Ori Brafman / Rod Beckstrom: The Starfish and The Spider

Die übersetzte Einleitung

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Nach freundlicher Ermunterung von Ori Brafman übersetze ich hier Einleitung des wirklich erhellenden Buches „The Starfish and the Spider“ von Ori Brafman und Rod A. Beckstrom. Es gibt das Buch inzwischen auch in einer deutschen Übersetzung.

Einleitung

Es war, als ob sie “Wo ist Walter?” spielten. Aber es waren keine Kinder, die ein Gesellschaftsspiel spielten, sondern die führenden Köpfe der weltweiten Hirnforschung. Und sie suchten auch nicht Walter, sondern eine Großmutter mit Löckchen und Pullover. Jedermanns Großmutter.

Die Hirnforscher suchten die Antwort auf eine zunächst einfach scheinende Frage: Wir haben alle Erinnerungen, an unseren ersten Schultag und an unsere Großmutter. Aber wo genau – das war die Frage – sind diese Erinnerungen abgelegt? Und sie ahnten kaum, dass sie vor einer Entdeckung mit überraschenden Konsequenzen standen, überraschend nicht nur für die Biologie, sondern für die Weltwirtschaft genauso wie für den internationalen Terrorismus und eine Menge weit verstreuter Gemeinschaften.

Die Wissenschaftler hatten lange vermutet, dass unser Gehirn, wie andere komplexe Apparate, hierarchisch strukturiert ist. Um die Erinnerungen eines ganzen Lebens zu speichern und zu verwalten, brauchte es natürlich eine klare Befehlshierarchie! Der Hippocampus hat das Kommando, und die Neuronen mit ihren jeweiligen Erinnerungsschätzen erstatten ihm Bericht. Wenn wir eine Erinnerung anfordern, ruft unser Hippocampus sie vom zuständigen Neuron ab – wie ein Supercomputer. Die Erinnerung an die erste Liebe? Neuron Nr. 18.416. Die Erinnerung an deine Grundschullehrerin? Neuron Nr. 46.124.394.

Um diese Theorie zu bestätigen, mussten die Wissenschaftler nachweisen, dass bestimmte Neuronen aktiviert werden, wenn wir versuchen, eine zugehörige Erinnerung wachzurufen. In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts schlossen die Neurowissenschftler deshalb Versuchspersonen an Elektroden und Sensoren an und zeigten ihnen vertraute Bilder. Müsste nicht jedes Mal, wenn jemand mit einem Bild konfrontiert wurde, ein spezifisches Neuron feuern? So verbrachten die Versuchspersonen Stunde um Stunde damit, auf Bilder zu schauen. Die Wissenschaftler beobachteten und warteten auf den Moment, wo das zuständige Neuron zu feuern beginnen würde. Sie warteten. Und warteten. Und warteten.

Anstatt eine saubere Korrelation zwischen bestimmten Erinnerungen und bestimmten Neuronen zu finden, stießen sie auf ein heilloses Durcheinander. Jedes Mal, wenn die Versuchspersonen mit den Bildern konfrontiert wurden, sprangen die unterschiedlichsten Neuronen an. Und andersherum rührte sich dieselbe Neuronengruppe nicht nur bei einem, sondern bei bei allen möglichen Fotos.

Zuerst hielten die Wissenschftler das für ein Problem der Technologie. Vielleicht waren ja die Sensoren nicht präzise genug. Jahrzehntelang versuchten sie es mit immer neuen Varianten dieses Experiments. Ihre Ausrüstung wurde empfindlicher, aber immer noch bekamen sie keine aussagekräftigen Resultate. Sie standen vor einem Rätsel. Irgendwo im Gehirn mussten diese Informationen doch sein!

Jerry Lettwin, ein Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technologie, schlug schließlich eine andere Lösung vor: die Vorstellung, dass eine bestimmte Erinnerung zu einer bestimmten Zelle gehört, war schlicht und einfach falsch. Lettvin behauptete, dass die Wissenschaftler im Gehirn nach einer Hierarchie suchten, die einfach nicht vorhanden war. Seine Theorie war, dass Erinnerungen nicht in einzelnen Neuronen gespeichert, sondern über verschiedene Teile des Gehirns verteilt sind. Für den Mythos des einzelnen Neurons, in dem die Erinnerung an die Großmutter gespeichert ist, prägte er den Begriff der “grandmother cell”. Lettvins Bild vom Gehirn erschien dagegen primitiv und desorganisiert. Warum sollte sich ein so komplexer Denkapparat wie das Gehirn auf solch merkwürdige Weise entwickelt haben?

