr auf den Weg machst, gemeinsam mit anderen, sondern wenn du einfach nur bezahlst.

Aber was ist die Alternative, die Jesus stattdessen anbietet? Das wird deutlich, als die Priester kommen und von Jesus eine Rechtfertigung verlangen, weshalb er den heiligen Betrieb durcheinander bringt. Der Tempel ist auf Gottes Befehl gebaut worden, wer ihn stört, muss dann auch von Gott bevollmächtigt sein. Und Jesus sagt: gut, ich werde euch ein Zeichen meiner Vollmacht geben. Brecht diesen Tempel ab, und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufbauen! Und da sie natürlich ihren Tempel nicht abreißen werden, muss er auch seine Ankündigung nicht wahr machen.

Aber ist das nur eine billige Ausrede? was meint Jesus damit? Es heißt: »Er redete vom Tempel seines Leibes«. Das heißt, Jesus ersetzt die aus Stein gebauten Gotteshäuser durch etwas anderes. Heilige Orte sind jetzt nicht mehr die Tempel, sondern Menschen: zuerst Jesus selbst, und dann die Menschen, die in seinem Namen versammelt sind. In der Bibel heißt die Gemeinde »der Leib Christi«. Ob die sich in einer Kirche versammeln oder am Küchentisch oder in einem Zelt in einem Flüchtlingslager, das ist kaum von Bedeutung. Entscheidend ist, dass es da eine Zelle gibt, wo Menschen in direkter Beziehung miteinander leben, und in diesen Beziehungen ist Jesus drin, ist der Heilige Geist drin, und da, mitten unter den Jüngern und Jüngerinnen Jesu findet man Gott.

Und man muss auch nicht mehr durch die halbe Welt reisen, sondern solche Zellen gibt es fast überall in der Nähe. Und wenn es irgendwo keine gibt, dann darf sie jeder dort gründen. Und das sind Zellen, in die sich eben nicht dann wieder das Geld einschleicht, sondern die basieren auf der persönlichen Beziehung von Menschen, die miteinander auf der Suche nach Gott sind und gemeinsam mit ihm einen Weg gehen. Natürlich werden die sich auch mal mit Geld aushelfen, aber das erste sind immer die persönlichen Beziehungen. Die gemeinsame Basis ist, dass wir gemeinsam auf Gottes Ruf gehört und uns auf den Weg gemacht haben, und das kann ich durch kein Geld ersetzen, sondern ich persönlich gehe mit Gott und den anderen aus dieser Zelle, egal ob ich von Sozialhilfe lebe oder Milliardär bin. Und dass wir uns über alle Grenzen begegnen, und dass wir alle auf den Ruf Gottes hören, das ist der nicht verkäufliche Kern.

Aber von diesem Kern aus geht es dann darum, dass wir uns überhaupt alle Beziehungen zurückerobern und sie nicht weiter dem Geld überlassen. Ich möchte auch nicht, dass Arbeiterinnen in Bangla Desh unter entwürdigenden Bedingungen für ein paar Cent meine Jeans nähen. Ich möchte wissen, wie das Fleisch auf meinem Teller gelebt hat. Ich möchte wissen, was mit dem Geld finanziert wird, das ich bei meiner Bank geparkt habe. Es geht darum, dass wir die Kontrolle über die Beziehungen, in denen wir leben, nicht weiter an den Markt abgeben. Wenn wir alles dem Markt anvertrauen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn er eines Tages so mächtig geworden ist, dass ihn keiner mehr kontrollieren kann. Und am Ende reißt er uns alle in den Abgrund, und wir haben immer noch den Eindruck: wir hatten doch keine andere Wahl!

Der Schlüssel zu einem Neuanfang liegt in diesen kleinen Zellen, die Jesus in die Welt gebracht hat, sein Leib, der neue Tempel, wo man Gott begegnen kann. Wo man lernt, dass Beziehungen das Wichtigste sind, und dass sie nie durch Geld, durch Marktbeziehungen ersetzt werden können. Der Ort, wo man lernt, dass wir nicht ohnmächtig sind, und dass wir immer eine Wahl haben. Zellen des neuen Lebens, die Alternative, die von Gott aus in die Welt kommt.

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