Aber auch wenn es zunächst dem gesunden Menschenverstand nicht einleuchtet: diese verteilte Struktur des Gehirns macht es enorm widerstandsfähig. Nehmen wir an, wir würden versuchen, eine bestimmte Erinnerung aus dem Gehirn zu löschen. Nach dem hierarchischen Modell müssten wir ein bestimmtes Neuron suchen und abschalten – damit wäre die Erinnerung gelöscht. Aber nach Lettwins Modell wäre die Erinnerung sehr viel schwerer zu zerstören. Wir müssten ein ganzes Netzwerk von Neuronen abschalten. Das wäre ein sehr viel schwierigeres Unternehmen.

Wenn wir uns nun die Welt außerhalb unseres Hirns anschauen, dann machen wir es normalerweise wie Neurowissenschaftler, die nach der “grandmother cell” suchen: wir halten Ausschau nach einer Ordnung. Ganz selbstverständlich erwarten wir auch in unserer Umwelt hierarchische Strukturen. Ob wir eine DAX-Aktiengesellschaft anschauen, eine Armee oder eine beliebige Gemeinschaft, unsere spontane Frage ist: Wer hat das Kommando?

Dieses Buch dagegen handelt davon, wie es funktioniert, wenn keiner das Kommando hat. Es handelt davon, wie die Dinge laufen, wenn es keine Hierarchie gibt. Man könnte meinen, das würde Unordnung bedeuten, möglicherweise Chaos. Aber bei vielen Gelegenheiten zeigt sich: ganz ohne herkömmliche Leitung entstehen mächtige Bewegungen, die die Wirtschaft und die Gesellschaft auf den Kopf stellen.

Unsere These ist: wir befinden uns mitten in einer Revolution.

Keiner hätte erwartet, dass Shawn Fanning 1999 in seinem Studentenzimmer der Northeastern University die Welt ändern würde. Dieser 18jährige Student im ersten Semester saß vor seinem Computer und fragte sich, was passieren würde, wenn die Menschen untereinander Musikdateien austauschen könnten. Fanning erfand Napster, eine Geschäftsidee, die der Musikindustrie einen vernichtenden Schlag versetzen sollte. Aber er führte diesen Angriff nicht allein und er war noch nicht einmal der Anführer – in die Schlacht zog eine Armee von musiktauschenden Teenagern, Studenten und iPod-hörenden Angestellten.

Beinahe auf der anderen Seite des Erdballs hätte sich auch kaum jemand vorstellen können, dass Osama bin Laden einmal der meistgesuchte Mann der Welt sein würde – nur wenige Jahre, nachdem er Saudi-Arabien verlassen hatte, um nach Afghanistan zu gehen. Was konnte schließlich ein Mann erreichen, dessen Operationsbasis eine Höhle war? Aber al Kaida wurde eine Macht, gerade weil bin Laden nie nach einer herkömmlichen Leitungsrolle strebte.

1995 stellte ein schüchterner Ingenieur die Termine von Veranstaltungen im Raum San Francisco ins Internet. Craig Newmark hätte nie gedacht, dass die Website, die er an den Start gebracht hatte, das Zeitungsgeschäft für immer verändern würde. 2001 begann ein pensionierter Terminhändler, Leuten auf der ganzen Welt kostenlos Informationen zur Verfügung zu stellen. Er hätte nie damit gerechnet, dass durch seine Pionierarbeit eines Tages Millionen von einander unbekannten Menschen gemeinsam etwas schaffen würden, was dann “Wiki” hieß und sich zum größten Informationspool der Gegenwart entwickelte.

Die Schläge, die die Musikindustrie einstecken musste, die Anschläge vom 11. September 2001, der Siegeszug von Online-Anzeigen und die freie Enzyklopädie – die Antriebskraft dahinter funktioniert immer nach dem gleichen Muster. Je mehr du sie bekämpfst, um so stärker wird sie. Je chaotischer es aussieht, um so widerstandsfähiger ist es. Je mehr man versucht, es unter Kontrolle zu bekommen, um so unvorhersehbarer reagiert es.

Die Kraft der Dezentralisation hat über Jahrtausende geschlummert. Aber das Internet hat diese Kraft entfesselt. Sie schickt herkömmliche Geschäftsmodelle ins Aus, verändert ganze Wirtschaftszweige, und beeinflusst die Art unserer Beziehungen ebenso wie die Weltpolitik. Das Fehlen von Strukturen, zentraler Leitung und formaler Organisation – früher als Schwäche angesehen – ist inzwischen zu einem entscheidenden Vorteil geworden. Scheinbar chaotische Gruppen haben etablierte Institutionen angegriffen und besiegt.

Das sollte auf verblüffende Weise vor dem Supreme Court der Vereinigten Staaten deutlich werden, als sich dort ein hochrangiger Prozess völlig unerwartet entwickelte.

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